Was macht jetzt Ministerpräsident Stoiber? – Er sieht die Ursache in den faulen Schülerinnen und Schülern. Ich frage Sie: Wer hat denn die Hausaufgaben nicht gemacht? Ministerpräsident Stoiber war es doch, der den Schülerinnen und Schülern nicht die Rahmenbedingungen gab, die diese brauchen, um Spitzenleistungen zu bringen und um herkunftsbedingte Nachteile auszugleichen. Den FC Bayern München lässt er doch auch nicht auf einem Bolzplatz spielen. Den Schulen aber hat er das Wasser abgegraben – ich nenne nur die Kienbaum-Maßnahmen. Was er jetzt noch sagt, finde ich geradezu infam und schäbig: Die große Zahl türkischer Schüler sei ein Grund für das schlechte Abschneiden. Unter den Schwächsten unserer Gesellschaft wird ein Sündenbock gesucht. Das ist schäbig und infam.
Die Staatsregierung könnte etwas bewirken, wenn sie ihre ideologischen Scheuklappen und Vorurteile ablegen würde, zum Beispiel gegenüber der Ganztagsschule. Mit der Billigvariante Ganztagsbetreuung, die allerdings den Kommunen teuer zu stehen kommt, bekommt die Staatsregierung die Kinder und Jugendlichen vielleicht von der Straße weg – das ist aber zu wenig. Wir brauchen die Ganztagsschule, weil sie eine große pädagogische Chance bietet, die Qualität von Unterricht und Schule zu verbessern. Sie bietet hervorragende Gelegenheiten, pädagogische Konzepte anzuwenden, bei denen Wert auf Eigenständigkeit, die Entwicklung von Problemlösungskompetenzen und Kreativität gelegt wird. Dass dies kein Wunschdenken unsererseits ist, zeigt die Pisa-Studie deutlich auf.
Unterlassen Sie zumindest alles, was die Auslesesituation noch weiter verschärfen wird. Manchmal kann man ja direkt froh sein, wenn die Staatsregierung einmal nichts tut. Lassen Sie die Finger von den geplanten landesweiten Orientierungsarbeiten in der Grundschule. Wenn das kommt, passiert nämlich Folgendes: Für diese Tests wird gepaukt, und Eltern, die Geld haben, bezahlen Nachhilfe, damit die Kinder bei den Tests gut abschneiden, während Kinder aus bildungsfernen Familien, die sich keine Nachhilfe leisten können, wieder einmal in die Röhre schauen. Geben Sie stattdessen die Stunden zurück, die Sie den Schülerinnen und Schülern in den vergangenen Jahren weggenommen haben, und tun Sie etwas für lernschwache Kinder. Diese sind doppelt benachteiligt: vom Elternhaus, das häufig bildungsfern ist, und von der Schule, die diese Defizite nicht ausgleicht, sondern durch die frühe Auslese noch verschärft. Jede Schule muss vor Ort über die richtigen Fördermaßnahmen entscheiden. Die Schulen brauchen Finanzen, die sie selber eigenverantwortlich dafür einsetzen können, ohne irgendwelche Richtlinien von oben zu erhalten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, erkennen Sie als Schatz an unseren Schulen, was Sie bisher nur als Last empfunden haben: die Kinder von Migranten und Migrantinnen. Dort liegt ein großes Bildungspotenzial brach, vergleichbar mit den sprichwörtlichen katholischen Mädchen auf dem Land in den Sechzigerjahren. Reformieren Sie den muttersprachlichen Unterricht. Gestalten Sie ihn so, dass die Muttersprache gut gelernt wird. Mittlerweile wissen wir nämlich, dass das Beherrschen der Muttersprache wichtig ist, um eine Zweitsprache wirklich gut zu lernen. Bieten Sie den muttersprachlichen Unterricht nicht nur für Kinder aus den sogenannten Entsendestaaten an.
Zu guter Letzt: Unser Augenmerk muss vermehrt auf den Zeitraum vor der Schule gelenkt werden. Die Bedeutung des Kindergartens ist immens. Deshalb fordern wir ein verpflichtendes letztes Kindergartenjahr. Überlegungen müssen angestellt werden, wie die vorschulische Erziehung reformiert werden kann.
