Es ist durchaus soziologisch erklärbar, dass es angesichts ei ner seit fünf Jahren andauernden Wirtschaftskrise in Europa mit entsprechenden Auswirkungen – zwei Drittel der Jugend lichen in Griechenland sind arbeitslos; 50 % der Jugendlichen in Spanien sind ohne Perspektive; das gilt in etwa auch in Un garn – viele Zweifel am europäischen Projekt gibt, dass Par teien und Rattenfänger versuchen, das für rechtspopulistische, übertrieben nationalistische Kräfte zu nutzen und zu instru mentalisieren.
Daher kommen wir wegen des Erstarkens der rechtspopulis tischen und antieuropäischen Bewegungen nicht umhin, fest zustellen: Die Krise, die in Europa in den letzten fünf Jahren stattgefunden hat, ist nicht nur eine Finanzkrise, eine Wirt schaftskrise, sondern auch eine soziale Krise, die die Men schen in Verzweiflung treibt. Es wird versucht, mit dieser Ver zweiflung politisch Schindluder zu treiben.
Wir erleben natürlich auch in vielen europäischen Ländern, dass die EU bzw. die europäische Integration stellvertretend für viele Prozesse in der Gesellschaft als Schuldige ausge macht wird: für das Voranschreiten der Globalisierung, für die Digitalisierung, für eine neue Vielfalt in den Gesellschaften, für Minderheiten, die sich selbstbewusst zu Wort melden, auch in Fragen der Gleichberechtigung. All diese Entwicklungen, die die Gesellschaften verändern, führen auch immer zu Ge genreaktionen. Dafür wird sehr häufig die Europäische Uni on verantwortlich gemacht.
Wir erleben es im politischen Alltag häufig bei uns selbst, dass wir uns die Verdienste um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt gern selbst zuschreiben, während wir bei all dem, was nicht gelingt, gern mit dem Finger nach Brüssel zeigen. Das ist ein Argumentationsmuster, auf das wir selbst manch mal hereinfallen. Mir passt es nicht, dass auch wir selbst als überzeugte Europäerinnen und Europäer in der Europakam pagne manchmal als Erstes auf alles hinweisen, was uns noch stört – so funktioniert Politik halt häufig – und die Verdiens te zu wenig in den Vordergrund stellen.
Aber es gibt schon einen Unterschied zu dem, was teilweise von einigen Parteien verfolgt wird. Es lohnt sich sehr, diffe renziert anzuschauen, was für Parteien das sind und mit wel chen Mustern sie argumentieren, um zu versuchen, Wähler stimmen zu generieren. Der Front National, Wilders in den Niederlanden, Jobbik, Lega Nord, Vlaams Belang, UKIP, AfD sind sehr unterschiedliche Parteien mit sehr unterschiedlichen Beweggründen.
Was aber allen gemein ist – deswegen, Herr Grimm, nutzt es nichts, Links- und Rechtsextremismus irgendwie vergleichen zu wollen – und was uns gemeinschaftlich sehr große Sorgen bereiten muss, ist, dass all diese Parteien in einem vermeint lichen Kampf gegen Modernität gegen die europäische Inte gration ausgerichtet sind und zugleich durch die Diskreditie rung und Diskriminierung von Minderheiten versuchen, die sen die Schuld an gesellschaftlichen Missständen zu geben. Deshalb wirken sie spalterisch – nicht nur für das europäische Projekt, sondern auch in ihren Ländern selbst –, vergiften das politische Klima und versuchen, im Interesse der eigenen Par tei auf dem Rücken von Minderheiten populistisch Stimmung gegen Europa zu machen. Das findet inzwischen in einem Bündnis flächendeckend in Europa statt, und das müssen wir als Demokraten gemeinsam entschieden bekämpfen.
Eines der schwierigen Themen in diesem Zusammenhang ist insbesondere das Thema Zuwanderung. Ich sage es ganz be wusst: Wir freuen uns über die Zuwanderung nach BadenWürttemberg. Wir brauchen sie dringend. In den allermeisten Fällen gelingt sie sehr gut. Deswegen ist es natürlich schwie rig, wenn eine Partei wie die CSU, die eine große europapo litische Tradition hat, die ich gar nicht in Abrede stellen will,
die gleiche Melodie spielt wie andere, die plakatieren, wir wä ren das Weltsozialamt. Das ist ein Problem. Denn gegen Ex tremisten, Rechtspopulisten und Antieuropäer hilft es nicht, das gleiche Lied mitzusingen und lauter singen zu wollen, sondern da hilft nur eine klare politische Abgrenzung.
Totschweigen – Herr Abg. Reinhart, da haben Sie recht – ist keine Alternative, sondern wir müssen uns mit den Motiven, mit den Themen auseinandersetzen. Aber Grußworte auf Ver anstaltungen solcher Parteien zu entbieten ist, mit Verlaub, auch kein Beitrag zur Lösung.
