Protokoll der Sitzung vom 29.06.2004

Noch eines: Auch das Thema möglicher Unfall wird in dieser Statistik bewertet. Unter der Spalte „mögliche Unfallgefährdung für Mensch und Leben“ steht die Summe: 50 000 Menschen. Ich bitte Sie, doch noch einmal darüber nachzudenken.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich habe keine weitere Wortmeldung vorliegen. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.

Ich rufe auf:

Tagesordnungspunkt 2 a Gesetzentwurf der Abgeordneten Margarete Bause, Dr. Sepp Dürr, Ulrike Gote und anderer und Fraktion (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (Drucksa- che 15/1072) – Erste Lesung –

Der Gesetzentwurf wird vonseiten der Antragsteller begründet. Die Modalitäten für Erste Lesungen sind bekannt: Die Redezeit zur Begründung beträgt zehn Minuten, daran anschließend hat jede Fraktion fünf Minuten Redezeit. Das Wort hat Frau Kollegin Stahl.

Herr Präsident, meine Herren und Damen! Es ist doch immer wieder gut, wenn man hier schön brav sitzen bleibt, denn im Ablauf der Tagesordnung kann sich vieles sehr plötzlich ändern.

Mit Urteil vom 3. März 2004 hat das Bundesverfassungsgericht den repressiven Einsatz technischer Mittel in Wohnungen strengeren Regeln unterworfen. Wer auf die Wohnraumüberwachung – wohlgemerkt als Ultima Ratio – zurückgreifen will, muss diese Einschränkungen auch beachten. Die Grund- und Leitsätze, die das Verfassungsgericht aufgestellt hat, sind auch auf diejenigen Gesetze anwendbar, die der Gefahrenabwehr zuzurechnen sind, also auch auf die Regelungen zur präventiven Wohnraumüberwachung im Bayerischen Polizeiaufgabengesetz und im Bayerischen Verfassungss chutzgesetz.

Das Bundesverfassungsgericht argumentiert in seiner Entscheidung mit der nach Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz verbürgten Menschenwürde, die den Kernbereich privater Lebensgestaltung schützt. Eine Abwägung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips, etwa im Hinblick auf das Interesse an einer effektiven Strafverfolgung, darf danach explizit nicht mehr stattfinden – auf deutsch: der Zweck, das Ziel heiligt nicht die Mittel.

Da die Grundrechte – das mag den einen oder anderen verwundern – auch in Bayern Gültigkeit besitzen, haben wir für den Gefahrenabwehrbereich entsprechende Gesetzesänderungen vorgesehen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich will nicht verhehlen, dass wir GRÜNEN uns ein ganz anderes Polizeirecht vorstellen können. Wir haben uns aber auf den realistischen Weg begeben und sehen realisierbare Veränderungen vor und befinden uns in bester Gesellschaft mit dem Verfassungsgericht.

Wir wollen den Einsatz technischer Mittel in und aus Wohnungen nur zulassen, wenn erstens eine konkrete Gefahrenlage vorliegt, die örtlich und zeitlich bestimmbar ist. Eigentlich sollte diese Ausgangslage für Einsätze nach dem Polizeirecht Usus sein, sie ist es aber nicht. Stattdessen erleben wir immer öfter, dass bereits vor einer abstrakten Gefahrenlage der Polizei Befugnisse erteilt werden, also auch dann, wenn keineswegs eine sichere Gefahrenlage gegeben ist.

Zweitens darf der Einsatz technischer Mittel nur erfolgen, wenn hochrangige Rechtsgüter gefährdet sind, also Leben oder Gesundheit einer Person oder die Sicherheit des Bundes oder des Landes.

Gemäß dem Verfassungsgerichtsurteil schließen wir drittens die Abhörung von Gesprächen zwischen Familienangehörigen und Berufsgeheimnisträgern aus.

