Protokoll der Sitzung vom 11.12.2013

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Für die Landesregierung spricht Herr Kultusminister Stoch.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, zunächst noch einmal auf einen, wie ich denke, von al len Rednern erwähnten Satz hinzuweisen, den ich mit Nach druck unterstreichen möchte: Das Thema „Umsetzung der In klusion in unserem Schulsystem, in unserem Bildungssystem“ ist ein Thema, das sich nicht für parteipolitischen Streit eig net, sondern das allein und im Zentrum vom Wohl des Kin des her – vom Wunsch der Eltern, insbesondere aber vom Wohl der Kinder – definiert werden muss.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Gerade deshalb – ich werde es Ihnen im Folgenden darlegen, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen – war und ist es aus meiner Sicht richtig, die Frage der Schulgesetzänderung – nur um die se geht es bei der Frage der Verschiebung – mit Vorsicht an zufassen. Denn eine Schulgesetzänderung allein ist nicht die Umsetzung von Inklusion, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Lassen Sie mich einige Vorbemerkungen zur Frage der Inklu sion generell, vor allem aber auch im Kontext unserer gesell schaftlichen Entwicklungen machen: Es geht bei der Frage der Inklusion nicht allein um die Veränderung von Schulen, von Grundschulen oder von weiterführenden Schulen. Bei der Inklusion geht es vielmehr um eine Bewusstseinsveränderung für unsere gesamte Gesellschaft, und zwar in vielen Berei chen. Sie wissen, dass die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat. Nun ist es an den Bundesländern, dies in den Bildungs- und in den Schulsystemen entsprechend zu verankern und in die sem Zusammenhang auch die Schulgesetze entsprechend an zupassen.

Die grün-rote Landesregierung bekennt sich ausdrücklich zu diesem Ziel und hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein wirk lich nachhaltiges und qualitativ hochwertiges inklusives Bil dungssystem zu entwickeln. Der Ausbau inklusiver Bildungs angebote hat dabei für die Weiterentwicklung des gesamten Schulwesens – ich betone ausdrücklich: des gesamten Schul wesens – eine hohe Bedeutung.

Es geht letztlich darum, in der Gesellschaft und in unserem Bildungssystem bei allen Beteiligten – bei Lehrerinnen und Lehrern, bei Eltern, und zwar auch den Eltern nicht behinder ter Kinder – zu einer inklusiven Grundverfassung zu kommen. Hier geht es darum, auch an Haltungen und Einstellungen zu dieser Thematik zu arbeiten. Dabei kommt der Schule eine große Bedeutung zu; denn Schule hat in diesem Zusammen hang Strahlkraft in die Gesellschaft hinein und spielt gerade auch für die Frage der gesellschaftlichen Teilhabe, auch für die Teilhabe an Chancen zum gesellschaftlichen Aufstieg ei ne große, eine zentrale Rolle.

Aber auch der frühkindliche Bereich – auch das möchte ich ausdrücklich erwähnen – und die berufliche Bildung müssen hier einbezogen werden.

Was ist in diesem Bereich bislang geschehen? Die Vorredner haben bereits einige Punkte angesprochen, wie in BadenWürttemberg in den vergangenen Jahren schrittweise versucht wurde, sich diesem Ziel einer inklusiven Grundverfassung in unserem Bildungssystem zu nähern. Die Auswertung der noch

von Ihnen eingerichteten Schwerpunktregionen hat ergeben, dass sich in den Schuljahren 2011/2012 und 2012/2013 je weils rund 27 % der Eltern von Schülerinnen und Schülern, bei denen ein Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bil dungsangebot festgestellt wurde, für ein sogenanntes inklusi ves Setting an einer Regelschule, an einer allgemeinen Schu le entschieden haben. Es spricht manches dafür – das wissen Sie auch, vor allem wenn Sie die Entwicklung in den anderen Bundesländern betrachten –, dass sich nach einer Änderung des Schulgesetzes schrittweise eine deutlich höhere Nachfra ge in diesem Bereich entwickeln wird.

Nach einer Sondererhebung des Kultusministeriums besuch ten im abgelaufenen Schuljahr rund 1 000 Schülerinnen und Schüler mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungs angebot eine allgemeine Schule in den Schulversuchsregio nen. Ich glaube, auch hieraus wird deutlich, dass wir dabei nicht von einem Nullpunkt ausgehen, sondern dass Inklusion bereits schrittweise Teil der Wirklichkeit in unserem Bildungs system und in unseren Schulen ist.

