Das Bundesteilhabegesetz ist ein Artikelgesetz und musste mit vielen Fachministerien abgestimmt werden. Vor allem der Ge sundheitsbereich war ein sehr großer Bereich; denn die Hilfe zur Pflege war ein großer Baustein, weil da die Sozialgesetz bücher nicht miteinander korrespondierten. Da gab es einfach Probleme, dies in Einklang zu bringen. Aber das ist dank der Verhandlungen von Andrea Nahles mit Bundesminister Grö he gelungen.
In Deutschland leben mehrere Millionen Menschen mit Be hinderungen, darunter sehr viele in der Eingliederungshilfe. Die Tendenz ist steigend, und damit steigt natürlich auch die Belastung für die Kommunen. Schaut man sich diese Men schen an, sieht man: Wir reden hier nicht über ein Gesetz für eine homogene Gruppe, sondern wir reden über ein Gesetz für Menschen mit ganz vielen unterschiedlichen Beeinträchtigun gen und Behinderungen. Das Problem ist also vielschichtig. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass dieses Gesetz fort entwickelt werden kann.
Es wird im kommenden Jahr eine wissenschaftliche Untersu chung geben, die das Gesetz in seiner Auswirkung begleitet. Die Ergebnisse werden dann 2018 in den Bundestag zurück gespiegelt. Es wird eine erneute Befassung mit diesen Ergeb nissen geben, und auf dieser Basis können dann in den Län dern Modellvorhaben realisiert werden, die ihrerseits wissen schaftlich begleitet werden. Diese Erkenntnisse gehen dann erneut in den Bundestag und auch in den Bundesrat, und dann wird 2023 daraus ein Paket geschnürt. Ich gehe davon aus, dass wir dann ein richtig gutes Gesetz haben werden, das vie le der Baustellen, die wir jetzt noch haben, beseitigt haben wird.
Bis zum Schluss wurden noch wichtige Änderungen am Ent wurf vorgenommen. Die Fachpolitiker von SPD, CSU und CDU haben kurz vor der letzten Ausschusssitzung noch 68 Änderungsanträge eingebracht. Ich war die ganze Zeit in Kon takt mit den Fachpolitikern der Bundestagsfraktion und habe gehört, dass die Arbeitsatmosphäre innerhalb der Koalitionä re sehr gut war. Alle waren gewillt, hier etwas zu machen, und alle haben auch die Erfahrungen aus ihren Ländern, aus Ver bänden und mit Betroffenen eingebracht, um so wirklich ein lebensnahes, ein praxisnahes Gesetz zu entwickeln.
In den letzten Wochen habe ich viele Rückfragen dazu bekom men. Kollege Hockenberger und ich waren vor Kurzem noch bei einer Veranstaltung und haben auch da die Aussage ge hört: „Das ist jetzt gut so. Darauf kann man aufbauen.“ Es war nicht helle Begeisterung festzustellen, aber man hat gesagt: „Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.“
Das sieht übrigens auch Verena Bentele, die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behin derungen, so. Sie war eine große Kritikerin des Referenten entwurfs. Sie sagt aber heute: Es ist ein richtig gutes Funda ment, und auf diesem Fundament müssen wir weiter aufbau en. Das ist für uns entscheidend.
Das Bundesteilhabegesetz schafft bundeseinheitliche Kriteri en für die gesamte Bedarfsplanung. Genau das möchten die Menschen mit Behinderungen.
Vielleicht noch ein Wort zu den Ländern und zur Rolle der Landesregierung. Natürlich haben alle Landesregierungen und alle im Bundesrat Beteiligten an der Diskussion teilgenom men. Alle wollten ein fortschrittliches Gesetz. Aber wir dür fen nicht vergessen, dass alle Bundesländer – übrigens auch die SPD-geführten Bundesländer – auch ein bisschen die Fi nanzen im Auge hatten. Es war klar, dass man bei bestimm ten Dingen frisches Geld gebraucht hätte. Bundesfinanzmi nister Schäuble hat aber keine Bereitschaft erklärt, dieses be reitzustellen.