Meine Damen und Herren von der CSU, steigen Sie vom hohen Ross und legen Sie Ihre ideologischen Scheuklappen ab. Ziehen Sie die Konsequenzen aus der PisaStudie. Stellen Sie die notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung.
Ihrem Dringlichkeitsantrag können wir nicht zustimmen, und zwar schon allein aufgrund eines Satzes. Sie schreiben: „Gleichwohl bestätigen die vorliegenden Daten, dass der in Bayern eingeschlagene schulpolitische Weg richtig ist...“ Wir sind der Meinung: Der in Bayern eingeschlagene schulpolitische Weg ist und war nicht richtig.
Wir sind auch mit Ganztagsangeboten nicht zufrieden. Wir wollen Ganztagsschulen. Viele Ihrer Forderungen, die Sie gestellt haben, gehen uns nicht weit genug. Deshalb können wir nicht zustimmen.
Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Manches von dem, was ich gerade gehört habe, hat mich fast schon amüsiert. Frau Kollegin Münzel und Frau Kollegin Radermacher, ich kann dazu nur sagen: Wir sehen uns im Juli 2002 beim Ländervergleich wieder.
Auch die Tims-Studie war eine Studie der OECD und bezog sich auf die Mathematik und die Naturwissenschaften. Diese Studie hat gezeigt, dass das bayerische Schulwesen erheblich leistungsfähiger ist als das Schulwesen, für das Sie in den von Ihnen regierten Ländern lange Zeit die Verantwortung getragen haben und noch tragen. Ich möchte Ihnen jetzt etwas zu der Pisa-Studie und zur Tims-Studie sagen.
Herr Kollege Dr. Dürr, Sie sollten zunächst einmal zuhören und nicht immer reinschreien. Das gehört ebenfalls zu den Erziehungsdefiziten in unserer Gesellschaft. Um es klar zu sagen: Frau Kollegin Münzel, wenn Sie gerne eine Strukturdebatte haben wollen; können wir sie führen. Wir haben uns in der Kultusministerkonferenz zu Ihren Gunsten dafür entschieden, diese Debatte nicht zu führen, weil dies nicht zielführend wäre. Aus den Grafiken der Pisa-Studie geht jedoch hervor, dass die Gesamtschule in den rot-grün-regierten Ländern auf dem Niveau der Hauptschule Bayerns steht. In Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen wurde früher stets vonseiten der SPD behauptet, dass die Gesamtschulen mehr Chancen und Möglichkeiten böten. Diese Schulen stehen nach der Pisa-Studie weit unterhalb der Realschulen und noch viel weiter unterhalb der Gymnasien.
Sie haben mir vorgeworfen, ich würde keine Strukturdebatte führen. Ich antworte: Ich kann gerne wieder Strukturdebatten führen. Diese Debatten haben wir aber bereits seit den Siebzigerjahren geführt. Ich weiß, dass in manchen Ländern Entscheidungen getroffen wurden, die nicht mehr zu ändern sind. Wir sollten deshalb schwerpunktmäßig über Maßnahmen diskutieren, die auch in den SPD-regierten Ländern umgesetzt werden können. Darauf haben wir uns in der Kultusministerkonferenz verständigt.
Ich möchte jetzt einzelne Punkte herausgreifen. Zunächst zu den ausländischen Schülerinnen und Schülern: Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten die deutsche
Sprache zu wenig gefördert. Ich halte das für einen Witz. Ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen Sie von „Zwangsgermanisierung“, „Zwangsintegration“ und „Kulturvernichtung“ gesprochen haben, wenn wir ausländische Kinder und Jugendliche dazu zwingen würden, Deutsch zu lernen, falls ihre Eltern dies nicht wollten.
Frau Kollegin Radermacher, Ihre Aussage, wonach Förderkurse gestrichen worden seien, ist definitiv falsch. Wir haben Förderkurse ausgeweitet und nicht gestrichen.