Landesweit lernen rund 2 800 Schülerinnen und Schüler in der Organisationsform der Außenklasse an rund 380 allgemei nen Schulen, und rund 20 000 Schülerinnen und Schüler er halten sonderpädagogische Beratungs- und Unterstützungs angebote. Die im Schuljahr 2012/2013 an den Start gegange ne Gemeinschaftsschule ist die erste Schulart in Baden-Würt temberg, in der der Anspruch von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung auf inklusive Beschulung gesetzlich veran kert ist.

Vor diesem Hintergrund zu behaupten, dass wir das Thema Inklusion nicht ernst nehmen würden, ist nicht richtig, wie sich zeigt, wenn Sie die Realität betrachten. Denn wenn Sie die pädagogischen Konzepte der Gemeinschaftsschule – ins besondere den Ansatz der individuellen Förderung – betrach ten, dann wissen Sie sehr gut, dass dies ein sehr guter Rah men ist, um Inklusion – also die Förderung von Kindern mit ganz unterschiedlichen Begabungen und auch sonderpädago gischem Förderbedarf – Wirklichkeit werden zu lassen.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Umgang mit Heterogenität, von der dieser Tage viel die Re de ist, heißt sowohl die Förderung von leistungsstarken Schü lerinnen und Schülern als auch von denjenigen mit einem be sonderen Förderbedarf, mit einem Handicap. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass derzeit, obwohl wir erst bei den Klassen 5 und 6 sind, an den 129 Gemeinschaftsschulen be reits rund 640 Schülerinnen und Schüler mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot lernen.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Diese Bilanzen zeigen eindrücklich, dass sich in den letzten zwei Jahren bereits ein klarer Entwicklungsprozess hin zur in klusiven Beschulung etabliert hat. Es geht deutlich in die Richtung eines gemeinsamen Verständnisses für die anstehen den Aufgaben.

Wir wollen jetzt also – ich habe es einleitend gesagt – die Eck punkte weiterentwickeln, und wir wollen vor allem unsere Schulen und unsere Schulverwaltung in die Lage versetzen, Inklusion weiter Wirklichkeit werden zu lassen. Das bedeu tet: Eine Schulgesetzänderung, die die Sonderschulpflicht pro

forma aufhebt, ist von geringerer Bedeutung, wenn schon heu te – insbesondere auch zum kommenden Schuljahr – versucht wird, möglichst jedem Wunsch von Eltern nach einem inklu siven Bildungsangebot gerecht zu werden. Dazu brauchen wir jetzt für die Schulen und für die Schulverwaltung klare Rah menbedingungen, und diese sollen durch die Eckpunkte, die die Landesregierung sich vorgenommen hat, geschaffen wer den.

Wir werden – das ist eine Selbstverständlichkeit – die Pflicht zum Besuch der Sonderschule abschaffen. Trotzdem bleiben aber Sonderschulen erhalten. Steigende Schülerzahlen bei der inklusiven Beschulung werden, wie auch die Entwicklungen bei der regionalen Schulentwicklung, ganz entscheidende Ver änderungsprozesse auslösen. Der Anspruch von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung auf ein inklusives Bildungs angebot in der allgemeinen Schule wird dann gesetzlich ver ankert. Der zieldifferente Unterricht, der eine zwingende Vo raussetzung für inklusive Beschulung ist, wird in das Schul gesetz aufgenommen, und die Eltern – das wurde hier eben falls bereits erwähnt – sollen ein qualifiziertes Wahlrecht er halten.

Diese Landesregierung hat nie Bestrebungen gehabt, die Son derschulen abzuschaffen. Entsprechende Aussagen sind un richtig; diese Aussagen dienten aus meiner Sicht nur dazu, Unsicherheit zu schüren. Eltern in Baden-Württemberg wer den auch zukünftig ein qualitativ hochwertiges Sonderschul system vorfinden, sie werden aber auch die Wahlmöglichkeit für ein qualitativ hochwertiges inklusives Schulangebot an den Regelschulen haben.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Im Rahmen der Ausgestaltung dieses Wahlrechts soll der El ternwunsch für die Schulverwaltung handlungsleitend sein. Dabei gilt aber – das ist ganz wichtig –, dass wir dafür auch die entsprechenden Voraussetzungen, was die Ressourcen an geht, bereitstellen müssen. Wenn ich die Versuchsregionen an schaue, dann sehe ich schon in der Konzeptionierung Dinge, die für mich nicht nachvollziehbar sind.

