Protokoll der Sitzung vom 09.06.2005

Frau Präsidentin, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei Ihnen, Herr Kollege Volkmann, kann man immer so herrlich beobachten, wie Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung auseinander klaffen.

(Zuruf des Abgeordneten Rainer Volkmann (SPD))

Nur einen Satz, was die Menschenrechte angeht: Selbstverständlich haben auch wir in Bezug auf die Umsetzung dessen, was wir in der Türkei als wichtig erachten, Hoffnungen. Ich erinnere Sie aber an den 8. März, an dem vor den Augen einer europäischen Delegation Frauen niedergeknüppelt worden sind. Das zeigt doch, dass sich zwar auf dem Papier, aber leider Gottes nicht in der Realität etwas verändert hat.

Heute lautet unser Thema „Europa braucht klare Grenzen“. Dieses Thema soll nicht eine Verengung auf geographische oder fi nanzielle Bereiche erfahren, sondern bedarf unseres Erachtens einer Ausweitung.

Erstens. Europa braucht klare Kompetenzen und klare institutionelle Reformen. Auch diese inhaltlichen Aspekte gehören unseres Erachtens in die Thematik „Europa braucht klare Grenzen“. Klare Kompetenzen und institutionelle Reformen sind notwendig, um die Handlungsfähigkeit der 25 Mitgliedstaaten der EU zu garantieren. Uns liegt daran, dass dieses Europa ein Erfolgsmodell wird, dass das, was in den letzten Jahren geschaffen worden ist, auch weiterhin bestehen kann.

Wir haben vor einem Monat – exakt am 10. Mai dieses Jahres – in dem Beschluss des Landtags deutlich gemacht, dass der Verfassungsvertrag unter anderem die Kompetenzordnung übersichtlicher gestaltet und verbietet, dass aus Zielbestimmungen Handlungsermächtigungen abzuleiten sind, das heißt, dass diese nicht kompetenzbegründend sind. Dies ist in unseren Augen ein wichtiger Fortschritt des Verfassungsvertrages und etwas, das wir sichern möchten.

Leider ist es nicht gelungen, die Kompetenzen der EU zu begrenzen und auf die Kernbereiche zurückzuführen. Wir müssen feststellen, dass der Zentralisierungsdruck, die Zentralisierungsdynamik der EU nach wie vor ungebrochen sind und dass das Subsidiaritätsprinzip zwar verbal immer angesprochen wird, aber letztendlich nicht zum Durchbruch kommt. Deswegen müssen wir genau in diesem Punkt in den nächsten Jahren weiter verhandeln und die Chance nutzen, die sich jetzt aus den Diskussionen über den Verfassungsvertrag und aus der Ablehnung des Verfassungsvertrages in Frankreich und in den Niederlanden ergeben.

Um dies noch einmal deutlich zu machen: Wir müssen sehen, dass überall dort, wo nach dem Subsidiaritätsprinzip die Mitgliedstaaten ausreichend in der Lage sind, die Kompetenzen selbst wahrzunehmen, dies auch vor Ort erledigt wird.

Wir haben gesehen, dass sich die EU in den Bereichen Energie, Raumordnung, Zivilschutz, Sport, Tourismus und Gesundheit neue Kompetenzen schaffen will. Diese Bereiche sind neu aufgenommen worden. Wir haben große Bedenken. Ich erwähne nur die Stichworte Daseinsvorsorge und Wasser. Diejenigen, die sich mit diesen Themen beschäftigen, wissen, wovon ich rede. Ich brauche dazu nichts Weiteres auszuführen. Wo bleibt da das Subsidiaritätsprinzip?

Gleichzeitig sehen wir in dem Vertrag aber auch einen Fortschritt darin, dass es eine Subsidiaritätskontrolle geben soll und geben kann. Darin sehe ich ein Instrument, das die Rückführung auf die Kernkompetenzen gewährleistet. Wir erhoffen uns hierdurch eine deutliche Verbesserung und damit auch die Umsetzung des Grundsatzes: Europa braucht klare Grenzen in klaren Kompetenzen.

