Wenn wir gemeinsam diesen Prozess konstruktiv begleiten, schaffen wir das, was wir in Baden-Württemberg brauchen: Eine Bildungslandschaft, die geprägt ist von Stabilität und ho her pädagogischer Qualität im Interesse der jungen Menschen in unserem Land.
Meine Damen und Herren, für die Aussprache über die Regierungserklärung hat das Präsidium eine Redezeit von 15 Minuten je Fraktion festgelegt. Es fin det immer ein Wechsel im Aufschlag der Oppositionsfraktio nen statt. Diesmal startet die FDP/DVP-Fraktion.
Herr Präsident, liebe Kol leginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Her ren! Als ich vor zwei Jahren als Gymnasiallehrer neu in den
baden-württembergischen Landtag gewählt wurde, hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können, dass man das erfolg reichste Bildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland in einem derart atemberaubenden Tempo an die Wand fahren könnte.
Wo stand denn das baden-württembergische Schulsystem im Jahr 2011, im Jahr des Regierungswechsels? Niedrigste Sit zenbleiberquote aller Bundesländer,
niedrigste Schulabbrecherquote aller Bundesländer, niedrigs te Jugendarbeitslosenquote aller Bundesländer.
Das war die Bilanz der Übergabe nach 15 Jahren erfolgrei cher Bildungspolitik von der christlich-liberalen Koalition an Sie von Grün-Rot.
An diesen harten Fakten und Zahlen müssen Sie sich messen lassen. Dabei hilft Ihnen auch nicht das manchmal smarte, manchmal aber auch sehr dünnhäutige Auftreten Ihres neuen Kultusministers,
Wie ist nun die Situation in der baden-württembergischen Bil dungslandschaft, nachdem Sie seit zwei Jahren die alleinige Verantwortung hierfür tragen? Beispielhaft möchte ich einen zentralen Aspekt herausnehmen, nämlich die von Ihnen völ lig überstürzte, miserabel vorbereitete und im Grunde unnö tige Abschaffung der Verbindlichkeit der Grundschulempfeh lung.
Denn die Konsequenzen dieses Schnellschusses waren und sind für die Betroffenen verheerend. Mit der Abschaffung der Verbindlichkeit haben Sie die schwierige Situation der vom demografischen Wandel betroffenen Schulstandorte ohne Not mutwillig verschärft.
Das haben Sie, Herr Minister, gerade eben auch selbst zuge geben. Mit der Abschaffung wollten Sie in einem ersten Schritt die Haupt- und Werkrealschulen als vermeintlich am leichtesten zu schleifende Bausteine des gegliederten Schul wesens kaputt machen.
Trotz hervorragender pädagogischer Konzepte, trotz der von niemandem bestrittenen hervorragenden Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer, aber auch der Pädagogischen Assistentinnen und Assistenten, der Schulsozialarbeit, der Jugendbegleiterinnen und Jugendbegleiter sowie Lehr beauftragten gingen die Anmeldezahlen an den Haupt- und Werkrealschulen von 23 362 auf 14 556 zurück, ein Minus von 8 800 oder 37 Prozent. Im Vergleich zum Schuljahr 2010/11 schrumpften die Schülerzahlen um fast 50 Prozent.
Meine Damen und Herren, das sind die Folgen Ihrer schlech ten Bildungspolitik. Dafür tragen Sie die Verantwortung.
Mit dem heute von Ihnen vorgelegten Konzept der regiona len Schulentwicklung versuchen Sie nun zu retten, was noch zu retten ist, um die von Ihnen losgetretene Lawine des Schul sterbens wenigstens ein bisschen zu kanalisieren.
Dabei möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen: Die ses Schulentwicklungskonzept hätten wir gebraucht, bevor Sie darangingen, die baden-württembergische Schullandschaft umzukrempeln.
(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU – Zuruf von der CDU: So ist es! – Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD: Vor fünf bis zehn Jahren bereits! – Abg. Alfred Wink ler SPD: Das nennt man Eigentor, Herr Doktor!)
Stattdessen haben Sie aber immer wieder Fakten geschaffen, ohne ein schlüssiges Konzept als Grundlage zu haben. Aus diesem Grund läuft Ihr Versuch, die Verantwortung für die heutige Situation der alten Landesregierung in die Schuhe zu schieben, völlig ins Leere.
Angesichts Ihres Totalumbaus des baden-württembergischen Schulsystems wäre es Ihre Pflicht gewesen, eine konzeptio nelle Planung
mit den Betroffenen vor Ort zu erarbeiten, bevor Sie Ihre zahl reichen Baustellen im Bildungsbereich eröffnet haben.
Herr Minister Stoch, Sie haben ausgeführt, dass es drei An lässe gibt, von denen vor Ort ein regionaler Schulentwick lungsprozess ausgelöst wird: erstens wenn eine neue Schule eingerichtet wird, zweitens wenn Kommunen sagen: „Wir wollen einen regionalen Schulentwicklungsprozess machen“, drittens bei der konkreten Gefährdung eines Schulstandorts.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war’s. Da kommt auch nicht mehr. Alle drei Punkte bzw. Anlässe sind doch pure Selbstverständlichkeiten.
Wo ist denn eigentlich der konkrete Mehrwert Ihres heutigen Konzepts im Vergleich zur bisherigen Situation?
(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU – Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP – Glocke des Präsidenten)
Am Ende gern. – Das von Grün-Rot heute vorgestellte Konzept ist keinesfalls ein gro ßer Wurf, sondern bestenfalls ein halbherziges Vorgehen mit der Logik einer Einbahnstraße. Sie geben den Verantwortli chen vor Ort eben keine echte Entscheidungs- und Gestal tungsfreiheit, sondern Sie übertragen den Verantwortlichen vor Ort lediglich die schwierige Entscheidung über die Schlie ßung eines Schulstandorts. Dabei wollen Sie aber den An schein erwecken, die Verantwortlichen vor Ort seien einge bunden worden, und zwar selbst dann, wenn in Wirklichkeit das Land die Schule schließt. Dabei hätten Sie es eigentlich besser wissen können. Ich darf Sie wieder einmal an Ihren ei genen Koalitionsvertrag erinnern. Auf Seite 9 ist im zweiten Abschnitt zu lesen:
Wir wollen von der Zuweisung nach dem Klassenteiler prinzip auf eine Pro-Schüler-Zuweisung von Lehrerstun den umstellen.
Hätten Sie dieses Prinzip auf Ihr heutiges Konzept angewandt, hätte ich Ihr Konzept als mutig und zukunftweisend gelobt. Mutig und zukunftweisend wäre es gewesen, wenn Sie gesagt hätten: „Innerhalb einer Region, innerhalb eines Landkreises gibt es soundso viele Schüler, was die Menge X an Zuweisun gen mit sich bringt.“ Hierbei könnte man auch den ländlichen Raum berücksichtigen. Denn dann würden sich alle für Bil dung Verantwortlichen vor Ort an einen Tisch setzen und wür den eigenverantwortlich über die Verwendung des Bildungs budgets entscheiden. So würden sie ein vor Ort passendes Bil dungsangebot gestalten können, statt einfach nur über Schul schließungen zu entscheiden, wie Grün-Rot es nun vorhat.
Das wäre konsequenter, das wäre mutiger gewesen und hätte einer freiheitlichen Bildungspolitik entsprochen, die dem Sub sidiaritätsprinzip verpflichtet ist.
(Zurufe von der SPD, u. a. Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei: Da klatscht kein Praktiker! – Glocke des Präsiden ten)