Protokoll der Sitzung vom 14.10.2009

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir können beginnen. Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen. Ich eröffne die 30. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich noch zwei Geburtstagsglückwünsche aussprechen. Am 10. Oktober feierte Herr Kollege Otto Zeitler einen halbrunden Geburtstag, und heute hat Herr Kollege Martin Bachhuber Geburtstag.

(Allgemeiner Beifall)

Ich wünsche Ihnen im Namen des gesamte Hauses und persönlich alles Gute und viel Erfolg für Ihre parlamentarischen Aufgaben.

Meine Damen und Herren, ich darf Ehrengäste aus Baden-Württemberg auf der Tribüne begrüßen. Ich heiße den Präsidenten des Landtags von Baden-Württemberg, Herrn Dr. Peter Straub, und die Stellvertretende Präsidentin, Frau Christa Vossschulte, sowie ihre Delegation sehr herzlich willkommen.

(Allgemeiner Beifall)

Unsere Gäste halten sich zu einem Informationsbesuch im Bayerischen Landtag auf. Wir hatten schon einen Gedankenaustausch über die Erfahrungen, die Handhabung der Geschäftsordnung und die Arbeit in den Parlamenten. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen und interessanten Aufenthalt hier im Plenum und eine gute Weiterreise.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde gem. § 65 GeschO auf Vorschlag der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN "Pädagogische Förderung statt Grundschulabitur"

Für die heutige Sitzung ist die Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN vorschlagsberechtigt. Sie hat eine Aktuelle Stunde beantragt zum Thema: Pädagogische Förderung statt Grundschulabitur.

In der Aktuellen Stunde dürfen die einzelnen Redner grundsätzlich nicht länger als fünf Minuten sprechen. Auf Wunsch einer Fraktion erhält einer ihrer Redner bis zu zehn Minuten Redezeit; dies wird auf die Anzahl der Redner der jeweiligen Fraktion angerechnet. Ergreift ein Mitglied der Staatsregierung das Wort für mehr als zehn Minuten, erhält auf Antrag einer Fraktion eines ihrer Mitglieder Gelegenheit, fünf Minuten ohne An

rechnung auf die Zahl der Redner dieser Fraktion zu sprechen.

Erster Redner ist Herr Kollege Gehring. Bitte kommen Sie an das Rednerpult. Sie haben das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Anlass für diese aktuelle Debatte ist die Aufforderung an die Staatsregierung, innezuhalten und ihr Projekt der Veränderung des Übertrittsverfahrens von Grundschulen an die weiterführenden Schulen zu stoppen sowie zu revidieren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es gilt die Briefe von tausenden Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern ernst zu nehmen. Liebe Staatsregierung, diejenigen, die Ihr Konzept in der Praxis umsetzen sollen, legen ihr Veto ein. Dies ist kein Protest aus berufsständischen Interessen, sondern die Intervention der Profis. Die Praktiker vor Ort sagen: So geht das nicht. Euer Vorhaben macht die Ergebnisse unserer Arbeit schlechter und nicht besser.

Liebes Kultusministerium, bitte reagieren Sie nicht mit den Worten: Die Lehrerinnen und Lehrer haben das Übertrittsverfahren lediglich noch nicht richtig kapiert. Möglicherweise verfassen Sie ein weiteres KMS oder zitieren die Schulleiter nach München. Hören Sie auf, die Lehrerinnen und Lehrer nach dem Motto zu belehren: Hier in München wissen wir, wie es geht; nur die da unten haben es noch nicht kapiert oder wollen es nicht kapieren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Setzen Sie auf die pädagogischen Kompetenzen unserer Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer und nehmen Sie die Einwände ernst. Durch die neue Übertrittsregelung schränken Sie die pädagogische Kompetenz ein. Die bürokratischen Vorschriften stehen vor der pädagogischen Freiheit der Lehrkräfte. Die pädagogische Freiheit ist immer eine Freiheit des pädagogischen Handelns im Sinne der Bedürfnisse der Kinder. Nehmen Sie diese Lehrerinnen und Lehrer ernst, und behandeln Sie Schulen nicht wie nachgeordnete Behörden, die das vollziehen müssen, was ihnen von oben vorgeschrieben worden ist. Liebe FDP, machen Sie ernst im Bezug auf die Selbstständigkeit der Schulen, vor allem im Bezug auf die pädagogische Selbstständigkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dieses neue Übertrittsverfahren haben wir bereits diskutiert. Ich möchte einen Punkt kritisieren, der in diesem Schuljahr praxisrelevant wird. Die Gelenkklasse, über die wir ebenfalls viel reden können, wird erst ein Jahr

später kommen. Zu kritisieren ist, dass ein Probezeitraum und ein Lernzeitraum festgelegt wird. Für die Probephase ist festgelegt worden, dass 22 Probearbeiten in der vierten Klasse geschrieben werden müssen; mindestens 10 in Deutsch sowie jeweils 5 in HSU und Mathe. So steht es im KMS. Herr Eisenreich, das sollten Sie lesen. Dort steht alles drin. Schön ist ebenfalls die Begründung, die das Kultusministerium dazu liefert: Die Schülerinnen und Schüler sollten auf die Proben hingewiesen werden. Es gebe viele Möglichkeiten, sich darauf vorzubreiten. Die Probephase schule die Arbeitstechniken, die in der Jahrgangstufe fünf gebraucht würden.

