Protokoll der Sitzung vom 10.11.2005

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 53. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.

Ich weise darauf hin, dass „Phoenix“ die Aktuelle Stunde von 9.00 bis 10.30 Uhr überträgt. In diesem Zusammenhang möchte ich „Phoenix“ gleich abmahnen. Wir haben viele Kameras hier, aber „Phoenix“ hat es geschafft, gleich beide Aufzüge zu zerstören, indem sie mit dem Wagen gegen die Türen gestoßen sind. Ein Aufzug konnte repariert werden, der andere steht noch nicht zur Verfügung. Ich bitte, in Zukunft auf mehr Sorgfalt zu achten, sonst müssen wir gewisse Fernsehsender wegen Arbeitsbeeinträchtigung ausschließen.

Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich noch drei Glückwünsche aussprechen. Am 26. Oktober feierte Frau Kollegin Ulrike Gote einen runden Geburtstag.

(Allgemeiner Beifall)

Einen halbrunden Geburtstag konnte Frau Kollegin Dr. Ingrid Fickler am 27. Oktober feiern. Heute hat Herr Kollege Sepp Ranner Geburtstag. Lieber Sepp, herzlichen Glückwunsch.

(Allgemeiner Beifall)

Ich gratuliere den drei Genannten im Namen des gesamten Hauses und persönlich sehr herzlich und wünsche ihnen für das neue Lebensjahr alles Gute, vor allem Gesundheit und viel Erfolg bei der parlamentarischen Arbeit.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde

Für die heutige Sitzung ist die Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN vorschlagsberechtigt. Sie hat eine Aktuelle Stunde beantragt zum Thema „Stoibers Scherbenhaufen – Bayern braucht einen Neuanfang“.

In der Aktuellen Stunde dürfen die einzelnen Redner grundsätzlich nicht länger als fünf Minuten sprechen. Auf Wunsch einer Fraktion erhält eines ihrer Mitglieder zehn Minuten Redezeit; dies wird auf die Gesamtredezeit der jeweiligen Fraktion angerechnet. Sie kennen das und deswegen gehe ich nicht weiter darauf ein.

Ich erteile als erster Rednerin Frau Kollegin Bause das Wort.

Einen schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie ernst es unser Ministerpräsident mit seiner Ankündigung nimmt, dass die Landespolitik Priorität hat, sieht man heute mit einem einzigen Blick. Sein Stuhl ist leer. Auch das ganze Kabinett hat es nicht für nötig befunden, anwesend zu

