Natürlich werden jetzt die Gerichte diese Bestimmungen über prüfen, natürlich werden sie auch zu kritischen Würdigungen kommen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz „geeignet, er forderlich, angemessen“, Herr Kollege Weinmann,
Natürlich geht es um die gewaltenteilige Verfassung. Ich bin überzeugt: Auch die Gerichte werden ihre Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit im Lichte der neuen Infektionszahlen
ständig anpassen müssen. Was eine Kammer noch vor drei Wochen verworfen hat, kann morgen schon richtig sein. Auch dort geht es um ein dynamisches Geschehen.
Auch Juristen – ob im Ministerium oder bei Gericht – arbei ten derzeit auf einem Drahtseil, ohne Netz und Sicherungslei ne. Wenn eine Maßnahme vom Gericht mit knapper Abwä gung gestoppt wird, ist dies somit keine Niederlage, auch kein Versagen und erst recht keine Klatsche, wie man oft liest. Viel mehr ist es Teil des gemeinsamen Ringens um das rechte Maß in einer Situation, die kein Lehrbuch und kein Kommentar bisher je vorgesehen haben.
Das zeigt: Der Rechtsstaat funktioniert; er macht seine Arbeit – auch in der Krise. Dafür sollten wir sogar dankbar sein.
Wichtig ist – der Dreh- und Angelpunkt aller Entscheidun gen –: Schulen und Kindergärten bleiben offen. Schon allein deshalb ist die jetzige Situation nicht mit der im Frühjahr zu vergleichen. Im Bereich der Bildung haben die Kultusminis terin und diese Landesregierung viel getan. Ich erwähne nur die 130 Millionen € für die Ausstattung der Schulen oder die Mitteilung von heute, dass auch die digitale Bildungsplatt form vorankommt. Schon allein deshalb ist die Situation bes ser. Wir haben gesehen, wie sehr die Schließung von Schulen und Betreuungseinrichtungen die Familien belastet hat, wie schwerwiegend auch die wirtschaftlichen Folgen waren. Des halb sind wir uns einig: Erneute flächendeckende Schulschlie ßungen wollen und müssen wir dringend verhindern. Das ist für uns Priorität Nummer 1.
Der Handel arbeitet ebenfalls weiter. Hier haben die Minis terpräsidenten den ursprünglichen Beschlussvorschlag sogar entschärft. In der Vorlage stand noch „25 m2 pro Kunde“, da raus sind jetzt, glaube ich, 10 m2 geworden.
Auch die Kirchenpforten schließen nicht nochmals. Auch das ist für viele Menschen, gerade in dieser Zeit, wichtig, und es gibt Halt.
Die Industrie – wichtig für Baden-Württemberg – ist von den Beschränkungen nicht betroffen. Sie kann ihren Erholungs kurs hoffentlich fortsetzen, und der Bund wird die Umsatz verluste der jetzt noch einmal von Schließungen betroffenen Unternehmen, wie wir gehört haben, zu drei Vierteln ausglei chen. Das ist ein beispielloser Akt der Solidarität und auch des Lastenausgleichs.
Ich halte es für fair und richtig: Die Gemeinschaft profitiert davon, dass bestimmte Branchen ihren Betrieb jetzt unterbre chen. Daher muss die Gemeinschaft dann auch gemeinsam dafür einstehen. Aber ich finde, 75 % Ausfallersatz sind ein sehr gutes Angebot. Wahrscheinlich hätten die meisten Unter nehmen unter den derzeitigen Bedingungen im Monat No vember gar keine höheren Umsätze erzielen können.
Es wird sehr darauf ankommen, dass das Geld jetzt schnell und unbürokratisch ankommt. Wir brauchen einfache Anträ
ge, direkte Bewilligungen. Und natürlich müssen auch Betrie be Ausgleichszahlungen bekommen können, die schon aus an deren Programmen Hilfen bekommen haben.
Wir wollen, dass Baden-Württemberg auch nach Corona Kul turland und Genießerland bleibt. Deshalb hat das Land hier auch in der Vergangenheit schon stärker als der Bund gehol fen. Ich will es wiederholen: Wir haben, anders als der Bund, den Selbstständigen einen fiktiven Unternehmerlohn gezahlt, wir haben ein eigenes Notprogramm für Kunst und Kultur auf gelegt, und wir haben mit einem maßgeschneiderten Sonder programm das Hotel- und Gaststättengewerbe zusätzlich un terstützt. Das zeigt: Baden-Württemberg stellt sich der Ver antwortung für besonders betroffene Branchen. – Wir stehen in Solidarität an Ihrer Seite; darauf ist weiter Verlass. Wir hel fen euch!
Ich finde, das ist eine gute Conclusio. Es geht vielleicht auch darum, dem allzu menschlichen Drang zu trotzen, die Dinge einfach laufen zu lassen – und sich dem Coronafatalismus zu ergeben. Motivationspsychologisch stehen wir an einem ganz kritischen Punkt. Wir sollen Opfer bringen, ohne dass der Lohn dafür schon greifbar ist. Wir sind wie ein Radfahrer auf einem langen Anstieg bei Gegenwind:
Man müht sich, die Kräfte lassen nach, das Ziel scheint im mer ferner. In solchen Situationen geben manche auf. Aber jetzt kommt es darauf an, dass wir weitermachen, dass jeder seinen Teil beiträgt, dass wir uns gemeinsam durchkämpfen.
