Es ist ein pädagogisches Instrument, das die Chance bietet, einmal zusätzliche Zeit zu haben. Manche brauchen das, weil sie zu früh eingeschult wurden; das ist die andere Seite dieser Medaille. Manche brauchen diese Chance, um größere Wis senslücken zu schließen. Manche brauchen diese Chance, um Wissen zu festigen und dann besser weiterzumarschieren. Für manche ist es auch ein ultimativer Weckruf, dass sich ein Wei terkommen ohne Anstrengungen und Leistungsbereitschaft nicht automatisch einstellt.
Nachdem das Thema in der ganzen Republik in der Presse rauf- und runterdekliniert ist, wissen wir, dass das Wiederho len einer Klasse weder Bundespräsidenten noch Literaturno belpreisträger, noch Kanzlerkandidaten, noch Fernsehmode ratoren, noch Bildungsministerinnen, noch Ministerpräsiden ten daran gehindert hat, das zu werden, was sie heute sind. Ich sage dazu: Sie haben einen ordentlichen Weg gemacht.
Vielleicht kann man unterstellen, dass diese Personen genau diese Chance letztlich auch genutzt haben. Das ist gut so.
Warum jetzt also diese Diskussion? Das Wiederholen einer Klasse ist ein Instrument unter vielen, das für manche Kinder sinnvoll ist. Wer es abschaffen will, muss erklären, warum auch Eltern dafür kämpfen, dass ihre Kinder freiwillig eine Klasse wiederholen können; die Eltern wissen, dass es eine Chance ist und gut ist für ihr Kind.
(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Bravo!)
Wo liegen denn die Aufgaben der Schulen? Sie bilden, erzie hen und bereiten auf das Leben vor. Wie sieht das Leben aus? Das brauchen wir doch nicht aufzuführen. Es gibt gerade im Rahmen der Globalisierung überindividuelle Anforderungen, die man nicht einfach aus der Realität wegradieren kann. Es braucht Anstrengungen im Leben.
Es gibt Differenzierungen. Bildung kann nicht alle gleichma chen, und es hat Folgen, wenn man das Ziel nicht erreicht.
(Abg. Andrea Lindlohr GRÜNE: Ein Besinnungsauf satz aus den Sechzigerjahren! – Gegenruf der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Die Frau hat Erfah rung!)
Herr Minister, wir sind ein bisschen irritiert, weil Sie unter schiedliche Äußerungen gemacht haben. Sie haben geäußert, dass Sie das Sitzenbleiben verbieten wollen. Ferner haben Sie geäußert, dass Sie das Sitzenbleiben langfristig überflüssig machen wollen. Ihre letzte Äußerung war, dass Sie das Sit zenbleiben durch individuelle Förderung überflüssig machen wollen.
Ich habe eine Bitte: Fangen Sie doch bitte an der richtigen Stelle an, und zäumen Sie das Pferd nicht wieder von hinten auf, wie Sie es bei der Abschaffung der verbindlichen Grund schulempfehlung gemacht haben. Fangen Sie doch bitte beim Fördern an.
Liefern Sie Förderkonzepte, und stellen Sie Ressourcen zur Verfügung, und zwar nicht nur für die Gemeinschaftsschule, sondern für alle.
Es entsetzt nicht nur mich, wenn bei Veranstaltungen Minis terialbeamte sagen, nur in der Gemeinschaftsschule finde ei ne moderne Pädagogik Anwendung und werde dem christli chen Menschenbild entsprochen.
Das ist ein Schlag ins Gesicht aller Lehrer, die an Werkreal schulen, an Hauptschulen, an Realschulen und an Gymnasi en eine hervorragende Arbeit leisten.
Unterstützen Sie diese Schulen! Unterstützen Sie die Lehrer, die unisono sagen: „Auch wir fördern individuell. Wir kön nen das. Wir brauchen aber wie die Gemeinschaftsschulen die entsprechenden Ressourcen.“
Fördern Sie die Realschulen, die Werkrealschulen und die Gymnasien! Ermöglichen Sie ihnen kleinere Klassen. Geben Sie ihnen ein Förderkonzept. Bewirken Sie nicht hintenher um durch eine schlechte Ausstattung, dass diese Schulen nur schlecht arbeiten können und hinterher die Schuld dafür be kommen, dass sie halt keine Gemeinschaftsschule und damit nicht die vermeintlich ideale Schule sind. Das ist Betrug an den Lehrern und an den Schülern. Ich würde fast sagen: Sie versündigen sich mit dieser Ungleichbehandlung
(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Oh-Rufe von Grünen und SPD – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Jawohl!)
genauso, wie Sie sich an den Kindern und Lehrern der Haupt schule versündigt haben, indem Sie diese Schule jahrzehnte lang zur „Restschule“ gestempelt und damit diese Schulen entwertet haben.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich versuche einmal, hier eine nor male Tonlage hineinzubekommen.
(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Schon wieder diese Moraldeu tung!)
Ich gebe jetzt einmal die Worte von Herrn Dr. Kern wieder, die ich noch im Kopf habe. Er sprach von „Angriff“, von ei
nem „Generalangriff“ und von einem „nächsten Schlag“. Ich frage mich, in welcher Schlacht Sie sich befinden. Nicht wir von Grünen und SPD gehen das Thema ideologisch verkrampft an, sondern Sie von CDU und FDP/DVP, meine Damen und Herren.
Es geht nicht darum, darüber zu diskutieren, ob eine um ein Jahr längere Schulzeit einem Kind schadet oder nicht schadet. Die Studien der vergangenen Jahre zeigen ganz klar, dass ei ne um ein Jahr längere Schulzeit und somit das Sitzenbleiben für die Schülerinnen und Schüler nutzlos ist.
Die Studie von Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung beispielsweise, die OECD-Studie von Andreas Schlei cher
und die PISA-Studie haben das alle übereinstimmend gesagt. Außerdem gibt es noch genügend andere Bildungsforscher wie Klaus-Jürgen Tillmann, Jörg Dräger von der Bertelsmann Stiftung, Hans Brügelmann, Universität Bielefeld, Universi tät Siegen usw.
Diese haben allesamt gesagt, dass das Sitzenbleiben für Schü lerinnen und Schüler am Ende nicht den positiven Effekt ha ben wird, den Sie hier darstellen, meine Damen und Herren.
Ich weiß, dass Sie sehr gern Zahlen unterschlagen und abso lut nichts von aktuellen Studien und Forschungsergebnissen halten. Bei den Debatten hier im Haus könnte man manchmal meinen, dass der Staub der Fünfzigerjahre vom Papier rieselt. Ich finde, das wird dem Thema überhaupt nicht gerecht.