Einen zweiten Punkt möchte ich ansprechen. Europa braucht institutionelle Reformen. Wir haben für den Verfassungsvertrag gestimmt, weil es für uns wichtig ist, dass eine Stärkung des Europäischen Parlaments erfolgt, eine Stärkung des Kommissionspräsidenten und eine Verkleinerung der Kommission. Wichtig ist auch, dass die Abstimmungsmodalitäten der Größe der Länder in Form der doppelten Mehrheiten gerecht werden. Für uns ist auch wichtig – das trägt zur Transparenz bei, die Frau Kollegin Deml angesprochen hat –, dass der Rat bei Gesetzgebungsbeschlüssen öffentlich tagt und dass der halbjährlich rotierende Vorsitz im Rat entfällt.

Wenn der Verfassungsvertrag nicht zum Tragen kommt, werden sich all diese Vorschläge, die positive Wirkungen haben, nicht realisieren lassen. Diese wichtigen Elemente des Verfassungsvertrages müssen gesichert werden; denn sie tragen mit dazu bei, dass Europa auch bei den Bürgern wieder fester verankert und die Bereitschaft der Bürger gefördert wird, dieses Europa anzunehmen. Deshalb müssen wir dazu beitragen, dass diese wichtigen Punkte im Bereich der Kompetenzen und im Bereich der institutionellen Reformen tatsächlich zum Tragen kommen. In den Verhandlungen der kommenden Regierungskonferenzen müssen diese institutionellen Bestimmungen und die Klarstellung der Kompetenzordnung erfolgen. Das Gleiche gilt für die Absicherung des Subsidiaritätsfrühwarnsystems. Wenn dies beschlossen wird, können wir den europäischen Integrationsprozess weiterentwickeln, trotz aller Schwierigkeiten, die wir heute haben.

(Beifall bei der CSU)

Nächste Wortmeldung: Herr Kollege Hoderlein.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Offensichtlich macht die CSU schon Wahlkampf.

(Zuruf von der CSU: Sie noch nicht?)

Vielleicht wissen Sie ja mehr als wir. Es kann aber auch sein, dass Sie das Wasser nicht mehr halten können.

(Zurufe von der CSU)

Die Art und Weise, wie Sie dieses Thema eingebracht haben und jetzt durch den Kollegen Sackmann haben behandeln lassen, der die Debatte eröffnet, dann aber nicht weiter verfolgt hat,

(Dr. Martin Runge (GRÜNE): Verschwunden ist er!)

deutet darauf hin, dass Sie glauben, Sie befi nden sich im Wahlkampf.

Europa braucht klare Grenzen, so schreiben Sie – weder mit Fragezeichen, noch mit Ausrufezeichen, sondern einfach so. Da kann ich Ihnen antworten: Europa hat Grenzen.

(Beifall der Abgeordneten Johanna Werner-Mug- gendorfer (SPD))

Es hat Grenzen durch seinen politischen, geographischen, ökonomischen und fi nanziellen Handlungsrahmen. In jeder denkbaren Art hat es Grenzen.

(Zurufe von der CSU)

Wenn Sie das wollen, was Sie in Ihren Reden andeuten, müssen Sie die Überschrift „Europa braucht Grenzen“ ändern: Europa braucht andere Grenzen, braucht größere Grenzen, braucht kleinere Grenzen, braucht wie auch immer. Das ist aber nicht Ihr Thema, und deshalb haben Sie Ihr Thema verfehlt. Dieses Thema ist für Sie nur ein Vehikel dafür, wieder einmal eine Gelegenheit zu haben, auf die Bundesregierung Schröder zu schimpfen.

(Beifall bei der SPD)

Das ist im Grunde alles, und dafür müssen wir eigentlich nicht zwei Stunden unserer kostbaren Zeit verschwenden.

(Zurufe von der CSU)

Wie meinen Sie das: „Europa braucht klare Grenzen“? Meinen Sie das bezüglich der Vertiefung, wie das bei Ihnen angeklungen ist, Frau Kollegin Männle? Wer eine Vertiefung oder eine Begrenzung der Vertiefung will, muss jetzt aktuell dafür kämpfen – und zwar in jedem Land und in jeder Partei Europas –, um dem Verfassungsvertrag eine Mehrheit zu verschaffen. Das ist die aktuell wirksamste Waffe im Sinne einer Vertiefungsbegrenzung, aber auch einer Vertiefungspräzisierung der europäischen Integration. Darüber geht nichts, und ich kenne auch keine einzige politische Kraft, die einen klügeren Vorschlag hätte als diesen Verfassungsvertrag. Also, setzen wir uns hin und fragen uns, warum Teile der Bürger in Frankreich und in den Niederlanden – es waren sogar Mehrheiten von über 50 % – nicht erkennen, was notwendig ist. Das ist für uns eine Daueraufgabe und nicht irgendeine Aufgabe, die sich für vordergründige Polemik im Wahlkampf eignet.

