Protokoll der Sitzung vom 19.06.2012

Ich möchte festhalten: Herr Dr. Spaenle, Sie haben nicht den bayerischen Weg in der Bildungspolitik beschrieben, sondern den Weg, den die CSU - und nur die CSU! - in Bayern geht.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der GRÜ- NEN)

Es ist nicht der Weg der SPD, der GRÜNEN oder der FREIEN WÄHLER - ich glaube sogar, nicht einmal der Weg der FDP.

Es ist auch nicht der Weg, den die Eltern, die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler, die Jugendverbände, die Träger der Erwachsenenbildung, die Städte und Gemeinden in Bayern gehen würden - wenn man sie denn gehen ließe. Es ist nicht der Weg, auf dem ganz Bayern mitginge. Es ist Ihr Weg - der Weg der einzigen Partei in Bayern, die stetig an Zustimmung verliert.

(Beifall bei der SPD)

Bei aller Wertschätzung für die Ernsthaftigkeit, die Ihren Worten zu entnehmen ist, soweit man das bei dem Feuerwerk noch heraushören konnte: Sie übergehen und ignorieren entscheidende Baustellen in der bayerischen Bildungslandschaft, aber auch Herausforderungen, die den Menschen in Bayern, unseren Eltern, den Schülerinnen und Schülern, den Lehrerin

nen und Lehrern, aber auch den Schulleiterinnen und Schulleitern tagtäglich das Leben mehr als schwer machen. Ich nenne nur ein paar Beispiele: Eklatante Defizite in der Gerechtigkeitsfrage, das einzelne Kind in den Mittelpunkt der Pädagogik stellen, die schiere Verzweiflung während des Übertrittsverfahrens, eine Vermeidung des achtjährigen Gymnasiums, strikte Ablehnung der hochgelobten Mittelschule, verzweifelte Suche nach qualitativ guten Ganztagsangeboten, kleinere Klassen in manchen Grundschulen, aber auch in Realschulen und Gymnasien, ausreichend Lehrkräfte, damit die Schülerinnen und Schüler zuverlässig Unterricht haben, Reduzierung der Belastung der einzelnen Lehrkräfte und ausreichende Leitungszeit für die Schulleitungen - eine kleine Liste von den Dingen, die jeden Tag in Bayern angemahnt werden.

Diese Stolpersteine, Serpentinen und Sperren gehören auch zum Weg der CSU, den das bayerische Bildungswesen ertragen hat. Die Menschen in Bayern haben Ihre Versprechungen und schönen Reden, Herr Dr. Spaenle, einfach satt.

(Beifall bei der SPD)

Sie gehen auf die Straße - erst am vergangenen Samstag wieder; ich war der einzige Abgeordnete, der dort war - und machen ihrem Unmut Luft. All das findet sich mit keinem Wort wieder. Sie muten uns Selbstverständlichkeiten zu, die allenfalls von einem technischen Verständnis von Schule oder besser von gutem Verwaltungshandeln zeugen, aber keinerlei Visionen und Ideen beinhalten.

(Beifall bei der SPD)

Auch in einem guten Kultusministerium muss die Pädagogik das Sagen haben und nicht die Bürokratie.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen miteinander um die besten Unterrichtsmethoden ringen, weil nichts in dieser Welt stehen bleibt. In Ihren Ausführungen finden wir kein Wort zu den neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung oder der Neurowissenschaften. Längst wissen wir, wie Lernen im menschlichen Gehirn wirklich funktioniert, welche Lernformen nachhaltiges Lernen unterstützen und welche sie eher daran hindern.

Der Bildungsausschuss hat durch seinen Besuch im Gymnasium Oettingen in Schwaben für die Öffentlichkeit deutlich gemacht, wie Kinder kreativ und selbstbestimmt lernen können. Kein Wort dazu in Ihren Ausführungen. Kein Wort der Ermunterung und Anreize an die Schulen, sich diesen neuen pädagogischen Formen zu öffnen und wirklich neue Wege zu gehen.

Das wäre ein bayerischer Weg, der den Kindern unmittelbar zugutekommen würde.