Deswegen müssen wir auf die Beispiele einer gelungenen In tegration, auf das Funktionieren des europäischen Arbeits markts hinweisen. Dort, wo es Missbrauch gibt, muss man ihn bekämpfen; das ist überhaupt keine Frage. Das gilt gleicher maßen für EU-Ausländer, Zuwanderer und EU-Inländer in Deutschland. Aber daraus ein politisches Wahlmotiv zu ma chen ist etwas völlig anderes, als die normale politische Inte grations- und Arbeitsmarktpolitik zu besprechen und zu ver bessern, damit sie für uns alle gelingt.
Was es leider vielen Populisten sehr leicht macht, ist, mit dem Motto anzugreifen, dass die EU die nationale, die regionale, die politische Selbstbestimmung unterhöhlen würde. Das fällt deswegen sehr leicht, weil die EU zugegebenermaßen nach wie vor ein Demokratiedefizit hat. Deswegen ist es das Wich tigste, die Demokratiedefizite der EU – auch bei der Europa wahl – zu beheben, damit es nicht mit einem rechtspopulisti schen, antieuropäischen Reflex verbunden werden kann, auf die EU als undemokratische Institution zu schimpfen.
Wir üben Kritik an den Funktionsweisen der Europäischen Union. Deswegen ist es sehr wichtig, dass der nächste Kom missionspräsident oder die nächste Kommissionspräsidentin tatsächlich aus dem Parlament heraus gewählt wird. Ehrlich gesagt halte ich es für schwach, dass die deutsche Bundes kanzlerin bis heute kein klares Bekenntnis zu diesem demo kratischen Mechanismus abgegeben hat, den wir völlig selbst verständlich für den Landtag von Baden-Württemberg und für den Deutschen Bundestag einfordern, nämlich dass der Chef der Regierung von den gewählten Abgeordneten gewählt wird.
Deswegen hielte ich es für gut, wenn auch von der Union ein klares Bekenntnis käme, und zwar nicht nur zu ihrem Spit zenkandidaten – das wäre schon einmal nicht schlecht –, son dern auch dazu, dass auf der Grundlage der Wahlentscheidun gen der Bürgerinnen und Bürger der Kommissionspräsident demokratisch aus dem Parlament heraus gewählt wird und die nationale Regierung nicht den eigenen Machtanspruch über das demokratische Prinzip der Europäischen Union stellt.
(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Peter Hauk CDU: Das stellt doch niemand in Abrede! – Zu ruf des Abg. Andreas Deuschle CDU)
Es ist schön, dass die EVP-Fraktion im Europäischen Parla ment diese Vorgehensweise mit befürwortet hat. Deswegen, fin
Zum Demokratiedefizit gehört übrigens auch – ich will die Debatte über Eurobonds, die wir schon mehrmals geführt ha ben, hier nicht noch einmal führen –, dass wesentliche Instru mente zur Krisenbewältigung in den letzten Jahren einen Man gel an demokratischer Legitimation aufweisen.
Wir müssen es als gemeinschaftliches Problem empfinden – zumindest im Europaausschuss haben wir dies auch so disku tiert –, dass die Finanz-, Währungs- und Wirtschaftspolitik in zwischen eigentlich komplett von der EZB durchgeführt wird und das Europäische Parlament und der Europäische Rat als die parlamentarischen und demokratischen Gremien zum Teil gar nichts mehr damit zu tun haben.
Deswegen gibt es natürlich schon längst eine Vergemeinschaf tung von Schulden durch die EZB; es gibt schon längst eine Kreditfinanzierung, Kreditprogramme und Staatsfinanzierung durch die EZB. Wir müssen doch gemeinsam bestrebt sein, gegen das demokratische Defizit in der Wirtschafts- und Wäh rungspolitik anzugehen. Wir müssen eine politische Union an streben, die in der Lage ist, Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa gemeinsam zu betreiben, sodass die Politik der EZB übergeht in den demokratischen Raum des Europäischen Par laments und der europäischen Institutionen. Es darf nicht zu einer Entdemokratisierung durch eine „Wirtschaftsnebenre gierung“ der EZB kommen. Das muss unser gemeinsames In teresse sein, auch um den Populisten, die immer reflexartig gegen die europäischen wirtschaftlichen Freiheiten argumen tieren, den Nährboden zu entziehen. Es muss gezeigt werden, dass Europa auch demokratisch in der Lage ist, seine Wirt schafts- und Finanzpolitik zu strukturieren und vernünftig zu betreiben.
Genauso besorgniserregend wie die rechtspopulistischen und antieuropäischen Umtriebe in einigen Parteien ist natürlich die Europamüdigkeit und die -skepsis, die sich bei den eigent lich glühenden Europabefürwortern nicht nur in der Rhetorik, sondern auch in vielen anderen Bereichen eingeschlichen hat.