Und dräut der Winter noch so sehr mit trotzigen Gebärden, und streut er Eis und Schnee umher, es muss doch Frühling werden.
Wir alle dürfen hoffen: Es kommen auch wieder bessere Ta ge. Für diese Hoffnung müssen wir jetzt die Zähne zusammen beißen und weiter durchhalten und zusammenhalten. Dann werden wir auch diese Krise bewältigen.
(Anhaltender Beifall bei der CDU – Beifall bei Ab geordneten der Grünen – Zuruf von der CDU: Sehr gut!)
Frau Präsidentin, liebe Kollegin nen, liebe Kollegen! Wenn wir den Ausführungen des Herrn Ministerpräsidenten in seiner Regierungsinformation gut zu gehört haben,
dann ist klar, dass wir in unserem Land vor einer Ausnahme situation stehen, die unser Land, unsere Gesellschaft heraus fordert und die ohne Zweifel entschlossenes und umsichtiges politisches Handeln notwendig macht. Genau aus diesem Grund ist hier und heute auch der richtige Tag und der richti ge Ort, um über diese Herausforderung zu debattieren und auch zu streiten.
Ich möchte ausdrücklich das Wort der Bundeskanzlerin vom gestrigen Tag aufgreifen: Wo denn, wenn nicht in unseren Par lamenten müssen wir die Argumente austauschen, um den Menschen zu zeigen, dass hier um den richtigen Weg in die ser Krise gerungen wird, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen?
(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grü nen, der CDU und der FDP/DVP – Abg. Nicole Ra zavi CDU: Sehr gut!)
Deswegen geht es bei den am Mittwoch von den Ministerprä sidentinnen und Ministerpräsidenten und der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen darum, dass wir nicht weniger Parlament und weniger parlamentarische Mitwirkung, son dern mehr parlamentarische Mitwirkung brauchen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ging hier in die ser Debatte auch schon um die Frage, ob die Parlamente in der Vergangenheit, in den letzten Monaten angemessen betei ligt wurden. Ich erkenne hier eine Lernkurve. Das ist positiv; denn wir haben zu Beginn der Krise diese Situation eben nicht gehabt. Herr Kollege Schwarz, mich freut es, dass wir hier im Parlament eine Regelung gefunden haben, wie die Parlamen te eingebunden werden. Aber es muss auch ganz deutlich ge sagt werden: Es waren die Oppositionsfraktionen, die den An stoß für diese Parlamentsbeteiligung gegeben haben.
(Beifall bei der SPD und der FDP/DVP – Abg. Ni cole Razavi CDU: Das stimmt nicht! – Abg. Andre as Schwarz GRÜNE: Na ja, na ja, na ja! – Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU: Die einen sehen es so, die anderen so! – Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Das steht sogar in der FAZ! – Gegenruf der Abg. Ni cole Razavi CDU: Falsche Lorbeeren! – Weitere Zu rufe – Unruhe)
Ich möchte noch darüber hinausgehen. Bei der Frage, wie wir mit dieser Pandemie, wie wir mit dieser Coronakrise umge hen, müssen wir durchaus auch sehr grundsätzlich Fragen in Richtung der Bundesebene stellen. Denn wenn wir uns die Systematik des Infektionsschutzgesetzes einmal genauer an schauen, sehen wir, dass dieses Infektionsschutzgesetz nicht für eine über einen längeren Zeitraum andauernde nationale Krise konstruiert worden ist.
Denn, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Verwei sungssystematik – vorhin wurde § 32 des Infektionsschutzge setzes angesprochen – nimmt natürlich auf, dass in einem In fektionsfall schnell und effektiv gehandelt werden muss. Aus meiner Sicht verstößt diese Regelung im Infektionsschutzge setz aber gegen die verfassungsmäßige Ordnung – nämlich dort, wo nicht die Frage gestellt wird, wie stark und über wel chen Zeitraum in Grundrechte eingegriffen wird.
Deswegen möchte ich all diejenigen bestärken, die sagen: Wir brauchen an dieser Stelle eine Umsetzung der Wesentlichkeits theorie des Bundesverfassungsgerichts. Hier muss ein Parla mentsvorbehalt gelten, der die wirklich einschneidenden Maß nahmen auch trägt, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Mit genau diesem Gedanken haben wir, die SPD, am vergan genen Mittwoch diese Sondersitzung des Landtags von Ba den-Württemberg gefordert, weil wir gesagt haben: Wann, wenn nicht jetzt, müssen wir über diese Beschlusslage der Mi nisterpräsidentenkonferenz hier im Parlament sprechen?
Ich war sehr froh, Herr Ministerpräsident, als ich dann wahr nehmen konnte, dass es auch Ihr Interesse ist, vor das Parla ment zu treten. Ich hätte es als nicht ausreichend empfunden, wenn nur die zunächst angedachte Präsidiumssitzung durch geführt worden wäre.