Protokoll der Sitzung vom 11.12.2002

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die Situation an den Hauptschulen ist dramatisch. Sie ist vor allem an den Hauptschulen ohne M-Klassen dramatisch. Hier besteht absoluter Handlungsbedarf. Hier muss in kürzester Zeit Entscheidendes passieren, damit eine Reform durchgeführt wird und damit die Lehrkräfte nicht den Eindruck gewinnen, sie würden in einer ausblutenden Schulart unterrichten. Die Lehrer dürfen nicht den Eindruck gewinnen, dass sie gar nicht mehr die Möglichkeit haben, mit den Schülerinnen und Schülern, die sie noch haben, Sinnvolles zu tun und ihrem Auftrag gerecht zu werden. Für eine Lehrkraft ist es das Schlimmste, die Defizite ihrer Schülerinnen und Schüler sehen und feststellen zu müssen, dass sie gar nicht mehr weiterhelfen können. Daher mein dringender Appell: Nehmen Sie sich die Hauptschule ans Herz und versuchen Sie, hier noch einmal Entscheidendes zu tun, auch wenn das ein Kraftakt sein sollte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch am anderen Ende der Leistungsskala brauchen wir dringend Veränderungen. Die Abiturientenquote ist im internationalen Vergleich zu niedrig. Endlich sieht auch die CSU dieses Problem. Ich zitiere hier nochmals Ihren Fraktionsvorsitzenden – Zitat:

Wir müssen uns auch kritisch damit auseinandersetzen, dass laut Pisa-Studie 21% aller Gymnasiasten in Bayern das Klassenziel nicht erreichen. Gibt es zu wenig gezielte Förderung, werden Kinder zu schnell „nach unten“ durchgereicht, oder kommen zu viele für das Gymnasium nicht geeignete Kinder in diese Schulart?

Dann sagt Herr Glück weiter:

Hier müssen wir uns auch die Frage beantworten, ob wir vielleicht über einen Ausbau der Fachoberschule einen zweiten, mehr berufsbezogenen Bildungsweg mit Studienbefähigung anstreben müssen.

Die Opposition hat die zu geringe Abiturientenquote seit vielen Jahren angesprochen. Auch hier bin ich froh, dass Alois Glück jetzt auf unsere Linie eingeschwenkt ist.

Nun zu den Maßnahmen. Was muss getan werden? – Zu allererst einmal muss die Staatsregierung selbst umdenken. Die Frau Ministerin muss selbst umdenken. Für das Kultusministerium ist eine niedrige Abiturientenquote leider immer noch ein Markenzeichen bayerischer Gymnasien. Das hat zur Folge, dass die Gymnasien selber gnadenlos aussieben und sich keinerlei Gedanken darüber machen, ob nicht bei ihnen etwas falsch läuft, wenn so viele Kinder und Jugendliche scheitern. Für sich selbst aber nehmen die Gymnasien die niedrige Anzahl von Abiturienten als Prädikatszeichen in Anspruch. Hier muss die Spitze umdenken, und dann denken auch die Gymnasien um und überlegen sich vielleicht einmal, wie sie Kinder und Jugendliche zum Abitur führen und richtig fördern können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was die Eignung anbelangt: Da Alois Glück sagt, wir müssten uns überlegen, ob die Kinder denn geeignet seien, muss ich sagen: Es ist ja merkwürdig, dass alle Schularten bei uns klagen, sie hätten nicht die richtigen Kinder. Es gibt kaum eine Schulart, die sagt, sie hätte genau die richtigen Kinder. Auch das Gymnasium klagt, wie alle anderen Schularten auch, sie hätten nicht die richtigen Schülerinnen und Schüler. Merkwürdig ist aber, dass alle Schülerinnen und Schüler, die in das Gymnasium kommen, als für das Gymnasium geeignet eingestuft worden sind; entweder von den Grundschullehrkräften oder durch das eigene Aufnahmeverfahren.