Der Inhalt Ihrer Aussage war definitiv falsch. Die Bayerische Staatsregierung und die CSU-Landtagsfraktion haben jedes Jahr mehr Geld für Förderkurse für das Fach Deutsch für ausländische Kinder und Jugendliche zur Verfügung gestellt. Wir werden diese Förderkurse und das Konzept, das ursprünglich einmal deutschlandweit gegolten hat, umstellen. Wir werden künftig nicht mehr schwerpunktmäßig in Förderkurse investieren, sondern wollen mit diesem Geld erreichen, dass Kinder, die ohne Deutschkenntnisse oder nur mit geringen Deutschkenntnissen in die Regelschulen gehen, zunächst einmal Deutsch lernen. Erst dann sollten sie die Regelklassen besuchen. Dies wäre auch der Bildung dieser Kinder förderlicher.
Herr Kollege Irlinger, ich erinnere mich an Zeiten, in denen Sie diese Klassen noch als „Aussonderungsklassen“ und nicht als „Integrations- und Sprachlernförderungsklassen“ bezeichnet haben. Wir brauchen diese Klassenform. Wir können Jugendliche aus dem Ausland ohne Deutschkenntnisse nicht unmittelbar in Regelklassen geben, weil sie dort trotz größter Anstrengung der Lehrkräfte dem Unterricht nicht folgen könnten. Zunächst muss die deutsche Sprache gelernt und eine gewisse Sprachkompetenz im Deutschen erworben werden.
Frau Kollegin Radermacher, Sie haben gesagt, die Staatsregierung würde jetzt Eltern und Gesellschaft die Schuld an den Problemen geben.
Herr Kollege Dr. Dürr, hören Sie doch bitte einmal zu und plärren Sie nicht immer dazwischen. Frau Kollegin Radermacher, Sie haben behauptet, wir würden jetzt den Eltern die Schuld geben. Ich kann Ihnen dazu nur ganz nüchtern und trocken Folgendes sagen: In der OECD-Studie wurde festgestellt, dass die Disziplin der Schülerinnen und Schüler in Deutschland deutlich unterdurchschnittlich im Vergleich zu den übrigen Ländern der OECD ist. Ich möchte hinzufügen, in den Siebziger- und Achtzigerjahren waren Sie gegen jede Erziehung und gegen jede Wertorientierung. Sie waren für antiautoritäre Erziehung, für die Emanzipation der Kinder von den Eltern, und haben alle Institutionen in Frage gestellt. Sekundärtugenden haben Sie damals als Witz bezeichnet.
Wir brauchen Leistungsorientierung und Anstrengungsbereitschaft. Allerdings ist die Disziplin der Schüler in den Ländern, in denen Sie bereits Ganztagsschulen eingerichtet haben, auch nicht besser als in Bayern. Das bedeutet, ohne Eltern ist Disziplin nicht zu erreichen. Auch die Eltern müssen deshalb in die Pflicht genommen werden.
Ohne Eltern sind Kinder nicht zu erziehen. Die Schule und der Staat können diese Aufgabe nicht allein leisten.
Die Maßnahmen, die wir im Rahmen der inneren Schulentwicklung ergriffen haben, unterscheiden sich von den Maßnahmen, die Sie in den Siebziger- und Achtzigerjahren ergriffen haben. Sie haben damals nur über die Mitsprache diskutiert und über die Frage, wer wann wem etwas sagen darf. Außerdem haben Sie basisdemokratische Debatten bis zum Abwinken geführt. Uns geht es dagegen konkret um die Verantwortungsübernahme der Eltern, der Lehrer, und auch um die altersgemäße Verantwortungsübernahme der Schülerinnen und Schüler. Dies ist in einer modernen Gesellschaft notwendig.
Nun zur Qualität des Unterrichts: In der Pisa-Studie wurde festgestellt, dass wir mehr Leistungsorientierung an unseren Schulen brauchen. Sie wenden sich dagegen gleich wieder gegen Jahrgangsstufentests und Orientierungsarbeiten. Das ist einfach faszinierend. Orientierungsarbeiten haben nichts mit dem Übertritt zu tun. Bei den Orientierungsarbeiten in der zweiten und dritten Jahrgangsstufe geht es vielmehr um qualitative Standards im Unterricht. Das Lehrerkollegium soll durch diese Tests die Möglichkeit erhalten, die Stärken und Schwächen des Unterrichts sowie etwaige Probleme zu erkennen. Da die Orientierungsarbeiten nicht benotet werden, braucht kein Schüler dafür zu trainieren. Diese Arbeiten sind für den Übertritt nicht relevant. Ihre diesbezüglichen Aussagen sind deshalb fachlich falsch und unsinnig. Sie sollten aufhören, den Eltern Angst zu machen. Warten Sie ab, was die Eltern und Lehrkräfte unter Berücksichtigung fachlicher und pädagogischer Gesichtspunkte ausgearbeitet haben.
