Deswegen müssen wir erkennen: Die zunehmende Gewaltbereitschaft ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Sie ist ein massives Krankheitszeichen unserer Gesellschaft. Das heißt konkret: Das ist das Ergebnis einer Welt, wie wir Erwachsene sie prägen. Wir Erwachsene prägen mit unserer Lebensart, mit unseren Maßstäben eine Welt, die so viel Not für Kinder auslöst; denn die Aggressivität ist in hohem Maße Ausdruck von Not. Am aggressivsten werden diejenigen, deren Selbstwertgefühl nicht stabil genug ist, die Frustrationen nicht mehr ertragen können, die bei jeder Enttäuschung mit sich selbst oft nicht mehr fertig werden, nicht zuletzt deswegen, weil sie dafür häufig keine Ansprechpartner haben.
Mir scheint, wir sind sensibel geworden gegenüber Anwendung körperlicher Gewalt, aber anscheinend immer mehr abgestumpft gegenüber den Verletzungen durch seelische Gewalt, die unsere Welt massiv gegenüber Kindern auslöst. Ich glaube, wir werden diese verhängnisvolle Entwicklung nur umkehren können, wenn wir in der Lage sind, radikal umzudenken, Lebensstile und Leitbilder, die unser Zusammenleben und die Wertehierarchie in unserer Gesellschaft prägen, in Frage zu stellen. Eine einseitig orientierte Leistungsgesellschaft ist ebenso wenig kindgerecht wie eine einseitig orientierte Spaßgesellschaft. Radikal umstellen heißt in meinen Augen, in allen Lebensbereichen, die für Kinder wichtig sind, vom Kind her denken zu lernen, nicht die Interessenslage der Erwachsenen zum Maßstab zu machen. Ich plädiere sehr dafür, unsere eigenen familienpolitischen und schulpolitischen Diskussionen auch daraufhin einmal zu überdenken.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in der familienpolitischen Diskussion höre ich zum Beispiel, jedenfalls in der öffentlichen Debatte, kaum die Fragestellung: Was brauchen Kinder für ihre Entwicklung? Wir führen die familienpolitische Diskussion primär aus der Interessenslage der Erwachsenen heraus, natürlich in besonderer Weise der Eltern. Wir diskutieren zum Beispiel auch kaum darüber, wie wir die Erziehungskraft der Eltern stärken können, obwohl das insgesamt ein ganz entscheidender Punkt ist.
Wir suchen vielleicht zu häufig das Heil nur noch in Institutionen. Wir wagen es kaum mehr, neben Elternrechten auch von Elternpflichten zu sprechen. Professor Struck sagte in dem erwähnten Interview – ich zitiere –:
Eltern haben bis zum Ende des dritten Lebensjahres außerordentlich großen Einfluss. 70% der Persönlichkeitsentwicklung fallen in diese Zeit der ersten drei Lebensjahre, weitere 10% bis zum zehnten, die restlichen bis zum dreizehnten Lebensjahr. Jugendliche ab 14 kann man nicht mehr direkt erziehen, aber auch dann können die Eltern dafür sorgen, dass der Umgang stimmt.
Ich halte es für absurd, beinahe möchte ich sagen, für skandalös, dass gerade vor dem Hintergrund dieser Sorgen, die uns umtreiben, beispielsweise an diesem Wochenende die Delegiertenversammlung des Katholischen Frauenbundes Deutschland das Familiengeld ablehnt, weil dies nicht der richtige Weg zur Wahrung – ich zitiere – „einer frauenorientierten Chancengleichheit“ sei. Es kann nicht richtig sein, Familienpolitik darauf zu verkürzen. Das ist ein Aspekt, der mit zu integrieren ist.
Wo ist in diesen Debatten davon die Rede, was Kinder brauchen? Ich halte es im Übrigen für eine unmögliche Bevormundung von Frauen zu sagen, sie seien ihrerseits nicht klug genug, in Wahlfreiheit die richtige Entscheidung zu treffen; wir müssen mit staatlichen Maßnahmen dafür sorgen, dass das geschieht, was wir für richtig halten. Auf derselben Ebene liegt die Äußerung einer Sprecherin der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, die im Hinblick auf Familienpolitik und im Hinblick auf das Familiengeld sagte, es sei zu befürchten, dass das Familiengeld dazu führe, dass eingearbeitete Frauen zum Ausstieg aus dem Berufsleben verleitet würden. Meine Damen und Herren, es wäre absurd, wenn zum Maßstab unserer Familienpolitik würde, dass sie in erster Linie Arbeitskräftepolitik sein muss.