(Beifall bei der SPD)

Wenn ich mir Ihre Zusammenfassung und Thesen vor Augen führe, dann muss es wohl besser heißen: Bürokratische Einfalt - nicht Vielfalt - kennzeichnet den bildungspolitischen Weg der CSU.

(Beifall bei der SPD)

Ich greife Ihre Thesen auf: Bayern ist das Bildungsland - das haben Sie gesagt und betont -, denn in Bayern denken wir Schule vom einzelnen Kind aus. Das stimmt, aber nur im Rahmen dessen, was wir schon immer gedacht und gemacht haben. In Bayern, so sagen Sie, bieten wir den Schülerinnen und Schülern verlässlich ein differenziertes Bildungsangebot. Das stimmt, aber nur unter Ausschluss bestimmter Möglichkeiten, wie zum Beispiel der Gemeinschaftsschule. In Bayern, so sagen Sie, sichern wir für jeden Abschluss einen Anschluss. Das heißt, es findet sich eine organisierte Durchlässigkeit. Das stimmt auch, aber nur nach unten.

(Beifall bei der SPD)

Bayern, so sagen Sie, richtet Schule mehr auf das einzelne Kind aus, das heißt, individuelle Lernzeit und passgenaue Wege zu einem Abschluss. Das stimmt auch, aber nur unter der Prämisse, dass eine halbe Million Kinder der Grundschulen in Bayern in einem fragwürdigen Übertrittsverfahren in Passformen für drei Schularten gepresst werden.

(Beifall bei der SPD)

Es ist doch vollkommen lächerlich anzunehmen, dass diese vielfältigen Persönlichkeiten in genau drei Formen passen sollen.

Solange Sie an diesem Übertrittsverfahren festhalten, haben Sie und Ihr Haus nicht begriffen, was individuelle Förderung wirklich meint.

(Beifall bei der SPD)

Bayern setzt auf eine verlässliche Unterrichtsversorgung, so sagen Sie. Das meint den Ausbau der mobilen Reserven und mehr Mittel für Vertretungslehrkräfte. Ich ergänze: zum Beispiel Mütter, Ruheständler oder fachfremde Akademiker und vor allem die Mehrarbeit der Kolleginnen und Kollegen. Respekt! Bayern, so sagen Sie, schafft Bildungschancen, das heißt Ausbau der Ganztagsangebote, und zwar flächendeckend und bedarfsgerecht, die Integration junger Menschen mit Migrationshintergrund sowie ein Ange

bot für Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf. Ich ergänze: mit zehn Jahren Verspätung. Deshalb sind wir Schlusslicht in Deutschland.

Schließlich sagen Sie, Bayern sichere den Menschen vergleichbare Lebensbedingungen in Stadt und Land. Das heißt den Erhalt kleiner Grundschulen, Sicherung der Mittelschulen und flächendeckender Zugang zu allen Abschlüssen. Ja, wenn man zwanzig, dreißig oder vierzig Kilometer jeden Tag fährt. Wenn ich heute die Zeitung aufschlage, was lese ich darin? Wem die letzte Stunde schlägt. So viel zum Thema Sicherung von Mittelschulen; ich komme darauf noch einmal zurück.

All das sind für Sie einzigartige Meilensteine. Ich habe gehört, auch ein Geisterfahrer findet sich einzigartig, wenn er auf der Autobahn fährt und ihm Tausende Autos entgegenkommen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will Ihnen ein paar Gedanken nennen, wie wir von der SPD-Fraktion uns Bildungspolitik vorstellen: Nehmen wir die Grundschule. Eigentlich ist die bayerische Grundschule - das wissen wir alle - eine gute Schule, und zwar übrigens eine Schule des gemeinsamen Lernens, also eine Gemeinschaftsschule. Eigentlich ist sie gut konzipiert, aber unsere Lehrkräfte, unsere Schülerinnen und Schüler und, so glaube ich, auch viele Eltern leiden zunehmend in dieser Schule. Sie kommen mit dem Druck, der wegen des Übertrittsverfahrens bereits in der 3. Klasse beginnt, nicht zurecht. Wir haben doch längst vergessen - oder nicht mehr im Blick -, die Kinder wirklich in das Zentrum zu stellen. Nachhilfe schon in der Grundschule - welch verheerende Entwicklung. Sie sagen, die Schulen gestalteten die Übergänge und Anschlüsse selbst. Darüber, was das heißen könnte, habe ich lange nachgedacht. Und gleichzeitig schreiben Sie die Zahl der Proben vor, nämlich 22. Irgendwo passt da etwas nicht zusammen. Sie verschärfen den Kampf um die Zehntelnoten durch immer neue Änderungen an den Bedingungen und müssten doch eigentlich wissen, dass die Elternberatung dann ins Leere laufen muss, wenn der Zugang zum Gymnasium oder der Realschule ausschließlich von einer Durchschnittsnote abhängt.

Jetzt bitte ich Sie, einmal genau zuzuhören - ich habe es mehrfach lesen müssen und konnte es kaum glauben -: Das Übertrittsverfahren - so schreiben Sie zumindest in Ihrem Text; Sie haben ihn auch hier so vorgelesen - dient der individuellen Förderung jedes einzelnen Kindes. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Daran würde man deutlich den bayerischen Weg erkennen. In der Tat: Nahezu kein Bundesland in Deutschland verlässt sich auf die

ses bayerische Auswahl- und Übertrittsverfahren. Das ist und bleibt ein einzigartiger Weg. Aber zu sagen, das bayerische Übertrittsverfahren schaffe Bildungsgerechtigkeit - auch das steht in Ihrem Manuskript und das nehme ich bei aller Wertschätzung für Sie sehr ernst -, ist, ehrlich gesagt, zynisch.

(Beifall bei der SPD)

Das gilt angesichts der Tatsache, dass Bayern gerade das Bundesland ist, in dem die soziale Herkunft noch am stärksten für die Bildungschancen von Kindern mitverantwortlich ist, und zwar genau an dieser Stelle, die den Übergang in die weiterführenden Schulen kennzeichnet. Dort geht es speziell in Bayern extrem ungerecht zu.

Lassen Sie mich noch zwei kleine Anmerkungen zur Grundschule machen. Die Grundschulen haben Sie vorher ebenfalls in Ihrer Rede erwähnt. Die flexible Grundschule ist eigentlich, wie Sie richtig sagen, eine gute Idee. Sie haben ebenfalls gesagt, dass 94 % der Grundschulen in zwei Jahren diesen Weg gingen. Warum denn? - Weil Sie die individuelle Förderung in den 80 Schulen mit modularisierten Verfahren und zusätzlichen Lehrerstunden umsetzen. Würden Sie dies allen Schulen ermöglichen, käme die individuelle Förderung allen Kindern zugute.

(Beifall bei der SPD)

Bitte nehmen Sie die Elternumfragen nicht als Maßstab her. Die entscheidende Frage nach der Meinung der Eltern zum Übertrittsverfahren haben Sie den Eltern noch nicht gestellt. Sie würden die richtige Antwort bekommen. Das ist unfair und zeugt nicht von Selbstbewusstsein.

Die SPD wird die Pädagogik wieder zurück in die Grundschulen holen und die Übertrittsnotenschnitte abschaffen. Wir nehmen jedes einzelne Kind in den Blick und organisieren dessen Förderung. Wir setzen auf echte und umfassende Beratung der Eltern durch die Grundschullehrkräfte und, wenn notwendig, durch Beratungsdienste. Wir schaffen mit dem Angebot der Gemeinschaftsschule wieder eine echte Wahlmöglichkeit für die Eltern. Das ist die Grundvoraussetzung für eine funktionierende Beratung. Die Eltern müssen ein Wahlrecht und gleiche Wahlbedingungen haben.

(Beifall bei der SPD)

Die SPD wird der zunehmenden Heterogenität der Schülerinnen und Schüler Rechnung tragen und die Klassengrößen entsprechend klein halten. Die SPD wird Unterstützungssysteme aufbauen, die individuelle Förderungen ermöglichen und die Lehrkräfte spür

bar entlasten. Das beinhaltet, wo es notwendig ist, Tandemlehrer-Lösungen.