Erstens: In den Schulversuchsregionen wurden für die Um setzung von Inklusion keine zusätzlichen Ressourcen an die Schulen gegeben. Dies ist nicht förderlich für ein qualitativ gleichwertiges Angebot an den Regelschulen, wenn die Son derschulen quasi dazu gezwungen werden, aus ihrem Bestand heraus – der ohnehin knapp bemessen ist – auch noch die In klusion mitzufinanzieren.

Das Weitere ist – das wurde ebenfalls bereits angesprochen –: Es ist schlicht und einfach anachronistisch, wenn Sie inklusiv beschulte Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbe darf nicht bei der Bemessung der Klassengröße berücksichti gen. Das geht nicht, das funktioniert nicht; das können Sie draußen auch niemandem erklären. Wir müssen zukünftig die se Schülerinnen und Schüler, die an der Regelschule beschult werden, natürlich bei der Berechnung des Klassenteilers mit zählen; diese Schüler sind dann Schüler der Regelschule wie alle anderen auch.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Wir werden – Kollege Käppeler hat es auch angesprochen – natürlich gemeinsam mit den Eltern in den entsprechenden

Bildungswegekonferenzen die jeweils vor Ort richtigen und möglichen Konzepte erarbeiten. Dabei ist es uns ein großes Anliegen, dass wir gemeinsam mit den Schulträgern, den Städten und Gemeinden sowie den Landkreisen ein tragfähi ges Konzept erarbeiten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, wenn wir in die letzten Jahre zurückblicken, müssen wir durchaus kon statieren, dass die bisherige, schwarz-gelbe Bundesregierung den Ländern im Rahmen des Fiskalpakts zum Thema Einglie derungshilfe zwar Zusagen gemacht hat, dass diese aber bis her nicht umgesetzt wurden. Ich setze bei Abschluss des Ko alitionsvertrags – so er zustande kommt – große Hoffnung in die entsprechende Ausstattung mit Mitteln: die Eingliede rungshilfe, die in diesem Fall im Koalitionsvertrag steht, und die Mittel, die hierfür zur Verfügung gestellt werden. Die zu sätzlichen 5 Milliarden € können eine sehr gute finanzielle Grundlage sein, um tatsächlich gemeinsam im Bund, in den Ländern und in den Kommunen Inklusion Wirklichkeit wer den zu lassen, und zwar in qualitativ hochwertiger Weise.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht nicht um ein Schwarz-Weiß-Malen. Wenn Sie heute an die Schulen gehen – Sie rühmen sich ja sehr häufig damit, die Eindrücke, die Sie dabei gewinnen, und die Wünsche der Schulen sehr ernst zu nehmen; das nehmen wir auch ernst –, wenn Sie heute son derschulische Einrichtungen besuchen und wenn Sie heute Regelschulen besuchen, werden Sie sehr schnell feststellen, dass unsere Schulverwaltung und unsere Schulen, was das Thema „Umsetzung von Inklusion“ angeht, umfangreiche Hil fen brauchen; denn dort bestehen noch erhebliche Vorbehal te.

Ich war vor zwei Wochen gemeinsam mit Journalistinnen und Journalisten an einer Schule in Bruchsal, wo sich eine Förder schule und eine Grund- und Hauptschule schrittweise des The mas Inklusion annehmen. Beide Schulleiterinnen haben über einstimmend gesagt: Herr Stoch, gehen Sie den Weg des be hutsamen Aufeinanderzugehens weiter.

Wenn letztlich das Ventil Schulgesetzänderung geöffnet wird, dann müssen die Strukturen bereits so sein, dass diese für El tern wirklich eine qualitativ hochwertige Wahlmöglichkeit zwischen einem sonderschulischen und einem Regelschulan gebot bieten.

