Protokoll der Sitzung vom 26.03.2014

Meine Damen und Herren! Ich eröff ne die 94. Sitzung des 15. Landtags von Baden-Württemberg.

Urlaub für heute habe ich Herrn Abg. Peter Schneider erteilt.

Krankgemeldet ist der Kollege Karl-Wolfgang Jägel.

Auf Ihren Tischen finden Sie einen Vorschlag der Fraktion GRÜNE für eine Umbesetzung bei den Schriftführern (Anlage). – Ich stelle fest, dass Sie der vorgeschlagenen Umbesetzung zustimmen.

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Regierungserklärung – Auf dem Weg zu mehr Bürgerbe teiligung und direkter Demokratie in Baden-Württemberg

und Aussprache

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Ich erteile Herrn Ministerpräsident Winfried Kretschmann das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir wollen mehr Demokratie wagen.

Dieser Satz Willy Brandts ist nicht bloß ein einfacher Pro grammsatz, sondern zugleich ein großes Versprechen und ei ne fortwährende Aufgabe für alle, die politische Verantwor tung tragen.

Demokratie ist nichts Statisches, nichts Fertiges, sondern ein Prozess, der immer wieder neu begründet und von Neuem be feuert werden muss. Es gibt hier kein „Ende der Geschichte“. Ob die Demokratie Bestand hat oder nicht, hängt ganz ent scheidend von unserer Fähigkeit ab, die Demokratie immer wieder zu erneuern. Gelingt uns dies nicht, verkümmert die Demokratie.

Deshalb hat die Landesregierung einen Aufbruch für mehr De mokratie gewagt – oder genauer: für mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie. Das heißt auch: Wir haben einen Auf bruch für mehr Subsidiarität gewagt. Wenn die Bürgerschaft vor Ort einen Beitrag für unser Gemeinwesen leisten kann und will, dann gibt es keinen Grund, ihr dies zu verwehren.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Daher freue ich mich, dass es der Staatsrätin für Zivilgesell schaft und Bürgerbeteiligung Gisela Erler zusammen mit al len Ressorts gelungen ist, erstmals in Deutschland einen ver bindlichen Rahmen für eine stärkere Einbeziehung der Bür gerschaft zu schaffen.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Er bindet die gesamte Verwaltung Baden-Württembergs im Bereich öffentlicher Infrastrukturvorhaben. Er wurde nicht nur in enger Abstimmung mit Vertretern der Bauwirtschaft entwickelt. Der Verein Deutscher Ingenieure hat darüber hin aus parallel zu und im Austausch mit uns eigene Richtlinien entwickelt, die für private Bauprojekte gelten. Dies hebt die Kooperation von Wirtschaft und Verwaltung auf eine neue Stufe. Und es ist ein Meilenstein der stärkeren Einbeziehung der Bürgerschaft in Baden-Württemberg und in Deutschland insgesamt.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Meine Damen und Herren, es geht dabei nicht darum, die re präsentative Demokratie abzuschaffen. Es geht vielmehr da rum, sie behutsam zu ergänzen. Die repräsentative Demokra tie ist für uns und für Deutschland insgesamt eine große Er folgsgeschichte. Sie bleibt das Fundament unserer demokra tischen Ordnung.

Genauso wenig, wie die repräsentative Demokratie obsolet geworden ist, sind Berufspolitiker und Verwaltung obsolet ge worden. Nichts könnte falscher sein als das Schwarz-WeißBild des „guten“ einfachen Bürgers auf der einen Seite und des „bösen“ Berufspolitikers oder der „abgehobenen“ Verwal tung auf der anderen Seite. Professionelle Politiker und eine sachorientierte, gesetzestreue Verwaltung sind in einer kom plexen Gesellschaft unerlässlich.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeord neten der CDU und der FDP/DVP)

Von niemandem kann verlangt werden, sich neben Beruf und Familie zu allen politischen Fragen eine dezidierte Meinung zu bilden und über alles abzustimmen. Das wäre eine klare Überforderung.

Eine Stärkung der Bürgergesellschaft bedeutet also nicht, dass von nun an alle zu allem eine Meinung haben müssen. Die re präsentative Demokratie bleibt der Kern unseres Gemeinwe sens, und der Satz des Philosophen Arnold Gehlen, dass Ins titutionen entlasten, hat nach wie vor seine Bedeutung.

Umso mehr Anerkennung haben die ehrenamtlichen Gemein deräte verdient, die schon immer Teil der Bürgergesellschaft

(Ministerpräsident Winfried Kretschmann)

waren. Sie schaffen den schwierigen Spagat, sich neben Be ruf und Familie kontinuierlich für ihre Gemeinde zu engagie ren. Auch sie bleiben – genauso wie Berufspolitiker und Ver waltung – in Zukunft für ein lebendiges Gemeinwesen unver zichtbar.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeord neten der CDU und der FDP/DVP)

Warum dann überhaupt etwas ändern? Ich hatte zu Anfang schon angedeutet: Wenn wir auf gesellschaftliche Entwick lungen nicht reagieren, wenn wir die Demokratie nicht wei terentwickeln, dann verkümmert die Demokratie.