Wir müssen der einzelnen Frau Wahlfreiheit ermöglichen. Wer so einseitig argumentiert, von dem möchte ich auch keine Betroffenheitsrituale über verhängnisvolle Entwicklungen bei unseren Kindern mehr hören.
Im Zusammenhang mit der schulpolitischen Diskussion, die wir gerade auch aufgrund der Pisa-Studie führen, werden wir noch konsequenter fragen müssen, ob die Schulen kindgerecht sind.
Auch unsere schulpolitische Diskussion ist – ehrlich betrachtet – weithin eine Lobby-Diskussion der Lehrerverbände, die für ihre Mitglieder primär Gewerkschaften sind. Allerdings ist sie auch eine Lobby-Diskussion bezüglich der Interessenlagen der Eltern. In der schulpolitischen Diskussion fragen wir kaum, was Kinder aus entwicklungspsychologischer Sicht in ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe brauchen. Neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung werden häufig nicht bei der Entwicklung von Lehrplänen berücksichtigt. Meine Damen und Herren, „kindgerecht“ und „familiengerecht“ – diese Maßstäbe müssen wir in unser Denken integrieren. Erst dann werden wir einen Durchbruch für eine kinder- und familiengerechtere Welt erreichen. Dann werden auch die Erziehung, die Erziehungsarbeit, die familiäre Erziehung und die erzieherischen Berufe in unserer Gesellschaft den nötigen Stellenwert erhalten.
Das Krankheitszeichen „Gewalt“ können wir nicht dadurch überwinden, dass wir Symptome bekämpfen, dass wir also im übertragenen Sinne Medikamente geben. Das ist in der aktuellen Situation sicherlich auch notwendig. Wir müssen aber vielmehr offen und umfassend die Ursachen aufdecken, um ihnen mit veränderten Maßstäben und gegebenenfalls mit veränderten Lebensstilen in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir immer weiter vom Reparaturbedarf der modernen Gesellschaft aufgesogen. Dann werden wir uns in einem immer kürzeren Rhythmus mit Entwicklungen, die uns erschrecken, auseinander setzen müssen.
Meine Damen und Herren, im Kern geht es um die Frage, inwieweit unser Zusammenleben vom Respekt voreinander geprägt ist und wie wir den Respekt voreinander verstärken können. Als die CSU vor fast vier Jahren mit der Diskussion über eine neue Sozial- und Bürgerkultur begann, wurde immer gesagt, dass ein zentrales Thema der Respekt voreinander sei; denn wo es Respekt voreinander gebe, gebe es keine Gewalt. Wo Respekt voreinander herrscht, gibt es Rücksichtnahme. Im Rahmen dieser Diskussionen hat mir eine Pädagogin gesagt, dass es – im positiven Sinne – unvorstellbar sei, was sich an unseren Schulen ändern würde, wenn die Kinder untereinander, die Kinder gegenüber den Lehrkräften und die Lehrkräfte gegenüber den Kindern wieder mehr Respekt voreinander hätten. Deshalb müssen wir den Respekt voreinander als zentralen Maßstab für alle Lebensbereiche ansetzen. Wir müssen uns darum bemühen, auch wenn wir diesen Anspruch selbst immer wieder verletzen sollten. Anders werden wir diese Probleme nicht in den Griff bekommen.
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Land hat mit großer Trauer und Betroffenheit auf die schrecklichen Ereignisse reagiert, die sich Ende April in Erfurt zugetragen haben. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer, den Schülerinnen und Schülern, den Lehrern und den Eltern des Gutenberg-Gymnasiums in Thüringen. Für uns alle war es wohl kaum vorstellbar, dass es zu einem solch bestürzenden Vorfall kommen konnte, der uns nachdenklich machen muss und eher zu Fragen als zu vorschnellen Antworten Anlass gibt. Ich möchte ausdrücklich auch die Eltern des Täters Robert Steinhäuser in unser Mitgefühl einbeziehen. Diese Eltern haben eine Lebenskatastrophe erlitten. Man fragt sich, wie diese Eltern das, was vorgefallen ist, jemals verstehen sollen. Welche Vorwürfe werden sie sich machen? Sind sie wirklich schlechtere Eltern gewesen, als wir selbst es sind?
