Herr Ministerpräsident, ich bin Ihnen an dieser Stelle sehr dankbar, dass Sie deutlich zum Ausdruck gebracht haben, dass wir, dass der Staat, dass seine demokratischen Institutionen an der Seite der Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens in Baden-Württemberg stehen und ihnen unsere Solidarität versichern. Aber Solidarität allein wird den Menschen ihre Angst nicht nehmen. Wenn wir zukünftig dafür sorgen wol len, dass diese Menschen weniger Angst haben, dann müssen wir konkret politisch handeln. Wir werden über Sicherheits maßnahmen nachdenken müssen, aber wir werden – ich kom me auf meinen ersten Beitrag zurück – vor allem auf die Fra ge nach dem Warum kommen müssen.
Was mich zugegeben ratlos macht und auch schon in den letz ten Jahren ratlos machte, ist: Wo kommt denn dieses antijüdi sche, antisemitische Denken her? Unsere europäische Ge schichte lässt ja darauf schließen, dass es da Erzählungen gab, die immer mit Mythen, mit Vorurteilen und vor allem auch mit Verschwörungstheorien zu tun hatten.
Wenn Sie sich einmal den Blick in die Geschichte gönnen, dann kommen Sie zu Begriffen wie „die Brunnenvergifter“, dann kommen Sie später –
Ende des vorletzten Jahrhunderts, Anfang des letzten Jahrhun derts – auf Weltverschwörungstheorien, die teilweise bis heu te weitergeführt werden, für die es keine Belege gibt, die aber fleißig nacherzählt werden.
Deswegen wird es nicht allein mit Sicherheitsmaßnahmen ge tan sein. Denn ich möchte nicht, dass Menschen, nur weil sie einer bestimmten Glaubensgemeinschaft angehören, ihren Glauben hinter verschlossenen Türen und dicken Mauern ze lebrieren müssen. Jüdischer Glaube gehört in die Mitte dieser Gesellschaft, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Dann gibt es auch im politischen Diskurs in unserem Land die Verschwörungstheoretiker. Sie sitzen auch in diesem Parla ment, sie gibt es auch in einer Partei, von der hier im Parla ment eine Fraktion sitzt.
Wenn ich dann höre, dass diese Fraktion darüber nachdenkt, diesen Verschwörungstheoretiker wieder in ihre Fraktion auf zunehmen, dann halte ich es für zynisch, wenn Sie, Herr Gö gel, hier sagen: „Wir haben mit der ganzen Sache nichts zu tun.“
Ich gebe Ihnen gern zu: Wenn wir zu den Verschwörungsthe oretikern kommen, dann mag das ein kleiner Teil der Men schen sein, die sich draußen oder auch hier im Parlament be wegen. Aber die nächste Abstufung sind nicht die Verschwö rungstheoretiker, sondern die Relativierer,
(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Was sa gen Sie zu Herrn Steinmeier? Was sagen Sie zu Herrn Gabriel? Was sagen Sie zu Herrn Maaßen?)
die die Verantwortung, die wir haben, die das Phänomen An tisemitismus kleinzureden versuchen, indem sie es mit ande rem vergleichen. Das erinnert mich sehr an den Historiker streit in Deutschland und die sogenannte Schlussstrichdebat te. Und es erinnert mich sehr an die Worte, die heute schon zitiert wurden: „Ein Vogelschiss der Geschichte“ – Worte, mit denen das Unrecht des Nationalsozialismus relativiert werden soll, weil es in einen größeren Kontext gestellt wird.
Ich erinnere weiter an Aussagen wie: „Wir brauchen eine er innerungspolitische Wende um 180 Grad.“ Was ist das denn anderes als eine Relativierung dieser Schuld, meine sehr ge ehrten Damen und Herren?
Der Antisemitismus, über den wir reden, steht ja nicht isoliert als Antisemitismus. Dieser Antisemitismus steht im Kontext von Intoleranz, er steht im Kontext von Rassismus, von Chau vinismus, von völkischen Überlegenheitsfantasien, und er ist gerade auch in der Form, wie wir ihn als besonders bedroh lich erleben, im Kontext des Rechtsextremismus zu finden. Wenn eine Partei, die hier im Parlament vertreten ist, keine klare Kante zum Rechtsextremismus zieht, dann ist sie – mit Verlaub – mitverantwortlich für dieses gesellschaftliche Kli ma.
(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grü nen, der CDU und der FDP/DVP – Zuruf des Abg. Anton Baron AfD)
Nein, Frau Präsidentin. – Es darf deswegen in unserem Land keine Rückzugsräume geben, in denen dieses Denken vor sich hin gären kann. Diese Rück zugsräume dürfen nicht in der realen Welt existieren, und die se Rückzugsräume dürfen auch nicht in der virtuellen und di gitalen Welt existieren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn es entspre chende Echoräume gibt, wenn es im Internet Räume gibt, in denen diese Verschwörungstheorien weitergetragen werden, dann haben wir alle, die demokratische Gesellschaft, doch ein großes Interesse daran, diesen Hass, diese Hetze gegen Men schen, die mitten in unserer Gesellschaft leben, ein für alle Mal zu beenden. Deswegen brauchen wir gesetzgeberische Instrumente, um gegen diesen Hass und diese Hetze im Netz vorgehen zu können, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen.