Wer die Vertiefung und Begrenzung geographisch meint – das habe ich den Ausführungen der Kollegen Zeller und Sackmann entnommen –, kommt damit auf das alte

Thema Türkei. Was Adenauer begonnen hat zu versprechen, kann heute nicht immer noch auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden, meine Damen und Herren. Irgendwann ist Schluss mit lustig. Dass jetzt die Verhandlungen mit der Türkei beginnen, ist nicht mehr als eine Notwendigkeit innerhalb des staatlichen Geschehens zwischen den Völkern. Es ist rechtlich geboten, es ist moralisch geboten, und es entspricht ganz einfach auch dem Gewohnheitsrecht, dass man, wenn man 30 Jahre lang eine Option bietet, diese irgendwann einmal einlöst. Dass diese Verhandlungen, die jetzt nach 15 oder weiß Gott wie vielen Jahren beginnen, am Ende nach vielleicht wieder 15 Jahren dann automatisch in eine Mitgliedschaft der Türkei führen, ist das, was Sie zwar polemisch ständig vorerzählen, was aber bis heute niemand außer scheinbar Ihnen weiß. Für uns ist vollkommen klar: Wir müssen die Verhandlungen beginnen; es ist absolut sinnvoll, damit zu beginnen, aber es ist auch absolut klar, dass es ergebnisoffene Verhandlungen sind, von denen niemand weiß, was am Ende rauskommt.

(Beifall bei der SPD)

Am wenigsten wahrscheinlich aber ist, dass das herauskommt, was Sie hier dauernd der Menschheit erzählen, nämlich eine „privilegierte Partnerschaft“ der Türkei. Kein Mensch auf dieser Welt weiß, was eine privilegierte Partnerschaft bedeutet. Den Begriff gibt es völkerrechtlich nicht, es gibt ihn rechtlich nicht, es gibt ihn überhaupt nicht.

(Unruhe und Zurufe)

Kein Mensch kann uns ein Beispiel in der Weltpolitik dafür nennen, was privilegierte Partnerschaft bedeutet. Entweder gibt es eine Mitgliedschaft nach den Regularien der EU, oder es gibt keine. So wird es am Ende auch kommen.

Ein dritter Erklärungsversuch geht dahin, Europa brauche Grenzen im fi nanziellen Bereich. Auch diese Überlegungen haben Sie geäußert. Dazu haben meine Kolleginnen und Kollegen schon etwas gesagt. Das größte Problem für Deutschland und die EU in Bezug auf die Finanzierung ist nicht die Frage, ob es 1,0 oder am Ende vielleicht 1,06 % des BNP sein werden, sondern das größte Problem ist der seit 20 Jahren existierende Rabatt der Briten.

(Beifall bei der SPD)

Zwei Drittel des Beitrages seit 20 Jahren! Meine Damen und Herren, so viele Milliarden können Sie in den nächsten 20 Jahren nicht herbeischaffen, wie da versiebt worden sind. Dem hat Kohl so zugestimmt. I want my money back, hat Frau Thatcher damals gesagt. Und kaum hatte der Übersetzer Helmut Kohl erklärt, was dieser Satz bedeutet, hat er den Waigel schon angewiesen, den Scheck auszustellen.

(Beifall bei der SPD – Heiterkeit bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Das sind die Gelder, meine sehr verehrten Damen und Herren, denen wir heute hinterherlaufen müssen, und vor diesem Hintergrund sind 1,0 oder 1,06 % für 2007 bis 2013 eine wirklich zweitrangige Frage.

Wir haben im Übrigen in diesem Hause diesbezüglich unsere Hausaufgaben schon gemacht, Frau Kollegin: Wir haben vor über einem Jahr in diesem Hohen Hause auf Drucksache 15/735, wenn Sie sich vielleicht erinnern wollen, unsere politische Auffassung dargelegt: Wir wollen erreichen, dass unser Beitragssatz zur EU bei einem Bruttonationaleinkommen von 1,0 % bleibt. Das war unser Antrag, und dazu stehen wir auch. Wir sollten versuchen, die Bundesregierung, wie immer sie heißt, dabei zu unterstützen, dass es bei diesem an sich vernünftigen Vorschlag bleibt. Kurzum: Europa braucht Grenzen – das ist wahr. Es hat sie aber auch. Wer wie auch immer geartete andere Grenzen will, muss sagen, welche er an die Stelle der jetzt gültigen setzen will.

