Protokoll der Sitzung vom 30.10.2020

(Unruhe)

Stimmen Sie mir dahin gehend zu, Herr Reinhart?

Herr Kollege Baron, zwei Dinge sind zu unterscheiden: Das eine ist der Impfstoff für die Grippeimpfung. Ja, da wurden bislang 16 Millionen Dosen pro Jahr bestellt, in diesem Jahr 25 Millionen – die aber nur zeitverzögert zur Verfügung stehen.

Zweitens zur Frage der zukünftigen Impfstoffe und dazu, dass Sie schon wissen, dass eine Wirksamkeit von genau 75 % er zielt wird: Das weiß niemand. Wenn man das wüsste, wären wir ja glücklich. Alle Experten sprechen davon, dass sich die Wirksamkeit zwischen 40 und 90 % bewegen kann. Aber wir sind ja noch gar nicht so weit. Wir alle haben nur die Hoff nung, dass jetzt überhaupt in der dritten Testphase dieser Ver such gelingt und verwendbare Ergebnisse vorliegen werden, die zeigen, dass der Impfstoff Wirkung entfaltet.

Sie können sich hier bitte nicht hinstellen und sagen, wir sei en nur destruktiv, wir seien gegen alles. Wir sind konstruktiv. Wir wollen handeln. Wir müssen handeln. Wir wollen Lösun gen. Darum geht es jetzt.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen)

Jetzt noch die Zwischenfrage von Herrn Abg. Dr. Balzer, die Sie ja auch zugelassen hatten. – Herr Abg. Dr. Balzer.

Danke, Herr Reinhart, für das Zulassen der zweiten Frage aus der gleichen Ecke. – Ich ha be Folgendes anzumerken: Sie haben ja sehr schön, sehr ge nau und sehr gut ausgeführt,

(Zurufe: Fragen!)

wie die Zahlen der Infizierten und die Zahlen der Tests korre lieren und demzufolge ansteigen.

Die Beobachtung der letzten Tage oder Wochen hat gezeigt, dass die Zahl der Infizierten nicht identisch ist mit der Zahl der Kranken. Im Gegenteil, es gibt eine große Disparität. Es ist nur eine kleine Anzahl Menschen, die ernsthaft erkrankt sind. Wie haben Sie denn bei diesen Vorhaben, bei den Maß nahmen, die jetzt eingeleitet werden, berücksichtigt, dass nur wenige Menschen wirklich krank sind?

Alle Experten und Wis senschaftler haben eine Zahl bekannt gegeben, um die Sie

nicht umhinkommen, dass nämlich 2 % aller Infizierten – un abhängig davon, wie intensiv der eine oder andere aus der restlichen Gruppe erkrankt ist – eine Intensivbehandlung be nötigen. Jeder, der sich ein bisschen auskennt, weiß, dass man das mit Prozentrechnung belegen kann, Herr Kollege Balzer.

(Abg. Dr. Rainer Balzer AfD: Ja, eben!)

Wenn wir beispielsweise eine Erhöhung von 1 700 auf 18 000 bei den täglichen bundesweiten Infektionszahlen haben, dann steigt logischerweise auch das Risiko intensivmedizinischer Behandlungen um das Zehnfache.

Diese Erkenntnis kommt nicht von mir, sondern von Exper ten, die deshalb darauf hinweisen, dass wir erst in zwei Wo chen überhaupt beurteilen können, was diese Zahlen von heu te auslösen und bewirken werden. Das ist das Problem, dass wir immer nur in den Rückspiegel schauen, dass wir heute noch gar nicht wissen, wie in zwei Wochen die Wirkungen sein werden.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen)

Ich will auch eines noch sagen: Sie müssen sich nicht für das Zulassen einer Zwischenfrage bedanken

(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Das ist par lamentarisches Recht!)

das ist parlamentarisches Recht –, und ich habe heute auch kein Problem damit; denn es ist ja freie Redezeit vereinbart worden. Die Zeit wird also nicht abgezogen, und es blinkt so zusagen nicht schon wieder rot. Insoweit haben wir damit heu te kein Problem.

Weiter möchte ich schon gern noch ansprechen, dass wir na türlich – das geht genau in diese Richtung – die Gesundheit schützen wollen. Dabei werden wir tief in Freiheiten eingrei fen.

(Zuruf: Ja!)

Setzen wir aber allein auf die Freiheit, riskieren wir unabseh bare gesundheitliche Folgen. Denn es ist ja immer eine Ab wägung zwischen Freiheit und Sicherheit. Das ist immer auch die Frage der Eingriffe in die Grundrechte, die natürlich we sentlich ist.

Deshalb werden wir in diesem Zusammenhang auch immer beachten müssen: Es sind schwierige Grundrechtsabwägun gen. Die Maßnahmen betreffen hochrangige Rechtsgüter. An diesem Beispiel geht es eigentlich um den Kern des liberalen Verfassungsstaats – auch mit der freiheitlichen Grundordnung. Einerseits haben wir Freiheiten – zu denen sich schon heute manche zu Wort melden – wie Gewerbe- und Berufsfreiheit, Freizügigkeit, den Gleichheitsgrundsatz. Auf der anderen Sei te haben wir das Recht auf Leben und körperliche Unversehrt heit, das den Staat in einer Pandemielage akut verpflichtet.

Deshalb sind Grundrechte für sich allein nicht absolut. Die meisten Freiheitsrechte stehen unter einem Gesetzesvorbehalt. Ein solches Gesetz ist das Infektionsschutzgesetz des Bundes mit der Generalklausel in § 32, die diese Regierung mit der Befugnis ausstattet, solche Verordnungen zu erlassen. Des halb ist das, was wir hier veranstalten, keine Scheindemokra tie, Herr Kollege Gögel.

