Protokoll der Sitzung vom 08.03.2018

(Beifall bei der CDU und den Grünen sowie Abge ordneten der SPD und der FDP/DVP – Abg. Winfried Mack CDU: Bravo!)

Ich möchte zum Schluss kommen und zusammenfassen: Die Tafeln leisten gute und wertvolle Arbeit, sind aber kein Ersatz für den Sozialstaat. Die Tafeln stehen angesichts der Verän derungen der Kundenstruktur vor großen Herausforderungen, die sie kreativ meistern; dafür haben sie unser Vertrauen ver dient und nicht unsere Kritik.

Entscheidungen im Einzelfall können kritisch bewertet wer den. Wenn Sie aber hier zur Situation in Baden-Württemberg eine Diskussion anzetteln, um sich dann am Essener Beispiel abzuarbeiten, dann finde ich das, gelinde gesagt, schäbig.

Denn es verbietet sich, etwas, was man selbst nicht kennt, aus der Ferne zu beurteilen. Einfache Antworten auf schwierige Fragen sind, wie wir wissen, meist falsch.

(Abg. Anton Baron AfD: Sie haben völlig am Thema vorbeigeredet!)

In diesem Fall glaube ich, dass man auch dort eine Lösung finden wird.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen, der SPD und der FDP/DVP – Zuruf des Abg. An ton Baron AfD)

Deswegen schließe ich mit einem Dank an alle, die sich für die Menschen in unserem Land bei Tafeln engagieren. Sie ha ben unsere Unterstützung verdient und nicht unsere Kritik.

(Beifall bei der CDU, den Grünen und der SPD so wie Abgeordneten der FDP/DVP – Abg. Winfried Mack CDU: Bravo! – Zurufe von der CDU: Sehr gut! – Abg. Karl Zimmermann CDU: Das waren die kür zesten zehn Minuten einer Rede!)

Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort Herrn Abg. Kenner.

Frau Präsidentin, liebe Kolle ginnen und Kollegen! Man merkt, der Geist des Koalitions vertrags in Berlin weht bis zu uns nach Stuttgart. Man kann hierzu eigentlich gar nicht mehr viel sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Nicole Razavi CDU: Sehr gut!)

Die Kunst ist nun, vom eigenen Manuskript abzuweichen.

Ich beginne einmal mit einer Idee, auf die wohl die wenigs ten von uns gekommen wären: Einige von uns, und zwar aus allen Fraktionen, waren am Dienstag beim Abend der Begeg nung. Es war ein wunderbarer Tag; Referent war der Vorsit zende der Stiftung Weltethos, Eberhard Stilz. Er sprach von Schuld und Verantwortung; er sprach davon, dass wir, auch wenn wir keine Schuld tragen, trotzdem für Dinge verantwort lich sein können.

Was das Bemerkenswerte war – viele der Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen gehen ja auch immer zum Christlichen Frühstückskreis –: Am Schluss sprachen wir ge meinsam das Vaterunser. Das Vaterunser hat den Kernsatz: „Unser täglich Brot gib uns heute.“ Warum ist dies ein Kern satz? Das tägliche Brot ist nun einmal nicht selbstverständ lich, nicht in Deutschland – was eine Schande ist – und auch weltweit nicht. Egal, wo Menschen hungern, es ist ein Skan dal, wenn sie hungern.

Dass Menschen ihre Heimat verlassen, weil sie hungern, ist auch Teil der deutschen Geschichte. In unserer Heimatstadt, Kollegen Schwarz und Karl Zimmermann, gab es 1847 einen Hungeraufstand. Bürgerinnen und Bürger haben damals das Kornhaus überfallen und geplündert, weil sie nichts zu essen hatten. Hunderttausende von Württembergern sind nach Ame rika ausgewandert. Die Alb war ein Hungergebiet, und die El tern waren froh, wenn zwei, drei oder vier Kinder das Land verlassen haben; denn diese Kinder mussten sie dann nicht mehr ernähren.

Denken wir einmal 170 Jahre weiter: Wir haben das Jahr 2018, und nun sind hier Menschen angekommen, deren Eltern zu Hause ebenfalls froh sind, dass ihre Kinder hier bei uns leben und sie sie zu Hause nicht mehr ernähren müssen. – Das ist die Ausgangssituation.

Die ersten Tafeln, liebe Kolleginnen und Kollegen, gab es tat sächlich 1993. Damals waren die sogenannten Flüchtlinge, von denen Sie immer reden, zum Teil noch gar nicht geboren. Da gab es noch gar nicht die Idee.

(Glocke der Präsidentin)

Herr Abg. Kenner, lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn Abg. Räpple zu?

Ich habe schon gesehen, dass Herr Räpple sich gemeldet hat. Das mache ich heute nicht.

(Zurufe)

Die Idee der Tafeln – das können Sie alle nicht verleugnen – war nicht, Millionen von hungernden Menschen zu versorgen, sondern die Idee der Tafeln war, die verschwenderische Weg werfgesellschaft und deren Umgang mit Lebensmitteln zu be kämpfen. Meine Großmutter, Jahrgang 1912, die 13 Geschwis ter hatte, hat immer gesagt: „Solange woanders auf der Welt ein Mensch hungert, ist es eine Sünde, Essen wegzuwerfen.“ Und wir werfen in diesem Land Jahr für Jahr Millionen Ton nen von Essen weg! Die Tafeln haben hier angesetzt.