(Beifall bei der SPD)

Für die Staatsregierung hat Staatsminister Sinner um das Wort gebeten. Bitte, Herr Staatsminister.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war eine gute Idee, heute in der Aktuellen Stunde über Europa zu debattieren, weil viele bei dem Begriff „Europa“ etwas fremdeln. Wenn ich von Brüssel nach Hause komme, fragen mich viele: Bist du wieder zurück aus Europa? – Aber wenn ich von Berlin nach Hause komme, fragt mich niemand: Bist du wieder zurück aus Deutschland? – Mit der heutigen Debatte macht der Bayerische Landtag deutlich, dass wir in Bayern Europäer sind, diese Frage ernst nehmen und uns auch in die europäische Debatte einschalten. Ich möchte eine zusammenfassende Beurteilung abgeben mit dem folgenden Zitat, das die Lage gut analysiert:

Die Bürger stehen zweifellos hinter den großen Zielen der Union. Sie sehen jedoch nicht immer einen Zusammenhang zwischen diesen Zielen und dem täglichen Wirken der Union. Sie verlangen von den europäischen Organen weniger Schwerfälligkeit und Starrheit und fordern vor allen Dingen mehr Effi zienz und Transparenz. Viele fi nden auch, dass die Union stärker auf ihre konkreten Sorgen eingehen müsste und sich nicht bis in alle Einzelheiten in Dinge einmischen sollte, die eigentlich besser den gewählten Vertretern der Mitgliedstaaten und der Regionen überlassen werden sollten. Manche erleben dies sogar als Bedrohung ihrer Identität. Was aber vielleicht aber noch wichtiger ist: Die Bürger fi nden, dass alles viel zu sehr über ihren Kopf hinweg geregelt wird, und wünschen eine bessere demokratische Kontrolle.

Dieses Zitat ist nicht von heute oder von gestern, es stammt vom 15. Dezember 2001. Ich habe es der Erklärung von Laeken entnommen.

(Unruhe – Glocke der Präsidentin)

Damals wurde die Lage so analysiert. Auf dieser Grundlage wurden der Konvent eingesetzt und der jetzige Verfassungsvertrag entwickelt, um genau die angesprochenen Probleme zu lösen. Jetzt stellen wir die Frage: Warum kommt denn diese Lösung nicht an? Das liegt daran, dass sich die Bürger mit der europäischen Wirklichkeit beschäftigen, wie sie eben ist und wie sie damals beschrieben wurde, aber nicht mit der Vision, dass es besser werden könnte im Sinne dessen, was Ursula Männle gerade von den positiven Dingen gesagt hat, die der Verfassungsvertrag enthält. Damit will man ja das, was in dem Zitat beschrieben ist, gerade ändern. Meine Damen und Herren, wir haben jetzt eine Situation, wie sie der frühere britische Europaminister MacShane beschrieben hat, als er sagte: Wir haben uns zehn Jahre lang mit institutionellen Fragen beschäftigt. Wir haben ein Ergebnis, und jetzt fangen wir wieder mit einer Diskussion über institutionelle Fragen an; wir lösen damit aber eigentlich nicht die Probleme, die die Menschen betreffen, nämlich Jobs, Wachstum und die globalen Herausforderungen.

Zu den Kollegen von der Opposition, die hier gesprochen haben, möchte ich schlicht und einfach sagen: Das Problem besteht natürlich in einer Überforderung der Finanzen, der Strukturen und der Menschen. Heute wird über den Haushalt debattiert, Frau Kollegin Kronawitter. Die Zahl 1,0 ist sicher richtig; das fordert ja auch die Bundesregierung. Aber ihr haushaltspolitischer Sprecher Ralf Walter hat ja das Gleiche gefordert wie Herr Böge. Sie können seine Pressemitteilung auf meinem Laptop nachlesen.

(Dr. Hildegard Kronawitter (SPD): Sagen Sie es bitte – –)