Viertens stärken wir die richterliche Kontrolle und verkürzen die Höchstdauer einer Maßnahme auch im Wiederholungsfall von drei Monaten auf einen Monat. Der Straftatenkatalog des Artikels 30 Absatz 5 hat insoweit keine Bedeutung mehr, als ausschließlich auf konkrete Gefahren für Leben und Gesundheit von Personen abgestellt wird. Der Einsatz technischer Mittel bereits bei Vergehen oder dann, wenn es um den Erhalt von Sachen geht – das ist auch so eine nette Geschichte im Polizeiaufgabengesetz –, wird also ausgeschlossen.

Zu überlegen wäre durchaus noch, ob man nicht etwa die Benachrichtigung der Betroffenen über Maßnahmen nach Abschluss dieser Maßnahmen aufnimmt. Wir wollten nicht so sehr ins Detail gehen; das ist aber sicher auch noch ein Punkt.

Meine Herren und Damen, ich bin überzeugt davon, dass unser Gesetzentwurf dem entspricht, was das

Verfassungsgericht für geboten hält und in Leitsätzen niedergelegt hat. Grundsätze wie die unantastbare Menschenwürde und Grundrechte wie die Unverletzlichkeit der Wohnung sind keine politisch-ideologische

Dispositionsmasse.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir als Politiker haben versucht, Balance zu halten zwischen dem, was sich die Polizei natürlich an Möglichkeiten wünscht, und dem, was zum Schutz von Bürgerinnen vor Zugriffen notwendig ist.

Bei präventiven Maßnahmen zur Abwehr von abstrakten Gefahren, mehr noch bei Eingriffen des

Verfassungsschutzes ist der Satz „Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten“, – von Ihrer Seite häufig wiederholt-, wenig problembewusst. Angesichts der Erosion von Grundrechten geht es vielmehr darum, denjenigen, die sich auf Grundrechte berufen wollen oder müssen, auch einen effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Wir freuen uns auf die Debatte.

(Beifall bei den GRÜNEN und der Abgeordneten Johanna Werner-Muggendorfer (SPD))

Nächste Wortmeldung: Herr Kollege Kreidl.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Hintergrund für diesen Gesetzentwurf der GRÜNEN ist bekanntermaßen das Urteil des Bundesverfa ssungsgerichts vom März dieses Jahres. Mit diesem Urteil wurden mehrere Regelungen der Strafprozessordnung wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz für verfassungswidrig erklärt. Nach Auffassung des Gerichts gestattet Artikel 13 Absatz 3 des Grundgesetzes eine Überwachung nur zur Ermittlung besonders schwerer Straftaten.

Der vorliegende Gesetzentwurf überträgt jedoch teilweise das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur

Strafverfolgung ungefiltert auf die präventive

Gefahrenabwehr. Er geht zum einen über die vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Erfordernisse hinaus, ohne dass dafür eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit besteht, und bleibt zum anderen in wesentlichen Teilen hinter den Vorgaben des Hohen Gerichts zurück.

Lassen Sie mich zuerst die Punkte darlegen, in denen der Gesetzentwurf über die aufgezeigten Erfordernisse hinausgeht.

Folgende Einschränkungen behindern eine effektive Gefahrenabwehr und sind in der Polizeipraxis hinderlich: Der Wegfall einer Gefahr für die Freiheit einer Person und für Sachen als Anlass der Maßnahme macht unter anderem das Abhören in Entführungsfällen unmöglich. Die fehlende Anknüpfung an typische Straftaten aus dem Bereich der organisierten Kriminalität und des internationalen Terrorismus als Anlass für eine Überwachungsmaßnahme behindert die Vorfeldaufklärung.

Schließlich geht der Gesetzentwurf auch über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinaus, indem das Abhörverbot selbst bei Verursachung von Gefahren für Leben und Gesundheit durch Berufsgeheimnisträger bzw. durch das Zusammenwirken von Familienangehörigen eine Abwehr von Gefahren durch diesen Personenkreis unmöglich macht. Er geht auch noch in einem weiteren Punkt über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinaus, denn selbst bei einer Geiselnahme durch ein Familienmitglied würde ein Abhörverbot bestehen, da Gespräche zwischen Familienangehörigen abgehört würden, ungeachtet des Umstandes, dass der Kernbereich privater Lebensgestaltung in dieser Fallgruppe nicht betroffen sein kann.