(Ulrike Gote (GRÜNE): Super!)

Also, einfach gesagt, es geht nur um das Einüben, um das in den Gymnasien leider noch häufige Pauken vor Schulaufgaben. Das soll also jetzt schon in der Grundschule stattfinden. Es ist das Prinzip der Lernbulimie, das dort stattfinden soll.

(Beifall der Abgeordneten Ulrike Gote (GRÜNE))

Ausgerechnet das soll den Leistungsdruck reduzieren! Meine Damen und Herren, das Gegenteil wird der Fall sein. Der Leistungsdruck wird sich erhöhen, die Prüfungsphasen werden für die Schülerinnen und Schüler zur Stressphase werden, das Bauchweh vor der Probearbeit kommt, das Krankwerden, der Stress, der Blackout. Gerade die Kinder mit Lernschwierigkeiten werden demotiviert, die Versagensängste nehmen zu und werden ein Leben lang halten. Wer lebenslang lernen muss und schon früh gemerkt hat, dass er versagen kann, der wird keine Lust mehr auf lebenslanges Lernen haben.

Durch die verbindliche Festlegung von Lern- und Prüfungsphasen kommt es zu einer massiven Beeinträchtigung der Grundschulpädagogik. Das Gute an der Grundschulpädagogik, das differenzierte schülerorientierte Lernen, die individuelle Förderung, das Wählen von Projektphasen, die flexible Stundengestaltung, was beim Klassenleiterprinzip möglich ist, all das wird durch diese administrativen Vorgaben erheblich beeinträchtigt. Das, was die Grundschule so pädagogisch erfolgreich macht, die pädagogische Arbeit für das Kind, ein Lernen, das die Kinder stärkt und die Sachen klärt, ein Lernen eben nicht nur um der Noten willen - diese erfolgreiche Arbeit wird behindert.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die Grundschule ist die erfolgreichste Schule in Bayern. Das zeigen auch die internationalen Leistungsvergleiche. Aber genau an dieser Grundschulpädagogik setzen Sie an und machen sie schlechter. Der Grund ist natürlich die gesamte

Reform des Übertrittsverfahrens. Sie spüren den politischen Druck, der wegen dieses Übertrittsverfahrens besteht, den Druck von Eltern, von Lehrern, von Verbänden und aus der Politik. Sie hatten das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, und Sie haben reagiert. Aber diese Reform des Übertrittsverfahrens ist eine Verschlimmbesserung.

Wir sehen es hier am konkreten Fall. Die Festlegung dieser Prüfungsphasen baut den Druck eben nicht ab, sondern auf. Die Gelenkklasse hat jetzt schon Arthrose. Und weil Sie merken, dass das alles nicht so funktioniert, wollen Sie jetzt alle bei der Hand nehmen. Die Lehrerinnen und Lehrer bekommen genaue Vorgaben, wie sie einteilen müssen. Die Eltern werden massiv beraten. Die Schülerinnen und Schüler bekommen einen Prüfungskorridor. Sie meinen, wenn Sie alle bei der Hand nehmen, dann wird das schon besser, statt auf die Kompetenz zu setzen, die vor Ort vorhanden ist.

Was Sie machen, ist ein Herumdoktern am System, und Sie präsentieren dabei viele schöne neue Namen. Sie haben zur Grundschule viele neue Ideen. Jetzt ist von der Abschaffung des Sitzenbleibens in der Grundschule die Rede. Das klingt natürlich sehr schön, das finden wir auch toll. Sie reden von der flexiblen Grundschulzeit. Sie reden davon, dass die Grundschule in drei oder in fünf Jahren durchlaufen werden soll. Das klingt gut. Es klingt auch ein bisschen nach längerer Grundschulzeit. Das ist so ähnlich wie Ihre Geschichte mit den zwei Jahren Kindergarten und vier Jahren Grundschule. Das sind dann auch sechs Jahre Grundschulzeit.

Also, man hat das Gefühl, Sie merken, dass Sie doch irgendwie das Thema sechsjährige Grundschule nicht wegdiskutieren können, und da machen Sie es irgendwie so "verschwiemelt". Machen wir uns nichts vor: Sie wählen hier Begriffe, aber was dahinter ist, kann dem einfach nicht standhalten.

Wenn Sie schon eine flexible Grundschulzeit hätten, eine Grundschulzeit, in der unterschiedliche Geschwindigkeiten zum Beispiel in den Klassen 1 und 2 möglich sind, könnten Sie bereits gemachte Modellversuche nutzen. Das heißt dann jahrgangsübergreifendes Lernen als Prinzip, das heißt Auflösung des Klassenverbandes, das heißt Einsatz eines zweiten Pädagogen, das heißt enge Vernetzung mit dem Kindergarten. Das müssten Sie machen, wenn Sie davon reden.

