Protokoll der Sitzung vom 08.06.2016

(Abg. Andreas Schwarz GRÜNE: Der Eindruck täuscht, Herr Kollege! Da täuschen Sie sich!)

Da aber, wo Sie ins Detail gehen, stellen wir fest, dass uns hier Dinge verkauft werden, die längst auf dem Weg sind. Ich werde dazu noch kommen.

Deswegen halte ich es – das sei zu Beginn vorangestellt – bei einer Regierung mit dieser satten Mehrheit – nämlich 89 von 143 Sitzen – gerade in Zeiten des rasanten gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen und technologischen Wandels für eine Enttäuschung, dass in diesem Koalitionsvertrag auf die wichtigen Fragen dieser Zeit nicht wirklich eine Antwort ge geben wird, sondern dass versucht wird, mit rhetorischen Fi nessen darüber hinwegzutäuschen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren – Kollege Reinhart hat es in seinem Wortbeitrag gegen Ende auch angesprochen –, wir hätten natürlich erwartet, dass wir gerade zum Thema „Haushalts- und Finanzpolitik“ hier klarere Aussagen bekom men.

(Beifall des Abg. Dr. Gerhard Aden FDP/DVP – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: So wie bei Ihrem Beginn damals!)

Zu dem Thema Finanzen fällt Ihnen immerhin eine ganze Sei te Text ein. Es ist ja ein ganz beliebtes Stilmittel, zum Antritt einer neuen Regierung einen groß angekündigten Kassensturz zu machen, um dann mit einem sauertöpfischen Gesicht in die Kamera zu sagen, die Lage sei äußerst prekär.

(Zuruf des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP)

Das wirkt wenig glaubwürdig, denn die größere der beiden Regierungsfraktionen hat auch in den vergangenen fünf Jah ren mitregiert, und die größere der beiden Regierungsfrakti onen war über jede finanzpolitische Entscheidung im Bilde.

(Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU: Wird nicht be stritten!)

Aber jetzt darf ich darauf hinweisen – es ist ja wohl offen sichtlich, Herr Kollege Reinhart, auch ein Ammenmärchen, das Sie jetzt in Fortsetzung der Oppositionszeit weiter zu er zählen versuchen –: Wir haben das strukturelle Defizit, das wir 2011 im Haushalt vorgefunden haben, um 1,6 Milliarden € reduziert. Falls es eines Belegs bedarf: Die Ratingagentur Standard & Poor’s hat Baden-Württemberg 2003 das AAARating verliehen. Unter Schwarz-Gelb hatte man es dann zwi schenzeitlich verloren, aber seit 2012 hat man es wieder durch gehend erhalten. Wo ist also die finanzpolitisch schlechte Bi lanz dieser Regierung?

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren – da würde ich mir sehr viel mehr Mut bei Ihnen wünschen –, wir haben in vie len Bereichen, in denen dies jahrelang verschlafen wurde,

wichtige Investitionen getätigt. Denn was bringt Ihnen ein Verschuldungsabbau in der Kasse, wenn Sie die Substanz draußen verschlechtern? Wir haben z. B. im Landesstraßen bau, gerade wenn es um das Thema Sanierung geht, und im Hochschulbau viele Versäumnisse der zuvor von der CDU ge führten Regierungen repariert, indem wir sehr viel Geld in diese Bereiche investiert haben. Das ist Nachhaltigkeit im po litischen Tun und Handeln.

(Beifall bei der SPD)

Herr Abg. Stoch, lassen Sie ei ne Zwischenfrage zu?

Okay.

Dann ist es doch überraschend, wenn wir jetzt vom stellvertretenden Ministerpräsidenten nach Gesprächen, die offensichtlich im Rahmen der Koalitionsver handlungen gelaufen sind, hören, dass er – er kommt aus der Bundespolitik, ist aber immerhin Landesvorsitzender der CDU – überrascht sei, wie intensiv sich das Land BadenWürttemberg z. B. im Bereich der Integration von Flüchtlin gen engagiert hat.