Nach dem Gesetz sind schon jetzt 800 Millionen € jährlich aufzubringen, und wir haben die 5 Milliarden € für die Ent lastung der Kommunen, die aber leider aufgrund der Haltung des Bundesrats jetzt davon entkoppelt wurden. Aber ich den ke, dass Bundestag und Bundesrat hier gemeinsam gut zusam mengearbeitet haben. Ich danke allen Fachpolitikern, die da zu beigetragen haben.
Ich appelliere auch an uns alle, die nächsten Monate und Jah re vor Ort und im Gespräch mit Verbänden und behinderten Menschen weiter Impulse zu geben, damit wir 2023 ein erst klassiges Gesetz für alle betroffenen Menschen haben.
Über Inhalte, Ziele und Fortschritte des neuen Bundesteilha berechts haben meine Vorredner bereits umfassend informiert – ein Recht für mehr Selbstbestimmung und mehr Teilhabe in allen Bereichen des Lebens von Menschen mit Behinderun gen, damit sie dieselben Chancen auf Arbeit und Bildung wie Menschen ohne Behinderungen haben und am Leben in un serer Gesellschaft teilnehmen können.
Die FDP/DVP-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg bekennt sich zu einer freien und vielfältigen Gesellschaft, in der sich Menschen mit und ohne Behinderungen frei entfal ten können und respektvoll miteinander leben und umgehen. Das Recht auf selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilha be in allen Bereichen des Lebens darf niemandem aufgrund körperlicher, geistiger oder seelischer Einschränkungen ver wehrt bleiben.
Im Vordergrund steht die Achtung der Würde, der Entschei dungsfreiheit sowie der Unabhängigkeit aller Menschen. Auf der Grundlage dieser individuellen Autonomie muss das Zu sammenleben in der Gesellschaft freiheitlich gestaltet werden.
Welche Chancen, Perspektiven und Herausforderungen bringt das Bundesteilhabegesetz? Diese Frage ist durchaus berech tigt. Die betroffenen Menschen mit Behinderungen setzen gro ße Erwartungen in dieses Gesetz, sodass endlich die Einglie derungshilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft aus der Fürsorge, der Sozialhilfe, herausgelöst werden kann.
Geradezu euphorisch – das war auch bei meinen Vorrednern zum Teil so zu hören – haben sich die Betroffenen und ihre Verbände auf Bundes- und auf Landesebene eingebracht, ha ben in den Arbeitskreisen mitgewirkt, damit am Ende ein gu tes Teilhabegesetz entsteht. Gut, alle wussten, dass nicht alle Vorschläge im Verhältnis 1 : 1 umgesetzt werden können. Al le wussten, dass auch Kompromisse eingegangen werden müssen. Aber alle setzen darauf, dass diese große sozialpoli tische Reform nach der UN-Behindertenrechtskonvention im Sinne von „Nichts über uns ohne uns“ entwickelt wird.
Umso größer ist der Frust über das Ergebnis. Er kam in zahl reichen Schreiben der Verbände in den vergangenen Wochen zum Ausdruck. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich Men schen mit Behinderungen so lange und intensiv gegen einen Gesetzentwurf gewehrt haben. Menschen im Rollstuhl haben sich angekettet, blinde Menschen sind baden gegangen, und auch in Baden-Württemberg waren zahlreiche Menschen mit Behinderungen auf der Straße, weil der Gesetzentwurf nicht überzeugt.
Fast in einer Nacht-und-Nebel-Aktion haben SPD und CDU im Bundestag scheinbar auf die breite Kritik reagiert, um kurz vor der Abstimmung noch Verbesserungen zu erreichen. Ich betone: Verbesserungen. „Scheinbar“ sage ich deshalb, weil die Verbesserungen marginal sind und vor allem als Prüfauf trag in einem Entschließungsantrag enthalten sind. Wer hat denn nun künftig Zugang zu den Leistungen? Die viel kriti sierte „Fünf aus neun“-Regelung, nach der künftig Leistun gen der erhält, der in mindestens fünf von neun Lebensberei chen Hilfe benötigt, ist eine fragwürdige Regelung.
Die Bundesregierung kann mit Zustimmung des Bundesrats eine Rechtsverordnung erlassen. Welche Haltung nimmt Ba den-Württemberg ein?