Deswegen, meine Damen und Herren, wäre in diesem Fall Ei le der falsche Ratgeber. Für mich ist eine zwingende Voraus setzung für das Gelingen, dass wir mit den kommunalen Lan desverbänden eine faire Auseinandersetzung über die Frage der Kosten haben und mit ihnen gemeinsam zu tragfähigen Lösungen kommen und dass wir darüber hinaus unsere Schul verwaltung und unsere Schulen fit machen, damit Inklusion nicht als Begriff beschädigt wird – was passieren würde, wenn wir diese schlecht ausstatten –, sondern dass Inklusion tat sächlich eine gesellschaftliche Normalität wird.

Ganz herzlichen Dank.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Für die Fraktion der FDP/DVP spricht nochmals Herr Abg. Dr. Kern.

Herr Präsident, liebe Kol leginnen und Kollegen! Ich darf noch einmal auf die von mir bereits angesprochene Erhebung des VBE, des Verbands Bil dung und Erziehung, eingehen. Zu Beginn dieses Monats hat der VBE eine Erhebung mit der Überschrift „Inklusion: Die Skepsis wächst, das Vertrauen in die Politik schwindet“ vor gestellt. Gerhard Brand hat anlässlich der Vorstellung dieser Untersuchung Folgendes gesagt – ich zitiere –:

Unsere Umfrageergebnisse machen deutlich, dass das Zaudern der Landesregierung bei allen Finanzierungs fragen und das Fehlen eines ausgewogenen Konzeptes die Bürger vor den Kopf stößt. Und das, obwohl diese die Inklusion mehrheitlich befürworten.

Weiter sagte Gerhard Brand – nicht die Opposition, sondern der Vorsitzende des VBE Baden-Württemberg –:

Dieser Rückgang an Akzeptanz muss der Landesregie rung in Baden-Württemberg zu denken geben. Es besteht die Gefahr, dass die Politik die Inklusion an die Wand fährt. Die Bevölkerung glaubt der Politik ihr Versprechen schlichtweg nicht, dass sie die Inklusion mit vernünftigen Rahmenbedingungen versehen will.

Damit ist im Grunde das Problem umrissen und genannt: Es fehlt in Baden-Württemberg bei der Inklusion der Rahmen, es fehlen die Ressourcen, und, ganz wichtig, es fehlt der Dialog mit der Opposition. Herr Minister Stoch, wenn Sie es damit, dass Sie sagen, dieses Thema eigne sich nicht für den partei politischen Streit – da haben Sie ja recht –, wirklich ernst mei nen, interessiert mich: Wann kommen Sie eigentlich auf uns zu? Wann suchen Sie den Dialog? Sie sprechen so häufig vom Dialog, doch weder die CDU noch wir, die FDP/DVP, sind seit 2011 angesprochen worden, bei der Erarbeitung eines Konzepts parteiübergreifend und fraktionsübergreifend zu sammenzuarbeiten.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU)

Jedes Mal – dafür kann man mehrere Beispiele anführen –, wenn Grün-Rot im Bildungsausschuss die Möglichkeit hätte, mit FDP/DVP und CDU gemeinsam an einem Strang zu zie hen, werden unsere Anträge mit grün-roter Mehrheit nieder gestimmt. Das ist die Realität Ihrer Politik des Zuhörens und des gemeinsamen Vorgehens.

Ich appelliere an Sie: Wenn Sie es ernst meinen mit dem Schulfrieden, Herr Minister Stoch, dann können wir uns doch gerade beim Thema Inklusion, bei dem wir ganz bestimmt nicht weit auseinander sind, doch einmal exemplarisch zu sammensetzen und gemeinsame Schritte überlegen. Das täte den Betroffenen gut, das täte dem Thema gut, und auf diese Weise könnten Sie beweisen, wie ernst es Ihnen mit dem The ma Schulfrieden tatsächlich ist. Wenn Sie das nicht tun, bleibt der Verdacht, dass Sie immer nur dann nach dem Schulfrie den schreien, wenn Ihnen im Bildungsbereich in Baden-Würt temberg das Wasser bis zum Hals steht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU)

Für die CDU-Fraktion spricht Frau Abg. Dr. Stolz.

Herr Minister, Sie haben recht: Wir brauchen eine inklusive Grundverfassung. Aber durch halblebiges Nichtstun