Wenn wir uns diesen Fragen öffnen und bereit zum Nachdenken sind, können wir über die Trauer hinausfinden. Dann können wir überlegen, was wir tun müssen, um zumindest zu versuchen, solche Taten künftig zu vermeiden und die Gewaltbereitschaft insgesamt einzudämmen. Vorschnelle Antworten sind dabei sicherlich nicht immer die besten. Unpassend, ja unerträglich habe ich aus diesem Grunde die erste Reaktion aus Bayern empfunden, nämlich den Versuch des bayerischen Innenministers, der Bundesregierung wegen angeblicher Untätigkeit bei der Neuordnung des Jugendschutzes eine Mitverantwortung für die Tat zuzuschieben. Einige Tage des Nachdenkens wären sicher hilfreicher und angemessener gewesen. Sie haben jedoch sofort versucht, parteipolitischen Honig aus den Vorgängen zu ziehen.
Sehr schnell hat sich herausgestellt, dass diese Vorwürfe falsch waren und wider besseren Wissens erhoben wurden. Ich halte mich lieber an die Mahnung des Bundespräsidenten, unsere Ratlosigkeit nicht mit scheinbar naheliegenden Erklärungen zu überspielen. Gestehen wir uns ruhig ein, dass wir eine solche Tat nicht verstehen und nie vollständig erklären können.
Für die Frage, wie zukünftig eine solche Explosion von Gewalttätigkeit vermieden werden kann, wird wohl niemand ein fertiges Lösungskonzept vorlegen können. Auch ich verfüge natürlich nicht über ein solches Konzept, möchte aber trotzdem einige Gedanken zum Thema vortragen:
Erstens. Ich halte es für falsch, die Diskussion auf Kinder und Jugendliche und deren Gewaltbereitschaft zu beschränken.
Das Thema „Gewalt“ hat vor allem mit uns Erwachsenen zu tun. Die Erwachsenenwelt liefert Kindern und Jugendlichen das gesellschaftliche, soziale und kulturelle Umfeld, in dem sie leben und aufwachsen. Mit Recht hat Bundespräsident Rau die Frage gestellt, warum mit der Darstellung von Gewalt und menschlichem Leid in den
Medien die höchsten Einschaltquoten erzielt werden können. Bundespräsident Rau hat aber auch mit Recht gefragt, warum Helden in so vielen Filmen eiskalt, unbeirrt und ohne Mitleid sein müssen. Allzu oft wird von den Jugendlichen zur Kenntnis genommen, dass Erwachsene Gewalt als probates Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele erfolgreich anwenden. Herr Kollege Glück, Sie haben in diesem Zusammenhang mit Recht auf Zeichentrickfilme hingewiesen, die wir Erwachsene den Jugendlichen zum Amüsement anbieten. Prof. Dr. Zöpfl ist für seine Analyse dieser Zeichentrickfilme oft belächelt worden. Ich glaube aber, dass er Recht hat: Was dort als witzig angeboten wird, ist in Wahrheit die brutalste Darstellung sinnloser Gewaltanwendung. Das ist überhaupt nicht witzig. Das ist gesellschaftlich zu ächten.
Meine Damen und Herren, nach unserer Auffassung beginnt der Kampf gegen die Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen in der Welt der Erwachsenen. Wir geben die Rollenbilder und die Vorbilder vor. Hier beginnt unsere Aufgabe. Im Übrigen warne ich davor, nur schwarz zu malen.
In aller Regel sind unsere Jugendlichen sorgfältig und anständig. Eine pauschale Jugendkritik wäre nicht nur ungerecht, sondern absolut widersinnig.
Deshalb habe ich gewisse Bedenken gegen eine Passage in Ihner ansonsten durchaus auch mit unseren Vorstellungen weitgehend übereinstimmenden Entschließung, nämlich gegen die Passage, dass schon die Verunreinigung zum Beispiel öffentlicher Verkehrsmittel, Graffiti, Sprayer und Ähnliches in diesem Zusammenhang zu sehen sind. Ich glaube, das ist zu weit hergeholt.
Ich halte es einfach für unangemessen, dass man einen Amoklauf mit 18 Todesopfern im Erklärungsversuch in einen Zusammenhang rückt mit solchen – ich denke, bei Jugendlichen – durchaus immer wieder vorkommenden Vorfällen und Ereignissen. Wir müssen uns davor hüten, Dinge in einen Topf zu werfen, die einfach nicht zusammengehören.