Wer dann, wenn er nicht weiß, dass das Land im Haushalt 2016 für diesen Bereich gut 2 Milliarden € zur Verfügung stellt, versucht, aus einer Deckungslücke im Haushalt eine Schimäre aufzubauen und daraus den Vorwurf haushälterisch unverantwortlichen Handelns abzuleiten, der geht fehlt, Herr Strobl. Ich glaube, Sie sollten sich sehr intensiv mit der Fra ge beschäftigen, was das Land Baden-Württemberg in den letzten fünf Jahren gerade in diesem Bereich geleistet hat.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Winfried Mack CDU)

Was ich mir, liebe Kolleginnen und Kollegen und Herr Minis terpräsident, gewünscht hätte, wäre auch mehr Aufrichtigkeit, gerade wenn es um das finanzpolitische Kapitel geht. Denn wir finden im Koalitionsvertrag leider keine umfangreichen Angaben dazu, wie Sie gedenken, den Pfad der haushaltspo litischen Solidität und der finanzpolitischen Konsolidierung weiterzugehen. Denn mit Blick auf konkrete Maßnahmen, wenn es z. B. um Einsparungen bei den Beamten geht, wenn es z. B. um die Frage der Deckelung zukünftiger Gehaltser höhungen geht, wenn es z. B. um die Absenkung der Beihil fe für neue Beamte oder 300 Millionen € weniger an Mitteln für die Kommunen geht, bleiben Sie im Ungefähren und im Vagen.

Ich glaube, es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, aber vor allem auch ein Gebot der Transparenz, dass man den Menschen im Land Baden-Württemberg die Wahrheit sagt – auch über die unangenehmen Seiten des Regierungshandelns.

(Beifall bei der SPD – Vereinzelt Beifall bei der AfD)

Es ist natürlich sehr viel leichter, finanzpolitische Ankündi gungen zu Ausgaben zu machen, als sie zu hinterfragen. Wir haben Ihre Ankündigung – die war auch medial nicht zu über hören – vernommen, dass in den nächsten fünf Regierungs

jahren 500 Millionen € in die Bereiche Schiene, Straße, Hoch schule und Hochbau investiert werden.

(Abg. Andreas Schwarz GRÜNE: Zusätzlich!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das sind ganze 100 Millionen € pro Jahr – nur einmal zum Vergleich. Insbeson dere beim Straßenbau müssen Sie sich an den Zahlen messen lassen, die wir Ihnen hinterlassen haben, um den Sanierungs stau abzubauen. Ich darf für die Regierung, die von Grünen und SPD getragen wurde, sagen: Da war es insbesondere die SPD, die dem Verkehrsminister die Möglichkeit gegeben hat, inzwischen als Straßenbauminister Deutschlands durch die Lande zu ziehen. Aber Sie kennen sicherlich auch die Ge schichte vom Hund, den man zum Jagen tragen musste.

(Beifall bei der SPD – Abg. Nicole Razavi CDU: Ach so! War es doch so? – Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Der Hund war auf dem Gepäckträger! – Gegenruf des Abg. Reinhold Gall SPD)

Kommen wir zu einem weiteren Thema – ich wusste, dass Herr Rülke an diesem Spruch Gefallen findet –: Eine Über schrift, die wir in diesem Koalitionsvertrag und in der Regie rungserklärung – ich habe es nicht gezählt – einige Male ge lesen bzw. gehört haben, ist der Begriff „Digitalisierung“. Di gitalisierung ist – das ist völlig unbestritten – ein unglaublich wichtiges Zukunftsfeld,

(Staatssekretärin Friedlinde Gurr-Hirsch: Der rote Fa den! – Gegenruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Der grüne Faden! – Abg. Nicole Razavi CDU: Der schwarze Faden!)

und zwar nicht nur für die wirtschaftspolitische Entwicklung dieses Landes. Die Digitalisierung berührt vielmehr ganz vie le Bereiche unseres politischen Handelns. Digitalisierung steht dabei zuvörderst für eine umfangreiche Vernetzung aller Be reiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie bedeutet auch für das Individuum Veränderungen – nehmen Sie die Beispiele E-Commerce, mobiles Internet oder die sozialen Medien –, sie bietet auch für Beschäftigte, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – übrigens Begriffe, die ich in der Regierungs erklärung aus meiner Sicht leider viel zu selten gehört habe –

(Abg. Reinhold Gall SPD: Kein einziges Mal!)

die Chance, räumlich und zeitlich so flexibel wie nie zuvor ar beiten zu können. Und für die Industrie – das ist völlig unbe stritten; diese Prozesse sind ja längst im Gang – bedeutet Di gitalisierung einen massiven Umbruch durch die Verbindung physischer und virtueller Welten; Prozesse, Produktion, Pro dukte und Service verändern sich radikal.

Zweifelsohne ist diese bereits im Gang befindliche Digitali sierung ein bedeutendes Thema für unser Land. Aber, mit Ver laub, Herr Ministerpräsident, Sie haben es nicht erfunden. Wichtige Impulse wurden hier bereits teilweise vor Jahren ge setzt – auch von Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid, der in seiner Tätigkeit als Wirtschaftsminister hier bereits in vielen Bereichen Prozesse angeregt und gestartet hat. Dabei standen Themen wie IT und Datensicherheit für den Mittel stand, die Digitalisierung der Produktion unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ oder auch Mobilitätskonzepte wie das autono

me Fahren im Mittelpunkt. Die Digitalisierung eröffnet natür lich nicht nur in der Industrie, sondern auch für das Handwerk neue Geschäftsfelder.