Ein weiterer wesentlicher Punkt, der noch immer nicht ein deutig geregelt ist, ist das Wunsch- und Wahlrecht. Jedem Menschen mit Behinderung stellt sich die Frage: Wo darf ich wohnen, mit wem ich will und wie ich will? Das neue Bun desteilhabegesetz verfolgt den Grundsatz „ambulant vor sta tionär“. Doch im Kleingedruckten steht, dass selbstverständ lich auch künftig geprüft wird, ob der Wunsch angemessen und zumutbar ist.
Das Schicksal des Freiburger Rollstuhlfahrers Dirk Bergen ging erst jüngst durch die Medien. Seit Jahrzehnten auf den Rollstuhl angewiesen, aber glücklich mit der Hilfe eines As sistenten in der eigenen Wohnung, sollte er, weil günstiger, in ein Wohnheim umziehen. Hier fiel die Einzelfallentscheidung – dafür hat man lange gekämpft – der Stadt Freiburg zuguns ten des Betroffenen aus.
Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention über nommen. Sie muss auch im praktischen Handeln umgesetzt werden. Wir wollen Inklusion. Dann müssen wir die Kommu nen, die auch künftig für die Gewährung der Eingliederungs hilfe zuständig sind, unterstützen. Es gilt das Konnexitätsprin zip. Es ist zu befürchten, dass die zugesagten 5 Milliarden € nicht zweckgebunden ankommen. Auch der Deutsche Land kreistag übt in einer Pressemitteilung Kritik. Ich zitiere:
Ein wesentliches Ziel der Reform bestand darin, die bis herige Ausgabendynamik der Eingliederungshilfe zu be grenzen. Stattdessen wird nun sogar neue Ausgabendy namik erzeugt. Daran ändern auch die neuesten Überar beitungen des Gesetzentwurfs nichts. Es bleibt für die Landkreise ein Gesetz, das wir ablehnen.
Es sind noch sehr viele Fragen – auch Umsetzungsfragen – offen. Es geht um Ausführungsbestimmungen, für die die Bundesländer zuständig sind. Wie verhält sich unser Bundes land? Wie werden in diesen Prozess die Akteure – Menschen mit Behinderungen, deren Verbände, die Stadt- und Landkrei se, die Wohlfahrtspflege usw. – mit einbezogen?
Am Freitag entscheidet der Bundesrat. Die Grünen haben im Bundestag dem Gesetzentwurf nicht zugestimmt. Werden sie sich im Bundesrat auch der Stimme enthalten? Sie, Herr Mi nister Lucha, bekennen sich zum Bundesteilhabegesetz und erklären trotz – –
ler Kritik zustimmen zu wollen, und versprechen, im Laufe der Jahre nachzujustieren. Warum nicht gleich? Das ist unse re Frage.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kolle gen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir protokollarisch, dass ich an dieser Stelle als Erstes die neu installierte Beauftragte der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderungen hier heute auf der Regie rungsbank herzlich begrüße. Herzlich willkommen, Steffi Aeffner, in unserem Hohen Haus.
Ich glaube, allein deine Bereitschaft, dieses Amt zu überneh men, ist ein Signal in die Gesellschaft.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich wirklich sehr, dass wir nach einem langen und anstrengenden Weg die Wei terentwicklung der Hilfen für Menschen mit Behinderungen zu einem vorläufigen Ende bringen können.
Wir haben mit dem Prozess im Jahr 2003 begonnen. Damals gab es einen Beschluss der Arbeits- und Sozialministerkonfe renz – noch vor der Ratifizierung der UN-Behindertenrechts konvention –, dass wir ein modernes Teilhabegesetz benöti gen. Die Bundesregierung hat uns im Sommer in der Tat ei nen unausgegorenen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich habe daher gemeinsam mit meinen Länderkolleginnen und -kollegen far benlehreübergreifend 100 Änderungsanträge in den Bundes rat eingebracht.
Lieber Kollege Hinderer, Ihre Recherchen sind etwas knapp ausgefallen. Es ist üblich, dass man auch einmal eine Rede zu Protokoll gibt. Bei besagter Sitzung ist die Rede des Minis ters Lucha zu Protokoll gegeben worden. Am Freitag werde ich meine Rede nicht zu Protokoll geben. Da werde ich sie selbstverständlich halten.
(Beifall bei Abgeordneten der Grünen – Heiterkeit des Abg. Rainer Hinderer SPD – Zuruf von der SPD: Sehr gut!)