Das, was Sie hier machen, wird dazu führen, dass vielleicht einige begabte Schülerinnen und Schüler nach der 3. Klasse mit acht Jahren auf das Gymnasium oder die Realschule können. Das sind sicherlich intelligente Kinder. Aber ob diese Kinder von ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung schon so weit sind und ob man

diesen Kindern wirklich einen Gefallen tut, das wage ich sehr zu bezweifeln.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Generell hat man bei der Politik der Bayerischen Staatsregierung in den letzten Jahren und auch bei dem, was jetzt passiert - ob das das Büchergeld ist, ob es die permanente Vorverlegung des Einschulungszeitpunkts war, die Sie jetzt Gott sei Dank zurückgenommen oder gestoppt haben, ob es die Kategorisierung des Sozialverhaltens war, ob es jetzt das Übertrittsverfahren ist -, den Eindruck, dass es, wie kürzlich jemand zu mir gesagt hat, eine Politik mit ADNSyndrom ist: "ADN" wie "Anordnen, Durchführen, Nachdenken", und zwar in dieser Reihenfolge.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Deswegen: Stoppen Sie dieses Übertrittsverfahren! Arbeiten Sie an einer Schule längeren gemeinsamen Lernens! Sie kommen um diese Frage nicht herum. Schauen Sie nach Hamburg, schauen Sie ins Saarland zu Ihren Parteikollegen, die diese Wege beschreiten. Auch in Bayern werden wir um diese Diskussion nicht herumkommen. Sie werden diesen Weg gehen müssen. Wir brauchen eine Schule über die 4. Klasse hinaus, die die Kinder individuell fördert, die unterschiedliche Lerntempi zulässt. Das ist in einer Schule des längeren gemeinsamen Lernens und der individuellen Förderung besser möglich.

Gerade in den Grundschulen gibt es bei den Grundschulpädagoginnen und -pädagogen viel Kompetenz für diese Pädagogik. Nutzen Sie diese Kompetenz bei einer Schulreform in Bayern, aber machen Sie keine Bildungsreform, die gerade die gute Arbeit der Grundschulen kaputt macht.

(Beifall bei den GRÜNEN sowie der Abgeordneten Johanna Werner-Muggendorfer (SPD) und des Abgeordneten Hubert Aiwanger (FW))

Danke schön, Herr Kollege. Als Nächste hat Frau Kerstin Schreyer-Stäblein das Wort. Bitte schön.

Sehr geehrtes Präsidium, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel, den die Fraktion der GRÜNEN für die Aktuelle Stunde gewählt hat, ist schon allein höchst fragwürdig: "Pädagogische Förderung statt Grundschulabitur". Ich kann mir nicht vorstellen, dass die GRÜNEN wirklich davon ausgehen, dass in unseren Grundschulen keine oder eine nicht ausreichende pädagogische Förderung stattfindet. Ich darf sagen: Auch wir als CSU-Fraktion sind sehr stolz auf unsere fachlich gut ausgebildeten Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer.

(Beifall bei der CSU - Lachen bei den GRÜNEN - Ulrike Gote (GRÜNE): Warum machen Sie die dann kaputt?)

- Hören Sie noch zu, bis ich fertig bin; dann gebe ich Ihnen die Antworten.

(Ulrike Gote (GRÜNE): Sie haben nicht zugehört!)

Hier wird trotz all dieser Schlechtmacherei eine ausgesprochen gute und engagierte Arbeit geleistet. Unsere bayerischen Schüler fühlen sich wohl in der Grundschule, wenngleich jede Schulart immer besser werden kann. Daran arbeiten die Schüler, die Eltern, die Lehrer und die Politik.

Es geistert auch immer wieder das Argument herum, die Kinder hätten Angst vor dem Übertritt, und sie erlitten psychische Schäden. Ich darf dazu die Studie der Universität Dortmund in Erinnerung rufen, in der deutlich herausgearbeitet wurde, dass sich der überwiegende Teil der Schüler auf eine neue Schulart freut. Lediglich 7,7 % sind wegen des Übertritts in Sorge.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Wir müssen uns natürlich um diese 7,7 % der Schüler kümmern, und wir müssen Wege suchen, wie wir ihnen helfen können, einen entsprechenden guten Schulweg beschreiten zu können. Die 4. Klasse entscheidet sicherlich auf den ersten Blick, wohin die Schüler gehen, sie entscheidet aber nicht über die gesamte berufliche Laufbahn.

Was sollen wir nun unter "Grundschulabitur" verstehen? Das ist ein merkwürdiges Wort, vor allem dann, wenn man sich solide mit den Gegebenheiten der Grundschule auseinandersetzen möchte. Ich wünsche mir, dass wir auch in dieser Plenarsitzung dazu beitragen, die Kinder in den Mittelpunkt zu stellen. Wir sollten nicht durch markige Sprüche und eine entsprechende Wortgewandtheit für tolle Presseartikel sorgen, sondern überlegen, wo wir wirklich mit den Kindern vorwärtskommen wollen.