Die Gymnasiallehrer versichern stets, die Gutachten, die die Grundschullehrkräfte erstellten, seien hervorragend; diese könnten die Schüler ganz toll einschätzen, kein Problem, daran müsse man nichts ändern. An ihrem eigenen Auswahlverfahren haben sie auch nichts auszusetzen, sonst könnten die Gymnasien das ja ändern. Das heißt, alle Kinder sind geeignet. Ich erwarte von den Gymnasien, dass sie die Schüler auch richtig fördern und zum Abitur bringen; 100% wird nicht gehen, das glaube ich nicht, aber 90% kann man sicherlich verlangen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Gymnasien müssen erst einmal von ihrer Haltung herunterkommen: Wenn du die Leistung nicht bringst, gehst du eben; letzteres ist keine pädagogische Haltung, sie bringt viel Leid über die Kinder und deren Eltern und ist auch volkswirtschaftlich schädlich.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Was den Vorschlag mit der Fachoberschule und dem berufsbezogenen Bildungsweg mit Studienbefähigung anbelangt, so empfehle ich Ihnen unseren Antrag, der fordert, beruflich Hochqualifizierte mit den Abiturienten und Abiturientinnen gleichzustellen und sie ohne Zusatzprüfung gleich in die Hochschulen zu lassen. Ich denke, das ist der richtige Weg, Frau Staatsministerin, um eben diese Ebenbürtigkeit, von der Sie gesprochen haben, zu erreichen. Das haben wir in Bayern in der Hand. Das können wir tun. Sie bemängeln, in den anderen Bundesländern würden die Leute alleine gelassen. Das müssen wir ja nicht tun. Sie haben den Eindruck, die anderen Bundesländer machen das falsch. Dann machen wir das an unseren Hochschulen eben besser! Wir werden erst dann eine Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung haben und Sie werden die berufliche Schiene erst dann zu einer wirklichen Alternative machen können, wenn am Ende ein gleichberechtigter Zugang zu den Hochschulen steht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir Chancengerechtigkeit schaffen wollen – das ist eines unserer großen Ziele, jedenfalls von grüner Seite –, dann müssen dafür genügend Haushaltsmittel eingesetzt werden. Auch hier lohnt ein Blick auf die Glück’sche Pressemitteilung. Er schreibt in der bereits zitierten Mitteilung: Mit dieser Aufgabe – damit ist der Abbau der unterschiedlichen Chancengerechtigkeit gemeint – eng verbunden sei die Konsequenz, dass Kinder mit Förderbedarf früher erkannt und gezielt unterstützt werden müssten. Im internationalen Vergleich geben wir viel für die oberen Jahrgänge und die weiterführenden Schulen aus, zu wenig für die Grundschule und für die gezielte Förderung schwächerer Kinder.

Ich würde Herrn Glück da gerne beim Wort nehmen, aber leider sind dies nur leere Worte gewesen, was ein Blick in den jetzigen Doppelhaushalt beweist. Sie erinnern sich: Zunächst sollte die Unterrichtspflicht der Realschullehrkräfte um eine Stunde erweitert werden. Dies wurde zurückgenommen; zu Recht, das sage ich hier ganz deutlich. Stattdessen wurde eine Reihe von Einzelmaßnahmen beschlossen, unter anderem Kürzung der Vergütungen der Aushilfslehrkräfte im Angestelltenverhältnis. Dieser Haushaltstitel diente explizit zur Entspannung der Unterrichtssituation. Alle Schularten – mit Ausnahme der Realschulen – müssen nun in diesem Bereich Kürzungen verkraften, auch die Volksschulen; diese sogar den größten Brocken. Von wegen gezielte Förderung der Grundschulen und der schwachen Kinder – das sage ich hier.

Meine Kollegin Emma Kellner hat das im Haushaltsausschuss sehr treffend charakterisiert. Sie sagte: Hier mussten die anderen Schularten ein Notopfer für die Realschulen bringen. Es wird auch in diesem Doppelhaushalt deutlich: Die sechsstufige Realschule zieht Kraft aus allen anderen Schulen und aus den Kommunen.

Herr Kollege Nöth hat bei der letzten Diskussion über die sechsstufige Realschule einen Appell an mich gerichtet, ich sollte den Kampf gegen die sechsstufige Realschule aufgeben, die Eltern wünschten diese Schulart, was der

enorme Zuspruch zeige; das hat ja auch die Frau Staatsministerin in ihrer Rede noch einmal deutlich gemacht. Der enorme Zuspruch ist doch selbstverständlich. Die Realschule war schon immer eine sehr beliebte Schulart, auch in der vierjährigen Form. Die Eltern, die für ihr Kind einen Realschulabschluss wünschen, können ihr Kind ja jetzt nur noch in die sechsstufige Realschule schicken, weil es die vierstufige nicht mehr gibt. Der enorme Zuspruch ist doch nur logisch, wenn es keine Alternative gibt. Außerdem, Herr Kollege Nöth, kämpfe ich nicht mehr gegen die sechsstufige Realschule; würde ich das tun, würde ich Initiativen ergreifen, diese rückgängig zu machen. Auf diesem Gebiet verkämpfe ich mich im Moment jedenfalls nicht mehr.