Zweitens. Es fällt auf, dass alle Amokläufer – in Erfurt und in vergleichbaren anderen Fällen – junge Männer gewesen sind. Mir ist nicht bekannt, dass jemals eine junge Frau einen Anschlag in ähnlicher Weise verübt hätte. In der Altersgruppe des Erfurter Täters liegt die Quote der Männer, die wegen Gewalttaten registriert worden sind, im Jahr 2000 um das 12,5-fache über jener der Frauen. Diese männlichen Amokläufer sind meist isolierte Einzelgänger, vertrauen sich kaum anderen Menschen an, sind im Kern ichschwach und unsicher; Niederlagen und Kränkungen können sie nur schwer verkraften. Im Alltag erleben sie sich als ohnmächtig; die
Diese jungen Gewalttäter folgen einem männlichen Rollenbild, wie es in der öffentlichen Darstellung leider nur zu oft suggeriert wird nach dem Motto: Männer schießen lieber, anstatt zu reden; zumindest reden sie nicht über ihre Gefühle.
Nach wie vor werden zu oft Jungen dazu angehalten, Tränen herunterzuschlucken, Gefühle zu unterdrücken und nach außen in jedem Fall cool aufzutreten. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit haben ein Problem mit einer männerorientierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und den ihnen dargebotenen männlichen Rollenbildern.
Lassen Sie uns also lieber darüber nachdenken, wie es uns gelingen kann, Mädchen und Jungen in ihren jeweils spezifischen Sozialisationsproblemen dabei zu helfen, Ichstärke zu entwickeln, statt überkommenen Rollenbildern nachzueifern.
Drittens. Amokläufer sind in der Regel Einzelgänger und Einzeltäter. Sie sind oft – wie beim Vorfall in Erfurt – besonders ruhig und unauffällig. In der Schule fallen sie nicht auf; weil sie ruhig sind, werden sie nicht beachtet. In diesem Fall kommt offenbar ein Weiteres hinzu: Der Täter war von der Schule verwiesen und nicht zum Abitur zugelassen worden. Das hat er als eine Demütigung empfunden, aus der er keinen Ausweg sah und für die er sich brutal rächen wollte. Dies soll keinesfalls als Erklärung oder gar als Entschuldigung für eine solche Tat dienen, aber wir müssen es gleichwohl zur Kenntnis nehmen.
Deshalb müssen wir bei unseren Überlegungen auch einen Blick auf die Lebenswelt unserer Kinder in unseren Schulen werfen. Wir müssen den Kanon unserer Bildungsziele erweitern. Zu der Vermittlung von Wissen und Kompetenz müssen als Bildungsziele der Abscheu vor und die Abwehr von Unmenschlichkeit treten, die Wahrnehmung von Glück, die Fähigkeit und der Wille, sich zu verständigen, und die Bereitschaft zu Selbstverantwortung und Verantwortung in der Gesellschaft. Selbstverständlich muss eine Schule auf Leistung orientiert sein und Leistung auch bewerten, aber Konkurrenz, Leistung und Wettbewerb dürfen nicht so verstanden werden, dass daraus Angst vor Versagen, Leistungsdruck und Vereinsamung werden. Alte sozialdemokratische Bildungsideale wie „Fördern statt Auslesen“ und „Integrieren statt Ausgrenzen“ müssen wieder an Bedeutung gewinnen.
Dabei ist die Schule so umzugestalten, dass sie für alle Beteiligten lebenswerter wird; denn nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer arbeiten derzeit in einem Sys
tem, in dem sie sich häufig unzufrieden fühlen und in dem sie die frustrierende Erfahrung der Vergeblichkeit ihrer Anstrengung machen. Das sollte nicht so bleiben.
Besonders interessant finde ich den Hinweis des Leiters der Bayerischen Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen. Er betrachtet es als sehr heikel, dass Problemschüler zu leicht von unseren Schulen abgeschoben werden. Bislang würden – so seine Meinung – Problemfälle zu oft mit Schulverweisen oder der Ankündigung, ihre Versetzung sei bedroht, alleine gelassen. Wir müssen, so fordert er, die Angebote ausbauen, um Schüler in derartigen Situationen weiter zu betreuen. – Ich finde, wir sollten dem Leiter der Bayerischen Akademie für Lehrerfortbildung folgen.
Viertens. Bei der Pisa-Studie haben vor allem Leistungsvergleiche eine Rolle gespielt. Über ein anderes Schulverständnis ist zu wenig nachgedacht worden. Wir waren selbst in Finnland, um vor Ort zu sehen, warum dieses Land so gute Ergebnisse bei der Studie erhalten hat. Ein Unterschied zu unserem Bildungssystem fällt dabei sofort ins Auge, nämlich der, dass man grundsätzlich kein einziges Kind aufgibt. Der Präsident des Finnischen Zentralamtes für Unterrichtswesen sagt: Wir brauchen in unserem Land jeden, hoffnungslose Fälle können wir uns nicht leisten. Ich würde mir wünschen, dass wir das in Deutschland auch so sehen würden.