Dann brauchen wir eben auch – das fordert der Antisemitis musbeauftragte ein – ein entschlosseneres Handeln gegenüber verbalem Antisemitismus.
Ich darf in diesem Zusammenhang noch einmal an die rechts extremen Wahlplakate erinnern, die in diesem Land offenbar nicht abgehängt werden konnten, obwohl man in anderen Bundesländern den Mut dazu aufbrachte. Hier gilt aber das gleiche Recht, Herr Innenminister. Dann müssen Sie uns er klären, warum das in Baden-Württemberg nicht vollzogen wurde.
In diesem Kontext erinnere ich auch noch einmal an die enor men Schwierigkeiten, die Betroffene erleben, wenn sie Schmä hungen und Bedrohungen verfolgt wissen wollen. Wir lassen – das ist meine Überzeugung – noch viel zu viel zu. Attacken wie jüngst in Halle zeigen uns aber doch, dass wir das nicht mehr zulassen dürfen. Schweigen allein wird nicht reichen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Antisemitismus wird geflüstert und geschrien, er wird gepostet, gelikt und ge schmiert. Er führt zu Anfeindungen, zu Übergriffen, zu An schlägen. Wir müssen ihm aber in jeder Form begegnen – mit Prävention, mit Bildung, mit Strafverfolgung, leider auch mit Polizeischutz und besserer Sicherung und auf jeden Fall mit null Toleranz gegenüber allen antisemitischen Brandstiftern. Wir dürfen – Herr Ministerpräsident, Sie haben es gesagt – es nicht zulassen, dass die Intoleranten unsere freiheitlich-demo kratische Grundordnung, unsere Toleranz ausnutzen. Keine Toleranz den Intoleranten!
(Beifall bei der SPD und der FDP/DVP, Abgeordne ten der Grünen und der CDU sowie des Abg. Dr. Rai ner Balzer AfD)
Deswegen möchte ich zum Abschluss Erich Kästner zitieren. Erich Kästner hat einmal gesagt, bezogen auf das Phänomen des Nationalsozialismus – ich zitiere –:
Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine La wine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP/DVP-Fraktion ist dankbar dafür, dass Sie, Herr Ministerpräsident, für die Lan desregierung ein klares Bekenntnis nicht nur gegen den Anti semitismus, sondern auch zum Schutz jüdischen Lebens in Baden-Württemberg abgelegt haben. Sie haben zu Recht ge sagt, dass es beschämend ist, dass ein Menschenleben nach der Schoah jüdisches Leben in Deutschland wieder bedroht ist – vielleicht muss man sagen: wieder öffentlich erkennbar bedroht ist. Denn den unterschwelligen Antisemitismus gab es ja in den letzten Jahrzehnten immer: „Jude“ als Schimpf wort auf dem Schulhof, antisemitische Stereotype in unter schiedlichster Form. Aber das, was wir in letzter Zeit erlebt haben, ist ein verändertes geistiges Klima, bei dem auch man che in der Öffentlichkeit und auch bestimmte politische Kräf te darangegangen sind, zunächst einmal das Sagbare zu ver schieben
Wollten Sie eine Zwischenfrage stellen? Das können Sie gern machen. Aber den Mut dafür haben Sie wahrscheinlich nicht. Lieber kommen irgendwelche Zwischenrufe von der rechten Seite, von Leuten, die es gerade nötig haben. Sie ge hören nämlich genau zu denen, die in diesem Land das Sag bare verschieben wollen. Und deshalb ist es notwendig, ge gen Sie vorzugehen, meine Damen und Herren von der AfD.
(Beifall bei der FDP/DVP, den Grünen und der SPD sowie Abgeordneten der CDU – Lachen bei Abge ordneten der AfD)
„Man wird ja wohl noch sagen dürfen...“, ja, und das nehmen dann manche zum Anlass, nicht nur das zu tun, sondern auch zu handeln.
Das ist das, was in diesem Land droht, und genau hier besteht Handlungsbedarf. Alle politischen Kräfte, all die, die dieses Land vorangebracht haben, die Sie so abfällig „Altparteien“ nennen, sind zum Handeln und zum Zusammenstehen aufge rufen, meine Damen und Herren.
Es trifft zu, wenn Sie, Herr Ministerpräsident, sagen, es gehö re zur Staatsräson des Landes Baden-Württemberg, jüdisches Leben zu schützen. Ich wiederhole das, was ich bei der Ein setzung des Antisemitismusbeauftragten gesagt habe. Zur Staatsräson Deutschlands aus politischer Verantwortung und aus Verantwortung vor der Geschichte gehört das Existenz recht des Staates Israel – was nicht heißt, dass man beispiels weise die Regierung Netanjahu nicht kritisieren dürfte; aber das Existenzrecht muss immer klar sein. Es muss auch für uns immer klar sein, dass jüdisches Leben eine Bereicherung für
unsere Gesellschaft in Baden-Württemberg ist. Wir wollen jü disches Leben in der Mitte dieser Gesellschaft jetzt und auch in Zukunft haben.