(Ach (CSU): Nachdem das Ergebnis feststeht, wäre es Unsinn, das zu machen!)

Aber ich mache immer wieder darauf aufmerksam, dass diese Entscheidung bildungspolitisch und finanzpolitisch falsch war.

(Ach (CSU): Aus Ihrer Sicht!)

Ich bin der festen Überzeugung, dass weder Staatsregierung noch CSU heute diese Reform umsetzen würden, wäre Pisa vor der Realschulreform durchgeführt und veröffentlicht worden. Durch Ihre Reisen in die skandinavischen Länder und nach Kanada müsste Ihnen doch klar geworden sein, dass die frühe Auslese für die individuelle Entwicklung der Schülerinnen und Schüler kontraproduktiv ist und Gift für die Leistungsfähigkeit und die Chancengerechtigkeit im gesamten bildungspolitischen System – über alle Schularten hinweg – ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die oben genannten Länder lassen die Schülerinnen und Schüler viel länger gemeinsam zur Schule gehen, was unter anderem zur Folge hat, dass die Lehrkräfte es gelernt haben, viel besser mit der Unterschiedlichkeit der Kinder und Jugendlichen umzugehen. Die skandinavischen Lehrkräfte zum Beispiel haben nicht die Möglichkeit, die Schülerinnen und Schüler in eine andere Schulart zu schicken; sie müssen mit der Unterschiedlichkeit und der Differenz umgehen. Das ist der Ansatz, den offensichtlich jetzt auch das Kultusministerium verfolgen will, das heißt, von der Unterschiedlichkeit auszugehen und mit der Differenz umzugehen. Aber das ist natürlich in unserem System mit unserer Haltung sehr, sehr schwierig.

Wir fragen immer, ob die Schülerinnen und Schüler für eine bestimmte Schulart geeignet sind oder nicht. Die Skandinavier dagegen fragen, wie eine geeignete Schule für die Kinder aussehen muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies ist ein vollkommen anderer Blickwinkel, und diesen Wechsel des Blickwinkels müssen wir schaffen, aber er ist in einem System, wo schon sehr, sehr früh entschieden werden muss, in welche Schulart das Kind gehen muss, schwer zu schaffen. Ich bin der festen Überzeugung, Sie hätten nie und nimmer das viele Geld für eine

Strukturreform eingesetzt, hätten Sie das mit Pisa alles gewusst und wären Sie damals schon in Skandinavien und Kanada gewesen. Sie hätten die innere Schulentwicklung in Richtung auf eine individuelle Förderung vorangetrieben, die Sie zwar jetzt propagieren, für die Sie aber leider nicht mehr genügend Geld haben.

Der Schulversuch MODUS 21 – das möchte ich an dieser Stelle auch sagen: ursprünglich eine grüne Idee, von uns eingebracht im letzten Doppelhaushalt – wird selbstverständlich von uns begrüßt, und die Ergebnisse werden mit Spannung erwartet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme auf die individuelle Entwicklung zurück, weil der Schlüssel für Chancengerechtigkeit die Förderung der individuellen Entwicklung ist. Hier muss es ein Gesamtkonzept vom Kindergarten über die Grundschule bis hin zu den weiterführenden Schulen geben. Bereits im Kindergarten muss für jedes Kind ein individueller Entwicklungsplan erstellt werden, der dann in die Grundschule weitergereicht wird. Ich kann, ehrlich gesagt, nicht verstehen, dass gegen ein solches Verfahren datenschutzrechtliche Bedenken bestehen. So wie die Schülerakten von Schule zu Schule weitergegeben werden, so kann man sie auch vom Kindergarten zur Schule weitergeben, vor allem dann, wenn der Kindergarten ausdrücklich als Bildungseinrichtung definiert wird.