Die zweite Tafel in Baden-Württemberg gab es übrigens in Filderstadt-Bernhausen. Wer Filderstadt-Bernhausen kennt, weiß, dass dort keine Massenarmut herrscht. Vielmehr war die Idee: Wir retten Lebensmittel und verteilen diese an Men schen, die weniger verdienen. Natürlich kann man damit Le bensmittelausgaben sparen.

60 000 Ehrenamtliche – Sie haben es gesagt –, 1,5 Millionen direkte Kunden, fünf Millionen, die davon profitieren, das ist natürlich eine Erfolgsgeschichte. Dennoch sage ich – darüber muss man sich gar nicht streiten –: Jeder arme Mensch in Deutschland ist ein armer Mensch zu viel.

(Beifall bei der SPD und den Grünen sowie Abgeord neten der CDU, der AfD und der FDP/DVP)

Darüber müssen wir gar nicht diskutieren.

Herr Professor Selke hat die abenteuerliche Theorie aufge stellt, dass die Tafelläden Armut verhindern, weil die Regie rungen in Deutschland dann nicht gezwungen wären, Armut zu bekämpfen. Auf so eine Idee muss man erst mal kommen. Ich drehe das mal um – so würde Herr Professor Selke sa gen –: Machen wir morgen alle Tafelläden zu, dann gibt es keine Armen mehr.

So einfach ist die Welt halt nicht zu regeln. Wer Armut be kämpfen will – das ist Aufgabe der nächsten Regierung in Ber lin –, muss grundsätzliche Fragen beantworten: Wie hoch ist in Zukunft Hartz IV? Wie hoch ist in Zukunft der Mindest lohn?

(Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: So ist es!)

Wissenschaftler sagen: „Der Mindestlohn muss 12 € pro Stun de betragen, um armutssicher zu leben und eine auskömmli

che Rente zu bekommen.“ Jetzt liegt er bei 8,90 €, und es war schon ein Kampf, ihn überhaupt in Deutschland einzuführen.

Wer sagt, dass man keinen Mindestlohn braucht, muss mir nicht sagen, er möchte Armut bekämpfen.

(Beifall bei der SPD und den Grünen sowie Abgeord neten der CDU)

Das ist doch ein ganz großer Widerspruch.

Wir haben heute, Kollegin Lindlohr aus dem Nachbarwahl kreis, über den Frauentag gesprochen. Ich gehöre ja zu der Berufsgruppe, die die Kollegin Walker gestern angesprochen hat. Obwohl ich ein Mann bin, komme ich aus der Altenpfle ge. Wenn ich jetzt die Berufe – Erzieherin, Altenpflegerin, Po lizistin, Friseurin und Verkäuferin – aufzähle – oder auch Ser vicepersonal –: Das sind lauter Frauenberufe, von denen al lein man nicht leben kann. Das sind Berufe, in denen Men schen 45 Jahre lang arbeiten und danach von Altersarmut be droht sind. Solange wir das nicht angehen, brauchen wir hier nicht zu jammern. Da müssen wir ran, und dann brauchen wir auch keine Tafelläden, meine sehr verehrten Damen und Her ren.

(Beifall bei der SPD und den Grünen sowie Abgeord neten der CDU)

Wenn wir es als normal empfinden, dass eine angelernte Kraft in der Automobilindustrie mehr verdient als eine leitende Mit arbeiterin einer Intensivstation, kommen wir dort nicht wei ter. Die große Frage ist: Wir alle wollen einmal gepflegt wer den. Ich frage mich nur: von wem?

(Zuruf der Abg. Beate Böhlen GRÜNE)

Mein nächstes Thema ist Wohnen. Wohnen ist ein Grundrecht. Ich hatte gestern ein Kommunalwahlprogramm meiner Partei in der Hand. 1989 schrieb die SPD in Kirchheim: „Endlich Wohnungsmangel bekämpfen“.

(Abg. Rüdiger Klos AfD: Kommt mal irgendetwas zu der Sache?)

Jetzt haben wir noch mehr Wohnungssuchende als damals. Nur wer eine gute Wohnung hat – das gilt vor allem für Fa milien mit Kindern –, fühlt sich wohl, fühlt sich sicher und hat dann auch eine Heimat. Wenn ich keine Wohnung habe, habe ich auch keine Heimat – um diesen Heimatbegriff zu zi tieren.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grünen und der CDU)

Es ist übrigens der ganz große Widerspruch unserer Gesell schaft, dass es in diesen Jahren der CDU und der SPD nicht gelungen ist, die Armutslücke zu schließen. Aber auf der an deren Seite gibt es auch unglaublich viele Menschen, denen es gut geht. Deshalb beneiden uns ja auch die meisten Men schen in den anderen Ländern. Das darf trotzdem nicht zum Stillstand führen. Wenn ich „meine“ Senioren suche, sind sie entweder auf Reisen,

(Zuruf der Staatssekretärin Friedlinde Gurr-Hirsch)

weil die deutschen Senioren Reiseweltmeister sind, oder sie sitzen in den Cafés.

(Zurufe von der AfD)

Die gegenwärtige Rentnergeneration ist die mit am besten aus gestattete Rentnergeneration, die wir jemals hatten.

(Beifall der Staatssekretärin Friedlinde Gurr-Hirsch)

Dann gibt es wiederum 20 %, bei denen das nicht so ist. Um diese 20 % müssen wir uns kümmern.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grünen und der CDU)