Die Sorge von Menschen, ihre Wohnform künftig nicht mehr frei wählen zu dürfen, ist den Betroffenen auch genommen worden. Auch darauf hat Kollege Poreski hingewiesen.
Ein weiterer neuralgischer Punkt war die Schnittstelle zwi schen Eingliederungshilfe und Pflege. Auch das war Gegen stand heftiger Kritik. Jetzt ist klargestellt worden, dass es kei nen Vorrang der Pflege vor der Eingliederungshilfe geben wird. Die Idee des Bundesrats zum sogenannten Lebenslagen modell wurde aufgegriffen.
Die Anhörungsrechte der Schwerbehindertenvertreter in den Unternehmen und der Verwaltung wurden gestärkt. Sie müs sen künftig vor Kündigungen angehört werden, weil diese an sonsten unwirksam sind.
Niemand kann schon heute verlässlich die Kostenfolgen die ses Gesetzes voraussagen. Deswegen hat sich der Bund zu ei ner Evaluation bereit erklärt, die er auch finanziert. In zentra len Bereichen des Gesetzes sollen deswegen modellhafte Er probungen durchgeführt werden. Wenn sich diese als unwirk sam oder gar kontraproduktiv erweisen sollten, dann muss wirkungsvoll und zeitnah nachgesteuert werden. Das werden wir im Auge behalten, insbesondere was die Schnittstelle zwi schen Eingliederungshilfe und Pflege anbelangt.
Im Rahmen der Landeszuständigkeit haben wir uns im Koa litionsvertrag darauf verständigt, dass wir hier in Baden-Würt temberg vor Ort möglichst passgenaue Angebote für die Men schen mit Behinderungen schaffen wollen. Wir wollen die selbstständigen Formen des Wohnens erhalten. Wir wollen Unternehmen verstärkt dabei begleiten, inklusive Arbeitsplät ze zur Verfügung zu stellen. Dazu werden wir auch den Dia log mit den Arbeitgebern suchen und werden insbesondere unsere ehrenamtliche Landes-Behindertenbeauftragte Stepha nie Aeffner bei ihrer Arbeit begleiten.
Das große Ziel, den gesellschaftlichen Zusammenhalt in un serem Land durch mehr Teilhabe von Menschen mit Behin derungen zu stärken, nimmt aber nicht nur den Gesetzgeber und die Politik in die Verantwortung. In der Politik sind wir alle, die ganze Gesellschaft. Oft genug werden Menschen mit Behinderungen nicht durch ihre speziellen Einschränkungen oder geltende Gesetze, sondern von ihrer Umwelt behindert. Vor diesem Hintergrund ist das Gesetz ein bedeutender Schritt in Richtung der Stärkung von Autonomie und Selbstbestim mung. Auch wenn der Weg vielleicht erst jetzt richtig beginnt – und deswegen selbstverständlich noch recht weit ist –, hilft er uns sicher dabei, genau die Menschen im Blick zu behal ten, die darauf besonders angewiesen sind und die wir deswe gen in den Mittelpunkt unserer Politik stellen.
Machen wir uns gemeinsam mit ihnen und für sie auf einen guten Weg in die Zukunft. Es lohnt sich für uns alle.
(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen – Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU: Sehr gut! Bra vo! Guter Mann!)
Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, geschätzte Kollegen Abge ordnete! Teilhabe ist ein wirklich wunderbares Wort. Ähnlich ist es bei Integration. Auch das ist ein schönes Wort – mathe matisch höchst anspruchsvoll. Differenzialgleichungen sind bei der Integration gemeint, falls das noch bekannt ist. Wir sind ja ganz streng an Fakten orientiert, aber wir leben in ei ner postfaktischen Zeit, wie wir erfahren haben.
(Abg. Beate Böhlen GRÜNE: Nein! Nein! – Abg. Thomas Poreski GRÜNE: Sie leben in einer postfak tischen Zeit! – Weitere Zurufe von den Grünen)
Postfaktisch sind immer die anderen. Wenden wir uns also den Fakten zu oder dem, was Berge versetzt, nämlich dem Glau ben. Daher erzähle ich zunächst eine kleine Geschichte, die Sie vielleicht schon kennen.
Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen berufen sich häufig auf den Heiligen Christophorus. Der Riese Offerus, der nur dem mächtigsten Herrscher dienen wollte, diesen jedoch nicht fand, trug der Legende nach die Reisenden anstelle ei nes Fährmanns über den Fluss. Eines Tages trug er ein klei nes Kind über den Strom. Zu Anfang erschien ihm die Last leicht. Mit der Zeit erschien ihm dieses Kind immer schwe rer, je weiter er kam. Das ist postfaktisch, denn die Masse, das Gewicht ändert sich normalerweise in so kurzer Zeit nicht. Meine Frau sagt: „Beim Essen ist das anders, da ändert sich die Masse, das Gewicht sehr schnell.“
Faktisch wurde überliefert – aber dies ist wiederum eine Glau bensfrage –: Das Kind gab sich als Christus zu erkennen – passend zur jetzt beginnenden Weihnachtszeit.
In dieser Legende bedienen sich beide Gestalten einander. Oh ne die Hilfe des Riesen wäre das Kind nicht auf die andere Seite des Ufers gelangt, und ohne das Kind – ohne Christus – wäre der Riese Offerus nicht der Heilige Christophorus ge worden.
Sehr geehrte Damen und Herren, unsere Gesellschaft hat ih re Werte durch die christliche Barmherzigkeit entwickelt. Doch in den vergangenen hundert Jahren haben sich bedeut same Änderungen ergeben. Aus der freiwilligen Handlung des Individuums, der Hilfe, ist eine institutionalisierte Hilfe in Form von Gesetzen und Rechten geworden.