Ich halte es für ein Problem, wenn eine Partei wie die Forza Italia und Herr Berlusconi mit Anti-Brüssel-Reflexen Wahl kampf betreiben, wenn Herr Orbán den gesamten Wahlkampf der Fidesz darauf gründet, gegen Brüssel Stimmung zu ma chen und die angebliche Unterdrückung der ungarischen Selbst bestimmung durch Brüssel als zentrales Wahlkampfthema zu wählen.
Es ist auch die Aufgabe der Europäischen Volkspartei, darü ber zu diskutieren, weil wir auch den antieuropäischen Reflex, der mitunter auch in den großen Volksparteien in Europa vor handen ist, gemeinsam bekämpfen müssen, damit wir nicht denen, die auf dem populistischen, antieuropäischen Kielwas ser segeln, die Stichworte geben.
Bundespräsident Gauck hat zu den Rechtsextremisten gesagt: „Euer Hass ist unser Ansporn.“ Ich würde für den Bereich der Rechtspopulisten, der Antieuropäer anknüpfen: „Euer Drang ins Gestern ist unser Antrieb für eine gemeinsame europäi sche Zukunft.“ Wenn wir als Demokraten gemeinsam gegen den beginnenden Rechtspopulismus, die antieuropäische Be wegung ankämpfen und dafür sorgen, dass viele Menschen zur Wahl gehen und damit auch die demokratischen und pro europäischen Parteien gestärkt werden, leisten wir den besten Beitrag dafür, in Baden-Württemberg in diesem Wahlkampf für das Gelingen des Projekts Europa zu streiten.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Debatte hat wirklich sehr gut gezeigt, wie wich tig dieses Thema ist, wie wichtig es ist, hier über diese Ab grenzung zu sprechen, diese Gratwanderung, die wir vorneh men müssen: Einerseits müssen wir am Haus weiterbauen, dürfen aber andererseits dabei das Haus nicht niederbrennen.
Herr Grimm, ich lade Sie gern ein, im Badischen Staatsthea ter in Karlsruhe die Ausstellung „Opfer rechter Gewalt seit 1990“ – sie ist meines Wissens noch ein paar Tage geöffnet – zu besuchen und dort 169 Opfer und ihre Schicksale zu be trachten. Hinterher steht es Ihnen dann frei, eine Aktuelle De batte zum Thema Linksextremismus zu beantragen.
Natürlich wenden wir uns gegen jede Form des Extremismus. Heute Morgen war es jedoch wichtig, noch einmal die Rolle der AfD und derer, die den Boden dafür bereiten, dass die AfD heute in Baden-Württemberg gestärkt ist, aufzuarbeiten.
Wichtig ist – der Minister hat dies auch deutlich gemacht –, dass wir mit dieser Landesregierung eine der proeuropäischs ten und konstruktivsten Landesregierungen haben, die auch im Namen des Subsidiaritätsprinzips ihre Rolle wahrnimmt. Wir unterstützen sie dabei im Europaausschuss darin, auch die Subsidiarität zu überprüfen, und wissen, dass die Landes politik im Bundesrat auch vertreten wird.
Das hindert uns aber nicht daran, die Verantwortung dafür zu übernehmen – wie ich vorhin bereits ausgeführt habe –, hier eine Willkommenskultur einzuführen, sodass Menschen, die mit ihren Familien und Kindern nach Baden-Württemberg kommen, um hier zu arbeiten und zu leben, sich herzlich auf genommen fühlen.
Ich erinnere mich etwas schmerzlich daran, dass mich, als ich eines Morgens über die Zollgrenze fuhr – ich habe 24 Jahre lang in der Schweiz gearbeitet –, auf einem Plakat ein schwar zes Schaf angeschaut hat. Damit war ich als Ausländer ge meint. Das ist nicht die Willkommenskultur, die ich erwarte. Ich möchte vielmehr auch eines dieser weißen Schafe sein.
So geht es auch den Menschen, die zu uns kommen. Wir soll ten sie als Mitbürgerinnen und Mitbürger begrüßen und sie
Ich möchte diese Debatte auch noch damit verbinden – wie ich meine, im Namen aller Mitglieder dieses Hauses –, mit Blick auf den kommenden Sonntag an die Bevölkerung zu ap pellieren, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen und die sem Europa damit eine breite Verankerung unter den Men schen zu geben. Es besteht bei allen Fraktionen hier im Haus Übereinstimmung, dass am kommenden Sonntag die Chance, sich durch Stimmabgabe an einem solchen gemeinsamen Eu ropa zu beteiligen, wirklich genutzt werden sollte.
Der Antrag Drucksache 15/5093 ist ein reiner Berichtsantrag und kann für erledigt erklärt werden. – Sie stimmen zu.
Aktuelle Debatte – Mehr Steuergerechtigkeit in Europa – internationale Steuergestaltungen bekämpfen – beantragt von der Fraktion der SPD