(Beifall bei der CDU und den Grünen sowie Abge ordneten der SPD)

Wirklich überzeugende risikofreie Alternativen hat im Mo ment niemand anzubieten, sosehr wir uns alle bessere, intel ligentere und auch effizientere Strategien im Kampf gegen das Virus wünschen. Destruktive Kritik allein hilft erst recht nicht.

Die Beschlüsse vom Mittwoch sind im Kreis der 16 Regie rungschefs und der Bundeskanzlerin einstimmig gefallen. Das ist auch ein wichtiges Signal. Denn einerseits unterstreicht das den objektiven Ernst der Lage, und andererseits widerlegt es die Rede vom föderalen Flickenteppich, worüber wir hier ja oft diskutiert und gesprochen haben.

Der Ministerpräsident hat – wie ich finde, zu Recht – eines angesprochen: Wenn es überhaupt Länder gibt, die darüber diskutieren müssten, ob man diese Regeln braucht, dann sind es teilweise die neuen Bundesländer im Norden, auch die nördlichen Länder. Wenn Sie die Deutschlandkarte anschau en, sehen Sie, dass Bayern, Baden-Württemberg und Nord rhein-Westfalen dunkelrot sind. Sie sind die hauptsächlich von Corona Betroffenen. Im Grunde genommen könnten die an deren Länder fragen: „Sind die Maßnahmen wirklich verhält nismäßig?“ Offenkundig haben sich aber alle 16 in allen Punk ten zusammengeschlossen.

Da wir heute auch von der Kritik und den Anträgen der FDP/ DVP gelesen haben, Kollege Rülke,

(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Sehr gut!)

will ich schon sagen – es wurde nur Rheinland-Pfalz ange sprochen, das gilt aber auch für Nordrhein-Westfalen –: Die FDP ist an drei Landesregierungen beteiligt. So, wie ich es se he, sind alle drei dabei.

Ich will noch einen anderen Punkt ansprechen. In dieser La ge führt das übliche Rollenverhalten – Regierung, Oppositi on – nicht weiter. Ich meine, es geht um eine gemeinsame Ver antwortung aller politisch Handelnden. Das ist mir wichtig. Das sollten wir auch festhalten.

Deutschland ist mit seinem Vorgehen keineswegs allein. Auch unsere Nachbarn sehen sich unabhängig von Kultur und Cou leur zu ganz ähnlichen Entscheidungen gezwungen. In Frank reich gibt es Ausgangssperren. Die freisinnigen Schweizer ha ben sich deutliche Kontaktbeschränkungen auferlegt.

(Abg. Winfried Mack CDU: Hört, hört!)

Die liberalen Niederländer sind in einen Teil-Lockdown ge gangen, und in Polen, das Ihnen, der AfD, sonst auch immer als Vorbild dient,

(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Das ist Un garn!)

herrscht eine ganz strenge Maskenpflicht. Übrigens ist dort auch die Gastronomie geschlossen.

Herr Abg. Professor Dr. Reinhart, lassen Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Pal ka von der AfD zu?

(Abg. Andreas Stoch SPD: Das ist ein bisschen viel! Sie könnten ihn ja mal in die Fraktion einladen!)

Ich würde jetzt erst ein mal zu Ende ausführen wollen.

Das alles zeigt: Es ist jetzt nicht die Stunde der Parteipolitik. Es ist auch nicht die Stunde der Rechthaberei, es ist nicht die Stunde der Vorwürfe oder Schuldzuweisungen. Vielmehr ist es gut und notwendig, wenn wir Argumente austauschen, das Für und Wider abwägen und wenn auch Kritik und Wider spruch den verdienten Raum bekommen.

Wir sind verantwortlich dafür, wie und mit welchen Worten wir diese Debatte führen. Es geht nicht darum, jemanden durch die Coronaregeln zu bestrafen oder zum Sündenbock zu machen. In dieser Kategorie wollen wir die Diskussion nicht führen.

Wir müssen uns immer wieder klarmachen und auch als De battengrundlage in Erinnerung rufen: Corona ist nicht das Er gebnis von Politik. Es ist ein Naturereignis. Niemand hat die se Pandemie gewollt. Deshalb geht es auch nicht um die Fra ge, was der Staat in dieser Pandemie vom Einzelnen verlangt. Vielmehr geht es darum, wozu das Virus uns alle gemeinsam zwingt. Das ist ein wichtiger Unterschied, den wir alle beach ten sollten.

Alle, die wir in dieser Zeit in Verantwortung stehen, wollen ja das Beste. Die Kanzlerin hat gestern gesagt: Die Pandemie ist eine gesundheitliche, wirtschaftliche, soziale und auch psy chische Bewährungsprobe, und viele Maßnahmen treffen uns im Kern unseres menschlichen Miteinanders. Ich finde, das trifft sehr zu.

Bundesminister Spahn, der hier in Stuttgart war – auch bei uns –, hat sehr früh gesagt – Zitat –:

Wir werden einander nach dieser Pandemie viel zu ver zeihen haben.

(Staatssekretärin Friedlinde Gurr-Hirsch: Genau! Das war schlau!)

Diese Bereitschaft zur Nachsicht müssen wir uns erhalten. Denn wir brauchen sie, damit wir diese Prüfung achtbar und anständig bestehen.

Denn was wir nicht verlieren dürfen, sind das Vertrauen und die Akzeptanz der Menschen. Es ist ganz wichtig, dass wir uns das erhalten. Das ist auch ein wichtiger Maßstab.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen)