Protokoll der Sitzung vom 21.02.2013

− Nützt nichts.

Diesen Weg wollen wir kontinuierlich fortsetzen. Nicht nur die Studie "Schulformwechsel in Deutschland" der Bertelsmann-Stiftung hat aufgezeigt, wie zielführend und zukunftsgerichtet der Weg ist, den Bayern in seiner Bildungspolitik eingeschlagen hat. Wir wären dumm, wenn wir diesen Weg nicht weitergehen würden.

Ich komme zum zweiten Teil Ihres Antrags "Pädagogischen Unsinn beenden". Das klingt reizvoll, und es wäre auch bestechend einfach zu sagen: Wir schaffen das Sitzenbleiben ab, versetzen alle trotz schlechter Noten in die nächste Klasse und füllen die Wissenslücken durch individuelle Förderung auf. Die Realität ist jedoch kein Wunschkonzert. Auch der Blick, den Sie von der SPD ins benachbarte Ausland getan haben, trügt. Wenn Sie das Sitzenbleiben wirklich abschaffen wollen, dann müssen Sie nämlich eine ganze Armada von Pädagogen, Sprachtrainern, Psychologen und Assistenten bereitstellen, wie das vielleicht in Finnland der Fall sein mag.

(Martin Güll (SPD): Das ist doch gut!)

Solange dies aber noch nicht die Realität ist, sollte man mit Augenmaß vorgehen und den Druck herausnehmen, um das Wiederholen einer Klasse zu vermeiden. Sie vergessen immer wieder, dass Jugendliche und Kinder nicht gleich sind, und eine Ehrenrunde beeinflusst nicht bei jedem Kind die Motivation negativ oder löst ein Schultrauma aus. Nein, das wurde von Herrn Kollegen Felbinger schon angedeutet, eine sich ankündigende Ehrenrunde kann sich positiv auswirken, sie kann dem Schüler Ansporn und Motivation sein und Ehrgeiz auslösen, um mit Hilfe der angebotenen Fördermöglichkeiten das Klassenziel doch noch zu erreichen.

Viele Durchfaller sehen in der Wiederholung durchaus eine zweite Chance. Sie dient dann auch als letzte Konsequenz bei jenen Schülern, die sich dem Leistungs- und Lernsystem Schule konsequent widersetzen. Wir sollten uns deshalb die Ultima Ratio des Wiederholens erhalten. Wir lehnen deshalb auch Ihren Antrag ab.

(Beifall bei der FDP)

Für die CSU hat sich Frau Kollegin Schreyer-Stäblein gemeldet. Ich darf außerdem bekannt geben, dass die CSU-Fraktion für ihren Antrag namentliche Abstimmung beantragt hat. Frau Schreyer-Stäblein, bitte schön.

Sehr geehrtes Präsidium, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute drei Anträge zu behandeln, den Antrag der SPD, den Antrag der FREIEN WÄHLER und den gemeinsamen Antrag von CSU und FDP. Die CSU-Fraktion geht bei der Idee, das Sitzenbleiben abzuschaffen, nicht mit. Wir wollen lieber die individuelle Lernbiografie weiterentwickeln.

(Beifall des Abgeordneten Dietrich Freiherr von Gumppenberg (FDP))

Diesen Weg beschreiten wir inzwischen seit mindestens viereinhalb Jahren, eigentlich sogar schon länger, konsequent. Unser Hintergrund ist der: Wir sagen, wir haben unterschiedliche Lerntypen, deshalb wollen wir individuell beschulen. Deswegen ist es wichtig, dass wir unterschiedliche Schulformen haben und − ebenso wichtig - die Durchlässigkeit zwischen diesen Systemen.

Wie Sie wissen, haben wir die Bildungswege an jeder Schulart individualisiert, wie beispielsweise künftig am Gymnasium mit dem zusätzlichen Jahr. Wir haben die Möglichkeit der Intensivierungsstunden sowohl am Gymnasium mit Ergänzungs- und Förderstunden als auch an der Realschule mit Förderstunden. Wir haben das Modell der flexiblen Eingangsklasse an der Grundschule, und ich denke, das Modell ist ein solcher Erfolg, dass wir es noch weiter ausbauen werden. Ich möchte zwar jetzt nicht alles herunterbeten, aber wir haben beispielsweise die Einführungsklassen, die Möglichkeit der Vorklassen und vieles mehr. Wir versuchen wirklich an jeder Stelle, wo irgend möglich, Brücken zu bauen, damit jeder seinen Weg gehen kann, beispielsweise mit Modellen wie 9 plus 2.

Wir haben aber nicht nur über Bildung geredet, wir haben auch das dafür notwendige Geld in den Haushalt eingestellt. Bildungspolitik ist in Bayern ein absoluter Schwerpunkt.

Wenn ein Kind in einer schwierigen Lernsituation ist, wenn die Noten nicht mehr passen, dann muss der erste Schritt darin bestehen, dass die Lehrkraft gemeinsam mit den Eltern und dem Schüler hinschaut und überlegt, was jetzt am gescheitesten ist. Manchmal gibt es Phasen, in denen das Kind nicht so viel gelernt hat. Wenn es sich dann relativ schnell besinnt und paukt, dann ist es durchaus möglich, Lücken wie

der zu schließen. Manchmal stellt sich vielleicht auch die Frage nach der Schulart. Bin ich hier an der richtigen Stelle, oder wäre es besser, einen anderen Weg zu gehen? − Manchmal kann es auch sein, dass die Motivation nicht optimal ist, dann braucht es in letzter Konsequenz auch die Möglichkeit, dass ein Schüler sitzenbleiben kann.

Wir alle wollen nicht, dass jemand sitzenbleibt. Deshalb habe ich mir die Mühe gemacht, die vielfältigen Möglichkeiten aufzuzeigen, an welchen Stellen das bayerische Schulsystem unterstützend eingreift. Wir möchten wirklich, dass die Kinder die Möglichkeit haben, viele Wege zu gehen, und dass möglichst wenige sitzenbleiben. Wenn man sich die Zahlen ansieht - sie wurden vorhin von Frau Kollegin Will bereits angedeutet -, so zeigt sich, dass wir kontinuierlich weniger Kinder haben, die sitzenbleiben. Der bayerische Weg ist also offensichtlich an dieser Stelle der richtige.

Ich möchte hierzu nur einige wenige Zahlen als Beleg nennen. Im Jahr 2001 hatten wir an der Volksschule 1,4 % Pflichtwiederholer. 2011/2012 waren es nur 0,5 %. An der Realschule gab es im gleichen Zeitraum einen Rückgang von 4,8 % auf 2,6 %. Am Gymnasium ging die Zahl von 3,1 % auf 2,0 % zurück. Wir können also deutlich sehen, die Maßnahmen greifen, es ist der richtige Weg. Dennoch werden wir auch weiterhin schauen, dass möglichst wenige Kinder sitzenbleiben. Das muss unsere Marschrichtung sein. Dabei wollen wir aber nicht das Sitzenbleiben komplett streichen, sondern wir wollen die Idee der individuellen Förderung und der Durchlässigkeit vorantreiben, um weiterzukommen.

(Beifall bei der CSU)

Den Antrag der FREIEN WÄHLER kann ich aufgrund seiner Formulierungen nicht ganz nachvollziehen. Da heißt es einmal "ausreichende Unterrichtsversorgung". Was ist "ausreichend"? Da heißt es "frühzeitig durch schüler- und begabungsgerechte Förderung", doch das machen wir bereits. Da werden außerdem "Beratung und individuelle Fördermaßnahmen" gefordert. Auch das geschieht schon. Natürlich kann es davon nie genug geben, und als Bildungspolitikerin bin ich in dieser Frage unersättlich. In der Begründung des Antrags wiederum steht der Begriff "Lehrertandem", obgleich dieses Wort im Antrag nicht genannt wird. Insofern entsteht hier eine schwierige Situation. Der Antrag ist noch etwas unausgereift, weshalb wir ihn ablehnen werden.

Den SPD-Antrag erachten wir nicht als zielführend, wir lehnen ihn deshalb ebenfalls ab. Das ist im Übrigen ganz spannend: Der Antrag geht ein wenig an der

Bevölkerung vorbei. Sie haben sicherlich die OnlineUmfrage der "BILD" gelesen. Danach sind drei Viertel der Bevölkerung für die Beibehaltung des Pflichtwiederholungsjahres. Die CSU-Fraktion sieht die Wiederholung immer nur als letzte mögliche Androhung. Sie ist aber manchmal nötig.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Paul Wengert (SPD))

Wir wollen hierbei bleiben.

(Beifall bei der CSU und der FDP)

Für die Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN meldet sich Herr Kollege Gehring. Bitte schön.

(Vom Redner nicht auto- risiert) Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in der letzten Woche große Aufregung zum Thema Sitzenbleiben erlebt. Ausgangspunkt waren die Koalitionsvereinbarungen in Niedersachsen. Ich will einen Blick auf diese Koalitionsvereinbarungen von Rot-Grün werfen. Es geht darum, Sitzenbleiben und Abschulung durch individuelle Förderung überflüssig zu machen. Das Sitzenbleiben wird also nicht verboten, sondern es soll durch das gezielte Fördern von Schülerinnen und Schülern verhindert werden. Die künftige Kultusministerin von der SPD hat gesagt, das ist ein perspektivisches Ziel, das nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann. Das halte ich für vernünftig.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wissen von den Bildungsforschern, dass das Sitzenbleiben pädagogisch fragwürdig ist. Die Leistungsverbesserung im Anschluss an das Sitzenbleiben ist oft nicht feststellbar. Es führt aber meist zu Demotivation, weil es ein Wiederholen in allen Fächern ist, auch in den Fächern, in denen der Schüler oder die Schülerin gut ist. Die spezifischen Lernprobleme, die dazu geführt haben, dass jemand sitzenbleiben muss, werden in der Regel nicht angegangen, vor allem nicht durch das einfache Wiederholen.

Der Bildungsforscher Klemm hat deutlich gemacht darauf wurde schon hingewiesen -, dass das Sitzenbleiben allein in Bayern 270 Millionen Euro jährlich kostet. Das wären 5.200 Lehrerstellen. Man kann immer über Zahlen reden, aber schon die Hälfte von 5.200 Lehrerstellen ist viel Geld. Das sind viele Ressourcen, die man in unserem Schulsystem besser einsetzen könnte.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Es gibt also viele Gründe dafür, dass sich die Politik anstrengt, Sitzenbleiben überflüssig zu machen. In den Worten unseres Kultusministers ist es aber blanker Unsinn und bildungspolitischer und pädagogischer Populismus. Offensichtlich liest der Kultusminister die Pressemitteilungen seines eigenen Hauses nicht, denn dort wird gelobt, dass die Zahl der Pflichtwiederholer reduziert worden ist. Die individuelle Förderung kommt im Übrigen in jeder Pressemitteilung vor. Also ist das alles Unsinn und bildungspolitischer Populismus? − Offensichtlich ja.

Auch in Bayern hat man gesehen, was möglich ist, wenn das Sitzenbleiben politisch nicht mehr geht. Ich erinnere an die Umstellung vom G 9 auf das G 8. Da durfte beim letzten Jahrgang des G 9 niemand sitzenbleiben, weil ein Sitzenbleiber im G 8 nicht hätte weitermachen können. Deshalb hat die damalige Kultusminister Monika Hohlmeier schon 2005 erklärt, wenn sich Leistungsprobleme abzeichnen, dann müssen spätestens ab dem Halbjahr gezielte Fördermaßnahmen durch die Schule angeboten werden. Das wäre eigentlich der richtige Weg. Herr Kultusminister Dr. Spaenle hat zum Schluss ein ganzes Maßnahmenpaket geschnürt, zum Beispiel mit der Entlastung von Schulaufgaben und der sogenannten Günstigkeitsklausel, bei der die Schüler entscheiden konnten, ob die mündliche oder die schriftliche Note mehr gewichtet wird. All das geht, wenn das Sitzenbleiben politisch nicht mehr möglich ist. Deswegen halten wir es für notwendig, dass wir uns als Bildungspolitiker das Ziel setzen, das Sitzenbleiben überflüssig zu machen. Es entspricht auch den Werten unserer Bildungspolitik, kein Kind zurückzulassen und zu versuchen, jedem gerecht zu werden.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Nur eine Bildungspolitik, die sich solche Ziele setzt und mit ihren Werten ernst macht, wird tatsächlich eine individuelle Förderung auf den Weg bringen.

Eine kleine Anmerkung zum Dringlichkeitsantrag der FREIEN WÄHLER. Ich war unschlüssig, was dieser Antrag bedeuten soll. Ich habe die Überschrift und den Text nicht zusammengebracht. Nachdem ich die Rede des Herrn Kollegen Felbinger gehört habe, haben wir uns dafür entschieden, dass wir diesen Dringlichkeitsantrag ablehnen, weil in der Argumentation der FREIEN WÄHLER eine Dissonanz besteht. Wir müssen schon aus pädagogischen Gründen einen solchen Antrag ablehnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Weil wir das Sitzenbleiben überflüssig machen wollen, müssen wir die Ressourcen gezielt für die individuelle Förderung einsetzen, damit an den Schulen kleinere

Lerngruppen gebildet und Lehrkräfte als Lernbegleiter arbeiten können. Jede Lehrkraft soll über den Unterricht hinaus nur für eine kleine Gruppe von Schülern zuständig sein, damit sie Beziehungen aufbauen, Lernprobleme ansprechen und sich um Lernstrategien kümmern kann. Dafür sind Anrechnungsstunden notwendig. Mit diesen Mitteln können die Schulen entsprechende Modelle entwickeln. Deshalb ist es notwendig, dass die Schulen mehr Verantwortung bekommen. Jeder, der sagt, wir bräuchten das Sitzenbleiben, damit sich die Schüler mehr anstrengten, stellt sich selbst ein schlechtes pädagogisches Zeugnis und ein bildungspolitisches Armutszeugnis aus. Ja, es geht um Leistung. Ja, es geht um Anstrengungsbereitschaft. Da sind wir uns mit den Menschen und der Mehrzahl der Eltern in Bayern einig. Die Eltern wollen die guten Leistungen, aber sie wollen nicht die Leistung um diesen Preis, den sie mit dem Schulsystem in Bayern zahlen müssen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie wollen diese Leistung nicht um den Preis der Demütigung und nicht um den Preis der Niederlage. Die meisten Schülerinnen und Schüler empfinden das Sitzenbleiben als Niederlage auf der ganzen Linie, auch in den guten Fächern, bei denen sie das nicht verdienen. Weil wir Leistung nicht um den Preis des ständigen Drucks wollen, haben wir uns das Ziel gesetzt, das Sitzenbleiben überflüssig zu machen. Ich bin davon überzeugt, dass die Eltern in Bayern dies genauso sehen: Leistung ja, aber nicht um diesen Preis.

Ich bin davon überzeugt, dass die Wählerinnen und Wähler das Sitzenbleiben des Ludwig Spaenle über den 15. September hinaus abschaffen werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Staatsminister, Sie haben schon vorher bereitgestanden. Jetzt dürfen Sie die Stellungnahme der Staatsregierung abgeben.

Sehr geehrter Herr Präsident! Ich stehe für dieses Haus stets bereit.

Der bildungspolitische Experte und SPD-Spitzenkandidat spricht ganz deutlich vom Abschaffen des Instruments des Pflichtwiederholens. Um seinem Erfahrungshorizont, der offensichtlich aus der Althippiezeit stammt, einigermaßen gerecht zu werden, müssen die wirklichen bildungspolitischen Fachleute heute Pirouetten drehen.

(Beifall bei der CSU und der FDP - Harald Güller (SPD): Das Wort "Niveau" haben Sie auch noch nie gehört!)

- Sie schreiben es zumindest nicht.

Jetzt zur Sache: Wer jungen Menschen, die aufgrund ihrer Leistungsentwicklung ein Jahr zusätzlicher Lernzeit in Anspruch nehmen, das Stigma des Versagers umhängt, der handelt pädagogisch völlig unsinnig.

(Beifall bei der CSU und der FDP)

Wir gehen in Bayern von dem Grundsatz aus, dass wir die jungen Menschen dort abholen, wo sie stehen. Wir unterstützen die jungen Menschen auf ihrem individuellen Bildungsweg. Die jungen Menschen entwickeln sich unterschiedlich. Deswegen ist es die Philosophie dieser Staatsregierung und der sie tragenden Koalition in dieser Legislaturperiode, den jungen Menschen die Förderung zu ermöglichen, die sie benötigen, um in der Schullaufbahn den angestrebten Abschluss zu erreichen. Dafür gibt es eine ganze Fülle von Instrumenten, die schon benannt worden sind. Ich möchte nur kurz auf die Intensivierungsstunden am Gymnasium und den Mittelschulen und auf den Förderunterricht an den Realschulen hinweisen. Nennen möchte ich auch den Ausbau der Ganztagsangebote.

Wir haben das Instrument des probeweisen Vorrückens weiterentwickelt. Die Lehrerkonferenz hat die Möglichkeit, eine Leistungsprognose für die jungen Menschen abzugeben, die dann auf Probe in die nächste Jahrgangsstufe vorrücken können, ihrem Entwicklungsgang gemäß. Wo dies notwendig ist, kann der einzelne junge Mensch das Maß an Lernzeit in Anspruch nehmen, das er für den angestrebten Abschluss benötigt, abgekoppelt von der regulären Schulbesuchsdauer. Diese Möglichkeit besteht in der flexiblen Grundschule und in der Mittelschule, wo der Mittlere Abschluss nach elf statt nach zehn Jahren erworben werden kann.