sein. Sein Stuhl ist genauso leer wie all seine Versprechungen, Ankündigungen und Beteuerungen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie, Herr Herrmann, haben vor zwei Tagen gefordert, jetzt müsse die Landespolitik Priorität haben und Stoiber müsse deutlich machen, dass es eine Priorität für das Amt des Ministerpräsidenten gibt. Was erleben wir heute? Er setzte seine Priorität, als es um die Romreise ging. Dafür konnte man die Koalitionsverhandlungen schwänzen; es war nicht wichtig, dass er in Berlin anwesend war, wichtig war es, dass er in Rom war. Heute muss er aber angeblich wieder in Berlin sein. Heute, wenn sich der Landtag mit dem dramatischen Scherbenhaufen, den Ministerpräsident Stoiber angerichtet hat, befasst. Heute, wo er sich seiner Verantwortung stellen müsste, heute tut er das, was er am liebsten tut und was er am besten kann: er kneift.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was will er eigentlich noch in Berlin? Ihr Ex-Minister und Kollege, Herr Spranger, hat es ganz deutlich gesagt. Er hat gesagt, Stoiber habe sich freiwillig aus Berlin abgemeldet. Er hat sich von selbst abgemeldet, er will keine Verantwortung mehr übernehmen. Wieso meint er denn, irgendwer lege noch irgendeinen Wert darauf, was er in Berlin sagt. Ihre eigene Bundestagsgruppe hat demonstriert, wie wichtig ihnen die Aussagen von Herrn Stoiber sind. Sie haben bei der so genannten Aussprache vorgestern nach dem Motto gehandelt: Wir ignorieren ihn noch nicht einmal. So weit ist es gekommen. Soll er doch den Glos schicken, der kennt das schon und springt immer in letzter Minute ein, das ist er gewöhnt. Stoiber ist in Berlin absolut verzichtbar.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Soll das jetzt so weitergehen? Ist das vielleicht eine ganz raffi nierte Taktik der Staatskanzlei, eine neue Strategie? Vor dem, was Stoiber in Berlin anrichtet, fl ieht er nach München und vor dem, was er in München anrichtet, fl ieht er zurück nach Berlin. Also ständig auf der Flucht, sozusagen der Richard Kimble von Wolfratshausen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Kolleginnen und Kollegen von der CSU, es ist schon erstaunlich: Ihr Parteivorsitzender und Ministerpräsident hat das Kunststück fertig gebracht, sich in einer wirklich atemberaubenden Geschwindigkeit und Zielstrebigkeit gnadenlos selbst zu demontieren. Das macht ihm wirklich so schnell keiner nach. Ihm ist egal, was passiert, hauptsächlich es ist der Superlativ und er handelt nach dem Motto, wenn man sich schon blamiert, dann wenigstens bis auf die Knochen. Ich kann in gewisser Weise nachvollziehen, dass für Sie die Situation unerträglich sein muss. Es passiert nicht alle Tage, dass man von einem unglaublich hohen Ross der Zweidrittel-Arroganz stürzt und dann plötzlich in Schimpf und Schande dasteht, nur mehr mit Hohn und Spott konfrontiert ist. Das kann einen schon ziemlich fertig machen, wenn man sich für einen Chef verantwortlich machen lassen muss, der sich so zum

Gespött der Leute gemacht hat, dass er sich unangefochten den Titel erworben hat: peinlichster Politiker Deutschlands.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was erleben wir denn gerade? Es passiert doch das, was noch vor wenigen Wochen absolut undenkbar gewesen wäre. Wenn wir Ihnen je hier prophezeit hätten, dass die unfehlbare Lichtgestalt Edmund Stoiber irgendwann einmal vom unauffälligen CSU-Landtagsabgeordneten und vom braven CSU-Kommunalpolitiker öffentlich abgewatscht wird, dass Herr Stoiber den Kampfanzug ausziehen und das Büßerhemd anziehen muss, dass er um eine zweite Chance fl eht, dass von Ihren eigenen Leuten öffentlich sein Rücktritt gefordert wird, wenn wir Ihnen das vor wenigen Wochen prophezeit hätten, Sie hätten gesagt: Ab in die geschlossene Psychiatrie. Woanders ist für Sie kein Platz.

Es ist interessant, was in den letzten Tagen Unterhaltsames in den Zeitungen zu lesen war. Ich möchte Ihnen das nicht ganz ersparen. Deshalb ein paar Zitate Ihrer Basis, Ihrer Kommunalpolitiker. Herr Kottmann, der Ortsvorsitzende aus Prem sagt:

Herr Stoiber sollte seinen Hut nehmen und in den Ruhestand gehen. Der hat uns jetzt schon zwei Wahlkämpfe gekostet. Franz-Josef würde sich im Grab umdrehen.

Herr Lutz der Fraktionschef aus Penzberg sagt:

Mich erinnert das ganz an den Rücktritt Oskar Lafontaines als Finanzminister. Ich frage mich, ob er nicht über Konsequenzen nachdenken sollte.

Kurz und bündig, Frau Rehm, die CSU-Ortsvorsitzende aus Eching sagt: „Die Stoiber-Ära ist vorbei“.

Ein anderer, Herr Erhard aus Böbing:

Mich hatte schon aufgeregt, dass er sich zu Wahlzeiten nie klar geäußert hat. Dann ist er schließlich oben in Berlin und es gibt ein Theater wie im Kindergarten. Wenn Stoiber sein Haus noch retten will, kann es nur den Rücktritt geben.