Auch bei der Lehrerausbildung und bei der Lehrerweiterbildung muss nachgebessert werden; denn wenn die individuelle Entwicklung zum Ausgangspunkt des Lernens gemacht werden soll, dann müssen das die Lehrkräfte auch lernen, sonst bleibt das eine schöne Forderung und mehr nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch die Ganztagsschule leistet einen Beitrag zur Chancengerechtigkeit und zur individuellen Förderung. In der Ganztagsschule ist mehr Zeit, um moderne Unterrichtsformen zu praktizieren, Unterrichtsformen, die es ermöglichen, auf den einzelnen Schüler und die einzelne Schülerin einzugehen. Es hat allein finanzielle Gründe, dass die Staatsregierung das Konzept der Ganztagsbetreuung bevorzugt. Mit diesem Trick entlastet sie sich von Kosten und bürdet diesen den Kommunen auf. Die Staatsregierung hat sich nun, was die Konnexität anbelangt, mit den Kommunen geeinigt; wir begrüßen das außerordentlich. Ich bin gespannt, wie die Staatsregierung mit dem Problem der Ganztagsbetreuung umgehen wird; denn die kommunalen Spitzenverbände sind mit uns der Ansicht, Bildung sei Aufgabe des Staates.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Klebt die Staatsregierung jetzt aber auf das Produkt „Bildung“ das Etikett „Betreuung“, dann nutzt das den Kommunen trotz der Einigung beim Konnexitätsprinzip gar nichts. Die Staatsregierung betreibt dann hier genauso Etikettenschwindel wie bei der Schulsozialarbeit, die sie einfach in Jugendsozialarbeit an Schulen umbenennt und die Kommunen damit finanziell belastet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist auch dringend notwendig, dass die Staatsregierung bei den kommunalen Schulen ihre Haltung aufgibt. Der Staat muss hier die Personalkosten zu 100% übernehmen. Er muss zwar nicht für die Extras aufkommen, die manchen Kommunen ihren Lehrkräften gewähren, aber der staatliche Standard muss zu 100% übernommen werden. Die Vorgehensweise in München ist mir – so wie ich sie der Presse entnehme und wie Sie, Frau Staatsministerin, sie geschildert haben – unverständlich. Die Stadt München bildet also weniger Eingangsklassen bei den Realschulen. Das nehme ich als Fakt hin, ich werte es nicht.

Sie haben auch zu Recht gesagt, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht in kommunalen Schulen unterkommen, dann hat der Staat die Verpflichtung, etwas zu tun. Wir können die Schülerinnen und Schüler nicht auf der Straße stehen lassen. Darin bin ich mit Ihnen einer Meinung. Jetzt sagen Sie: Ich gründe einfach eine andere staatliche Schule. Die Konsequenz ist, dass die Stadt München ein neues Schulgebäude erstellen lassen muss. Das heißt – zucken Sie bitte nicht mit den Achseln –, hier müssen viele Millionen e für die Realschule investiert werden. Nun kann man natürlich sagen, für die Bauwirtschaft ist das prima. Wäre es aber insgesamt gesehen steuerlich denn nicht sinnvoller – den Bürgerinnen und Bürgern ist es gleichgültig, wer bezahlt – zu sagen: Wir übernehmen die Kosten für das Personal an den kommunalen Schulen, denn das ist die kostengünstige Variante; lassen wir den parteipolitischen Streit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich muss leider aufhören. Ich hätte noch sehr viel zu sagen. Leider ist aber meine Redezeit zu Ende.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Der nächste Redner ist Herr Kollege Schneider.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Haushalt 05 ist ein Beispiel der richtigen Prioritätensetzung in der bayerischen Politik. Für uns ist Bildung kein Thema, das erst seit Pisa entdeckt worden ist, sondern die Investitionen in die Bildung waren für uns stets Zukunftsinvestitionen.

(Beifall bei der CSU)

Wichtige Kennziffern und Daten zeigen, dass dieses Thema in Bayern wie in keinem anderen Land Deutschlands ernst genommen wird. Wenn Sie, Frau Schieder, von Mangelverwaltung sprechen, was müssten Sie dann erst in den Ländern sagen, in denen Ihre Partei die Verantwortung trägt, wenn Sie meinen, hier in Bayern gebe es eine Mangelverwaltung.

(Beifall bei der CSU – Zuruf der Frau Abgeordneten Marianne Schieder (SPD))