Diese Entwicklung hat Vorteile. Sie hat z. B. den Vorteil, dass die Betroffenen nicht mehr um etwas, was ihnen unserer Auf fassung nach zusteht, betteln müssen. Sie, die Betroffenen, haben das Recht, zu fordern. Diese Entwicklung hat aber auch Nachteile. Die freie Entscheidung des helfenden Individuums, Gutes zu tun oder auch zu lassen, hat durch die Institutiona lisierung kaum noch freien Raum der Entfaltung.
In der postfaktischen Legende des Heiligen Christophorus sind zwei Dinge entscheidend: Der Riese hilft dem Kind in
einer Gefahrensituation, in der es sich selbst nicht mehr hel fen kann – nicht danach und nicht davor. Hilfe wird dort ge währt und in Anspruch genommen, wo der bedürftige Mensch allein nicht mehr weiterkommt.
Zum Zweiten: Christophorus ist ein Riese, er ist groß und stark; nur dadurch kann er wirklich helfen. In unserer Gesell schaft, beginnend mit der Praxis der Inklusion in der Schule, besteht die Gefahr – aber vielleicht ist es auch ein Ziel – der Nivellierung aller. Der Starke darf nicht mehr stark sein und der Schwache nicht mehr schwach.
Meine Damen und Herren, was tut unsere Gesellschaft für die Starken, die die Schwachen tragen sollen? Wie werden die be gabten und interessierten Schüler gefördert? Reicht das, was wir haben, oder erwarten wir nicht viel zu häufig, dass sie ein fach still sind und mitlaufen? Sie brauchen mehr als nur die Möglichkeit, ein Jahr in der Schule zu überspringen. Ein Recht auf Inklusion in der Schule halte ich deshalb für falsch. Inklu sion ist wünschenswert, trifft aber auf natürliche Grenzen.
Diese liegen in der Machbarkeit und in der Finanzierbarkeit. Hier dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, wenn da durch andere – die Starken – überfordert werden.
Was tun wir für die Leistungsstarken in der Gesellschaft? Wird ihnen die Möglichkeit gegeben, die Last zu tragen? Man den ke an die fast ausschließlich geistigen Ressourcen in unserem Land, auf denen bekanntlich unser Wohlstand basiert; Erfin der und Entdecker sind gefragt. Nur nebenbei gefragt: Hat je mand von Ihnen schon einmal etwas Eigenes entwickelt oder entdeckt?
(Abg. Daniel Andreas Lede Abal GRÜNE: Endlich! – Abg. Reinhold Gall SPD: Das war ein langer An lauf! – Unruhe bei den Grünen)
nennt sich das schöne neue Gesetz. Doch ist Teilhabe wirk lich ein Recht? Oder ist es nicht vielmehr etwas, was der Mensch sich selbst erarbeiten und erwerben muss?
Wenn jemand neu in eine Gesellschaft, einen Verein oder an einen Arbeitsplatz kommt, muss er sich das Vertrauen der an deren erst erwerben, und zwar durch Zuverlässigkeit und gu te Arbeit. Stattdessen wird nun Teilhabe von Menschen mit geringem Einkommen, von Menschen mit Behinderungen der verschiedensten Art und von anderen als Recht eingefordert. Teilhabe ist wünschenswert. Aber ob sie ein Recht ist, das möchte ich an dieser Stelle fragen.
Sind die neuen Regelungen gut oder schlecht? Kommt es zu Verbesserungen oder zu Verschlechterungen? Es ist vorhin schon ausgeführt worden: Viele Annahmen deuten darauf hin, dass es zu Verschlechterungen für die derzeit Betroffenen kommt, die durch den Bestandsschutz abgefedert werden sol len.
Das wirft die Frage auf, ob nicht kommende Generationen be nachteiligt werden. Wir dürfen die kommenden Generationen nicht schon wieder – wie bereits bei der Staatsverschuldung und den Renten – überproportional belasten. Das führt zu Un gerechtigkeiten. Die Last wird zu schwer, als dass sie ein star ker Christophorus schultern kann.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Gesetzesänderung war notwendig, da Deutschland die UN-Behindertenrechtskon vention unterzeichnete. Ob diese Unterzeichnung richtig war, ist bisher nicht infrage gestellt worden. Warum nicht?
Wir haben ein hoch entwickeltes Sonderschulsystem. Doch jetzt werden wir zur Inklusion gezwungen, unabhängig da von, ob dies im Einzelfall sinnvoll ist.
Wenn wir für jedes behinderte Kind einen Regelschulplatz ebenso wie einen Platz an einer Sonderschule vorhalten müs sen, dann ist das sehr teuer.
Deshalb gibt es Bestrebungen, die Sonderschulen abzuschaf fen. Doch meist sind es diese Einrichtungen und ihre Sonder pädagogen, die die besten Möglichkeiten bieten, Kinder mit Behinderungen zu fördern. 10 % der Menschen in unserer Ge sellschaft sind nach dem Behindertengesetz – Sie haben es vorhin gehört – förderungsberechtigt. Doch die restlichen 90 % der Bevölkerung sind nicht alle gesund und stark. Es stehen auch nicht alle in Toparbeitsverhältnissen. Wir müssen uns an dieser Stelle fragen, welche Kosten für den sogenann ten gesunden Teil der Gesellschaft, der in Lohn und Brot steht, zumutbar sind. Welche Last kann noch geschultert werden,