Aber wir dürfen bei dem Glauben an diese Kraft, diese Ver änderungsdynamik der Digitalisierung nicht vergessen, mei ne sehr geehrten Damen und Herren – und darüber habe ich zu wenig gehört –: Diese Veränderungen – auch die Digitali sierung – sind für Menschen in Baden-Württemberg auch mit Risiken verbunden, nämlich dann, wenn diejenigen, die von diesen Digitalisierungsprozessen erfasst werden, teilweise ih ren Arbeitsplatz verlieren oder aufgrund ihrer beruflichen Qualifizierung diesem Prozess, diesem Entwicklungstempo nicht mehr standhalten können.

Deswegen spielen für mich gerade bei diesem Digitalisie rungsthema Bildungsthemen – vor allem die berufliche Wei terqualifizierung – eine ganz zentrale Rolle. Deswegen wird auch das Thema „Lebenslanges und lebensbegleitendes Ler nen“ eine noch viel wichtigere Rolle spielen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Dazu hätte ich gern in dieser Re gierungserklärung sehr viel mehr gehört.

Aus der Digitaliserung erwächst auch ein großer Bedarf an Qualifizierung und Weiterbildung, ein noch höherer Bedarf in den MINT-Berufen, bei denen wir schon heute einen deutli chen Fachkräftemangel verzeichnen.

Auch die Frage, wie künftig im Rahmen des Arbeitszeitgeset zes Arbeitszeiten erfasst und welche neuen Modelle der Qua lifizierung erprobt werden, wird eine wichtige Rolle spielen.

Da erscheint es mir umso unverständlicher, meine sehr geehr ten Damen und Herren, wenn ein Thema wie die Digitalisie rung zukünftig im Innenministerium ressortiert. Denn aus meiner Sicht ist das Thema Digitalisierung bei allen Berüh rungen mit anderen Bereichen im Kern ein klassisches Wirt schaftsthema.

(Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Sehr geehrter Herr Kollege Reinhart, ich möchte Sie da – ein bisschen auch aus der Vergangenheit plaudernd – darauf hin weisen: Sie sprachen vorhin davon, dass ein eigenständiges Wirtschaftsministerium endlich wieder ein Schaufenster für die Wirtschaftspolitik in Baden-Württemberg sei. Dann müs sen Sie aber gut aufpassen, dass Ihnen hintenherum niemand den Laden ausgeräumt hat. Denn was im Bereich des Wirt schaftsministeriums zukünftig nicht mehr angesiedelt sein wird – dagegen hat sich Nils Schmid z. B. vehement gewehrt –, ist z. B. das Thema Ressourceneffizienzstrategie; die Zu ständigkeit dafür ist nämlich elegant ins Umweltministerium gekommen.

(Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Oder auch die Fragen der E-Mobilität: Die Zuständigkeit da für ist elegant ins Verkehrsministerium gekommen. Sie müs sen also aufpassen, Herr Kollege Reinhart, dass es Ihnen bei manchem nicht so geht wie anderen, nämlich dass Sie fest stellen, dass Sie zwar formal für ein Thema zuständig sind, dieses aber von anderen und woanders bearbeitet wird.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Sascha Binder SPD)

Herr Ministerpräsident, deswegen möchte ich an dieser Stel le sagen: Ich habe den Eindruck, dass es mit dem Begriff Di gitalisierung – wir finden dieses Wort im Koalitionsvertrag immerhin 181-mal – darum geht, ein gewisses Innovations defizit dieses Koalitionsvertrags und damit ein Modernitäts defizit dieser Koalition zu kaschieren.

(Beifall bei der SPD)

An einer Stelle bin ich auch besorgt. Sie sagen nämlich – ich zitiere Sie aus einem Interview der „Schwäbischen Zeitung“ –:

Wir hätten in Baden-Württemberg mit der CDU nicht die Gemeinschaftsschulen einführen können, das ging nur mit der SPD. Mit der Union als Wirtschaftspartei haben wir jetzt die Chance, die wirtschaftliche Modernisierung des Landes sehr viel stringenter anzugehen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, man muss auch zwi schen den Zeilen lesen. Wenn es so wäre, dass die SPD in der Vergangenheit einer wirtschaftlichen Modernisierung des Lan des im Wege gestanden hätte, dann könnte ich daraus auch ein bedenkliches Verständnis ableiten: dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Interessen, die wir, die SPD, in der Vergangenheit vehement vertreten haben, hier nur noch eine nachgeordnete Rolle spielen sollen.