Wenn ich einen Blick auf die bayerischen Gymnasien werfe, sehe ich: Die Probleme sind noch nicht vom Tisch. Die Lehrerversorgung ist auf Kante genäht. Die Ressourcen sind beschränkt. Referendare werden in die Wüste geschickt. Dass Sie den SPD-Vorschlag zur integrierten Lehrerreserve aufnehmen, ist in Ordnung. Muss das jedoch erst an zwei Schulen erprobt werden? Das ist bereits erprobt. Eine Einführung wäre bereits morgen möglich, wenn man nur die Ressourcen zur Verfügung stellen würde. Das macht man nicht. Das will man nicht. Es geht nicht, dass Sie unseren Vorschlag als Modellversuch verkaufen.

Sie müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass 30 % der Eltern aufgrund der Neuorganisation das achtjährige Gymnasium meiden, weil sie damit nicht mehr zurechtkommen. Sie weichen auf die Realschulen aus. Können wir uns das wirklich leisten? Können wir leistungsfähige Kinder an die Realschulen verlieren, nur weil die Eltern das G 8 meiden? Sie sagen, jeder Schüler am Gymnasium solle seine individuelle Lernzeit bekommen. Damit meinen Sie - das interpretiere ich so - eine einjährige Auszeit in der Mittelstufe. Die Kinder brauchen jedoch eine echte individuelle Lernzeit, die jeden Tag zu Buche schlägt.

(Beifall bei der SPD)

Das ist in Ihrem Haus noch nicht bis zu Ihnen vorgedrungen. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn sie mit Ihrem Haus nach Oettingen fahren. Dort könnten Sie sehen, wie individuelle Lernzeit organisiert wird.

Die SPD will an dieser Stelle einen klaren Kurs fahren: Die Lehrerversorgung soll deutlich verbessert werden. Wir brauchen einen Budgetüberhang von 10 Prozent, um die Lehrerversorgung zu garantieren und individuelle Lernzeiten zu organisieren. Keiner will das achtjährige Gymnasium zurück zum G 9 führen. Das muss man an der Stelle sagen. Die Unterund die Mittelstufe müssen deutlich entlastet werden. Das pädagogische Prinzip des selbstaktiven Lernens sollte forciert werden. Ich bitte Sie und fordere Sie in diesem Hause dazu auf, über die Kultusministerkonferenz zu klären, ob ein flexibles Oberstufenmodell für ein Gymnasium mit zwei Lerngeschwindigkeiten möglich wäre. Das würde den Anforderungen der Schülerinnen und Schüler gerecht werden.

Nach Ihren Ausführungen ist der dritte Schwerpunkt die Mittelschule. Ich zitiere eine Vodafone-Studie, die Sie nicht angeführt haben. In dieser Vodafone-Studie ist davon die Rede, dass lediglich drei Prozent der Eltern die Hauptschule wollen. Die meisten Eltern lehnen den Hauptschulabschluss ab. Nimmt man diese

Studie als Grundlage, muss man zur Kenntnis nehmen, dass auch in Bayern nur diejenigen Schulformen eine Zukunft haben, die einen Schulabschluss bieten, der von den Eltern nachgefragt wird. Das ist mindestens der Realschulabschluss. Das geht in Bayern nicht, weil bestimmte Lobbyvertreter sonst nicht zufriedengestellt werden. Die Frage lautet: Wer macht bei uns Politik?

Das Kernthema, das Sie angesprochen haben, ist die Sicherung der wohnortnahen Schulen. In diesem Zusammenhang darf ich einen Blick auf das Jahr 2009 zurückwerfen. Herr Dr. Spaenle, Sie haben in der Hanns-Seidel-Stiftung eine, wie Sie sagen, wegweisende Rede gehalten. Eine Passage möchte ich zitieren: "Wenn wir ein intelligentes System zur Erhaltung von Schulstandorten entwickeln, wird es uns auch langfristig gelingen, ein reichhaltiges Bildungsangebot bereitzustellen - und zwar überall in Bayern."