Frau Kollegin Münzel, in der Pisa-Studie hat die Autonomie eine eher negative Rolle gespielt. Autonome Schulen haben in der Pisa-Studie keine besseren Ergebnisse als hierarchisch strukturierte Schulsysteme aufgewiesen. Ich spreche hier nicht von den bayerischen Schulen, sondern von den Schulen in Japan, Korea usw. Gerade beim Vergleich mit Schweden müssen wir ganz deutlich auch die Fehler hervorheben, die dieses Land begangen hat. Schweden befindet sich bei dieser Studie
im oberen Viertel. Der Schwerpunkt der schulischen Förderung liegt dort aber ausschließlich auf den Fächern Schwedisch, Englisch und Mathematik. Fächer wie Musik, Kunst oder die Naturwissenschaften kommen dort deutlich zu kurz. In Schweden gibt es inzwischen zwei- bis dreijährige Vorbereitungskurse an den Universitäten. Das bedeutet: Die Ergebnisse dieser Studien sind nicht immer völlig vergleichbar oder bedürfen zum Teil einer gründlichen Analyse. Wir sollten aufhören, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen. Vielmehr müssen wir die Ergebnisse dieser Studie analysieren und prüfen.
Das von uns eingebrachte Vier-Punkte-Programm entsprach dem, was wir aufgrund der inneren Schulentwicklungen und aufgrund der Ergebnisse der Tims-Studie in den letzten Jahren initiiert haben. Wir haben vereinbart, dass die Kultusministerkonferenz klarstellt, dass wir nicht erst seit dem Vorliegen der Pisa-Studie handeln, sondern bereits in den vergangenen Jahren, seit dem Vorliegen der Tims-Studie, gehandelt haben. Wir beginnen in Bayern nicht bei Adam und Eva. Die rot-grünregierten Länder müssten geeignete Maßnahmen ergreifen, da dort der fachliche Standard erheblich niedriger als in Bayern ist.
Ich glaube, dass wir uns mit der Qualitätsverbesserung des Unterrichts leichter tun werden als rot-grün regierte Bundesländer, weil wir ein fachlich hohes Niveau haben und nur eine bessere Methodenkompetenz unserer Lehrkräfte erreichen müssen. Wer aber das fachliche Niveau und die Methoden gleichzeitig verändern muss, hat einiges aufzuholen. Das ist im Freistaat Bayern schlicht und einfach nicht notwendig.
Dann kommt das Thema Ganztagsschule. Meine Güte, da kommen die alten Schablonen aus den Siebzigerjahren wieder! Wir haben schon in den Siebzigerjahren gehört, dass die Ganztagsschule die bessere Schule ist. Das gibt die Pisa-Studie nicht her, weil in diese Studie Ganztagsschulen sowohl im oberen Feld als auch ganz im unteren Feld stehen. Es kommt darauf an, was im Unterricht stattfindet, unabhängig davon, ob der ganztags oder halbtags erteilt wird.
Wir werden allerdings aus sozialen Gründen – im Interesse der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – und aus Gründen der sozialen Prävention Ganztagsangebote machen. Den letzten Unsinn möchte ich noch ausräumen; das Thema Selektion wird ja immer so schön gespielt. Die Pisa-Studie hat die Möglichkeiten unseres beruflichen Schulwesens für Hauptschüler und Realschüler überhaupt nicht analysiert und auch nicht berücksichtigt. Deshalb können Sie diese Argumente für die Pisa-Studie auch nicht in Anspruch nehmen.
(Beifall bei der CSU – Frau Christine Stahl (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn das der ganze Beitrag zur Pisa-Studie war!)