Lassen Sie mich nun einige Punkte anführen, bei denen der Gesetzentwurf hinter den Vorgaben des Bundesverfas sungsgerichts zurückbleibt. Das gilt insbesondere für folgende Bereiche: Zum einen fehlt eine

Subsidiaritätsklausel. Die Wohnraumüberwachung ist nach dem Gesetzentwurf nicht Ultima Ratio, also die letzte Möglichkeit der polizeilichen Maßnahmen, obwohl sie nach Auffassung des Gerichts den schwersten Eingriff darstellt. Zum anderen bestehen Abhörverbote nur für Gespräche mit Familienangehörigen und Berufs

geheimnisträgern, nicht aber für solche mit anderen engsten Vertrauten. Schließlich fehlt eine Kenn

zeichnungspflicht für Daten, die aus der

Wohnraumüberwachung gewonnen werden, und auch Daten unvermeidbar betroffener Dritter, die für eine gerichtliche Überprüfung benötigt werden, müssen unverzüglich gelöscht werden, obwohl das Bundes

verfassungsgericht vor dem Hintergrund des Rechtsschutzgebots eine Sperrung für erforderlich hält. Es fehlt auch die Anordnung einer richterlichen Kontrolle vor der Verwendung der Daten.

Der andere Bereich ist der des Verfassungsschutzgesetze s. Auch dieser Entwurf übersieht die durch das Hohe Gericht vorgegebenen verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten. Die dadurch verursachten Ein-schränkungen sind unvertretbar. Lediglich die Planung von schwerwiegendsten Straftaten gegen Leib, Leben und Freiheit von Personen durch eine terroristische Vereinigung bildet einen Anordnungsgrund, nicht aber die entsprechende Planung der Einzeltäter.

Schließlich lässt das Bundesverfassungsgericht aus Anlasstaten im Bereich der Strafprozessordnung eine Überwachung bei Straftatbeständen genügen, die eine Höchststrafe von mehr als fünf Jahren vorsehen. Die im Entwurf vorgesehene Begrenzung sieht mindestens zehn Jahre vor.

Ein letzter Punkt: Das Abhörverbot bei der Überwachung von Gesprächen zwischen Familienangehörigen und Berufsgeheimnisträgern, die selbst tatverdächtig sind, ist von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gedeckt.

Zusammenfassend ist zu sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass der Gesetzentwurf eine Reihe von Ungereimtheiten beinhaltet, dass er zum einen über die Vorgaben des Gerichts hinausgeht, zum anderen aber hinter ihnen zurückbleibt. Darauf wird in den Ausschussberatungen einzeln einzugehen sein.

(Beifall bei der CSU)

Nächste Wortmeldung: Herr Kollege Schindler.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Kreidl, ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass Ihnen der Gesetzentwurf der GRÜNEN zum einen nicht weit genug, zum anderen aber zu weit geht. Ich hätte mich gefreut, wenn die Staatsregierung oder die CSU-Fraktion uns gesagt hätte, wie Sie es machen wollen,

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

wie Sie auf die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 4. März 2004 reagieren wollen. Sie wissen, dass es im Innenausschuss bereits einen entsprechenden Antrag gegeben hat. Dort ist argumentiert worden, man müsse erst aufwendig prüfen, welche Konsequenzen sich aus den Entscheidungen ergäben. Sie haben also die Gelegenheit, uns zu sagen, wie Sie es gerne hätten, wobei Sie selbstverständlich nicht darum herumkommen, wie die Kollegin Stahl ausgeführt hat, dafür zu sorgen, dass auch in Bayern die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Anwendung findet.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, gelegentlich wird ja so argumentiert: Wenn uns dieses Bundesverfassungsgericht schon den Lauschangriff im

repressiven Bereich, also zur Strafverfolgung, erschwert, dann müssen wir im Bereich der Prävention, wenn also noch keine Straftat begangen ist, aufholen und dort die Möglichkeiten stärker als bisher nutzen.