Oder Herr Knülle, Ortsvorsitzender in Herrsching:

Es ist eine Katastrophe. Der Mann sollte wirklich nachdenken, welche Rolle er in Bayern noch spielen will.

Ich könnte mit den Zitaten stundenlang fortfahren. Leider habe ich nur zehn Minuten Redezeit. Erstaunlich ist aber auch, welche Töne man plötzlich von Ihnen aus der Landtagsfraktion hört. Herr Kollege Obermeier hat es vorgezogen, heute nicht zu kommen. Er war plötzlich, zumindest für einen kleinen Zeitraum, ganz mutig und hat geäußert, er wäre den Stoiber gerne los.

Frau Kollegin Haderthauer sehe ich jetzt auch nicht. Ihr war speiübel. Sie hat gesagt – das stand im „Münchner Merkur“: „Wir mussten vieles schlucken in der Vergangenheit. Das kommt jetzt alles hoch“. – Wohl bekomm’s!

Aber Sie, Herr Herrmann, setzen dem Ganzen die Krone auf. Sie markieren vorgestern plötzlich den starken Mann, kritisieren Stoibers einsame Entscheidungen, den Autokratismus der Staatskanzlei, die überhasteten und unausgegorenen Reformen, die Politik über die Köpfe der Menschen hinweg. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir beiden in den letzten zwei Jahren im gleichen Parlament gesessen haben. Aber in dem Parlament, in dem ich gesessen habe, im Bayerischen Landtag, haben Sie noch jede einsame Entscheidung des Ministerpräsidenten abgenickt,

(Beifall bei den GRÜNEN und der Abgeordneten Karin Radermacher (SPD))

da haben Sie noch jedes Hoppla-Hopp mitgetragen, da haben Sie noch die unsinnigste Vorgabe vehement gegen jede Kritik verteidigt und haben alles ergebenst abgenickt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Und jetzt sind Sie angeblich die armen Opfer. Es ist über Sie gekommen. Sie können überhaupt nichts dafür, Sie wissen gar nicht, wie das alles so schief laufen konnte.

(Zuruf von der CSU: Aber Sie wissen es!)

Kolleginnen und Kollegen von der CSU, nicht nur der Ministerpräsident steht vor dem Scherbenhaufen seiner Politik. Dieser Scherbenhaufen ist genauso Ihr Scherbenhaufen, und Sie tragen dafür genauso die Verantwortung.

(Beifall bei den GRÜNEN und der Abgeordneten Karin Radermacher (SPD))

Oder macht das Verhalten des Ministerpräsidenten bei Ihnen jetzt Schule, und Sie stehlen sich genauso aus der Verantwortung? Nur nie dabei gewesen sein, nur nichts mittragen, nur nichts mitverantworten wollen. Sie tragen ebenso die Verantwortung für den brachialen Sparkurs. Sie tragen ebenso die Verantwortung für das Chaos an den Schulen. Sie tragen ebenso die Verantwortung für die Fehlentscheidungen zum Beispiel bei der Verwaltungsreform. Ich erinnere nur an den unsinnigen Umzug des Landesamtes für Umweltschutz nach Hof.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie tragen ebenso die Verantwortung für den sich ständig steigernden Zentralismus der Staatskanzlei. Denn ohne Ihre Gefolgschaft wäre das alles nicht möglich gewesen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was steht jetzt an? Wir brauchen nicht Ihre Selbstbeschäftigung, Ihre Therapiesitzungen, Ihre Larmoyanz, Ihr Wundenlecken. Wir brauchen einen Neuanfang und einen Kurswechsel in der bayerischen Politik.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir brauchen eine gerechte Bildungspolitik. Wir brauchen eine gerechte Sozialpolitik. Wir brauchen Nachhaltigkeit in ökologischen und im fi skalischen Bereich. Wir brauchen keine Politik mehr, die immer die Folgen, die Verantwortung für ihr Handeln auf andere, auf die Kommunen, auf Menschen verschiebt, die ihre Situation nicht ändern können. Sie sind nicht mehr in der Lage, Ihrer Verantwortung gerecht zu werden, und genauso verhalten Sie sich auch.