Es ist ein wenig so wie bei wichtigen Entscheidungen in der Familie. Früher hatte meist der Vater die wichtigen Entschei dungen getroffen. Daran mussten sich dann alle halten. Seine Autorität war sogar im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Bis Ende der Fünfzigerjahre durften Ehefrauen ohne Zustim mung des Ehemanns keinen Führerschein machen, und noch bis zum Ende der Siebzigerjahre durften sie ohne Zustimmung des Ehemanns keine eigene Erwerbsarbeit aufnehmen.

(Unruhe – Zuruf: Pst!)

Wir alle wissen aus eigener Erfahrung: So läuft es nicht mehr, und zwar zu Recht.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeord neten der CDU – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Das sind ja völlig neue Erkenntnisse!)

Das Bürgerliche Gesetzbuch wurde geändert.

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Gesetzliches Leitbild ist heute nicht mehr der Befehl, sondern das gegenseitige Einvernehmen, und das bedeutet nichts an deres als Beteiligung und Mitbestimmung. Das ist dann zwar oft anstrengender. Allerdings sind die Kompromisse, die am Ende herauskommen, meist auch besser. Denn sie beziehen die Interessen aller ein und beruhen auf dem Wissen und der Einsicht vieler. Der Volksmund drückt es so aus: Vier Augen sehen mehr als zwei. Genau so ist es.

Hinzu kommt ein Weiteres: Die gesellschaftlichen Bindungs kräfte sind in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich schwä cher geworden. Die Gesellschaft differenziert sich aus, sie wird pluralistischer und individualistischer. Gemeinsame Sichtweisen und Einstellungen, etwa aufgrund einer gemein sam geteilten Religion oder Nationalität oder aufgrund enger Bindungen vor Ort, sind nicht mehr selbstverständlich.

Deswegen müssen wir heute verstärkt im Wege des zivilisier ten Gesprächs, des zivilisierten Wettstreits und auch des zivi lisierten Streits Kompromisse aushandeln. Dabei geht es dann allerdings nicht nur um einen reinen Interessenausgleich. De mokratie ist mehr als das. Sie bedarf zusätzlich dazu auch der regulativen Idee des Gemeinwohls. Die Politik des Gehört werdens meint, dass wir öffentliche Räume für solch einen Dialog mit der Zivilgesellschaft schaffen. Wenn uns das ge lingt, leisten wir einen zentralen Beitrag dazu, die moderne Gesellschaft zusammenzuhalten.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Deshalb stärken wir die Rechte der Bürgerschaft durch zwei Bausteine: durch den Ausbau der Bürgerbeteiligung und durch mehr direkte Demokratie. Dabei dürfen wir das eine nicht mit dem anderen verwechseln. Bei der direkten Demokratie kön nen die Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen an sich zie hen und die Letztentscheidung treffen.

Ein Beispiel für eine Letztentscheidung ist die Volksabstim mung zu Stuttgart 21, bei der eine klare Mehrheit für die Wei terfinanzierung des Projekts gestimmt hat.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Hört, hört!)

Wenn die Mehrheit entschieden hat, dann sind wir an diese Entscheidung gebunden, ob wir sie für richtig halten oder nicht und – da im Zusammenhang mit Stuttgart 21 jetzt stän dig von der „Wahrheit“ gesprochen wird – ob wir sie für wahr halten oder nicht. Das ist die Härte der direkten Demokratie.

Trotz dieser Härte haben direktdemokratische Entscheidun gen eine befriedende Wirkung. Man muss sich nur einmal vor stellen, wie sich die Konfrontation um Stuttgart 21 weiterent wickelt hätte, wenn die Bürgerschaft nicht in einer Volksab stimmung über den Fortgang des Projekts entschieden hätte.

(Zuruf des Abg. Peter Hauk CDU)

Bei der Bürgerbeteiligung, also der „Politik des Gehörtwer dens“, geht es hingegen um etwas anderes. Hier geht es nicht um den Moment der Letztentscheidung. Es gilt auch nicht das Gesetz der lautesten Trompete nach dem Motto: Wer am lau testen hineinbläst, der wird gehört.

Es gilt vielmehr der Grundsatz: Alle werden gehört, die Lau ten und die Leisen. Alle Argumente werden geprüft und ge wichtet.

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Und dann macht man kurzen Prozess!)

Gute Argumente fließen in die Entscheidung ein. Aber am En de wird entschieden, und zwar von den verfassungsmäßig da für vorgesehenen Organen.

Bürgervoten dienen nicht dazu, Entscheidungen zu verhin dern. Schon im Wahlkampf habe ich betont, dass Bürgerbe teiligung nicht heißt, aus Baden-Württemberg den größten De battierklub aller Zeiten zu machen, in dem nichts mehr ent schieden wird. Natürlich kann nicht jede Meinung erhört wer den. Es geht darum, dass niemand überhört wird. Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger können ihre Meinungen und Ar gumente einbringen. So können sie einen ganz erheblichen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung eines Projekts neh men.