Protokoll der Sitzung vom 11.03.2010

Sehr geehrte Herren und Damen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erlaube mir heute, Herrn Vizepräsidenten Bocklet zu vertreten, da dieser wie einige hier im Saal aufgrund der Wetterlage nicht rechtzeitig erscheinen kann. Ich eröffne die 43. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Diese ist selbstverständlich erteilt worden.

Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 1:

Ministerbefragung gem. § 73 GeschO auf Vorschlag der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN "Irrfahrt in der Gesundheitspolitik: Welchen Kurs nimmt die Bayerische Staatsregierung?"

Zuständig für die Beantwortung ist der Minister für Umwelt und Gesundheit, Herr Dr. Söder. Die erste Fragestellerin ist Frau Abgeordnete Schopper. Bitte schön.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Minister! In der Gesundheitspolitik stehen die Zeichen zurzeit auf Sturm. Das Vertrauen unter den Koalitionspartnern verhält sich ähnlich wie bei Hund und Katze. Die Landesgruppe im Bundestag und die Spitze der Staatsregierung sind sich in herzlicher Abneigung zugetan. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit innerhalb der CSU lässt sich anhand der Stasi-Methoden, mit denen in der Staatskanzlei gearbeitet wird, illustrieren. Dabei war die Welt doch eigentlich so schön. Die Unterzeichnung des Koalitionsvertrags hat Lust auf mehr gemacht. Herr Ministerpräsident Seehofer hat sogar gesagt, dass die CSU der Stabilitätsanker dieser Koalition sei. Wenn Sie Stabilität so definieren, möchte ich nicht wissen, was Sie als Chaos bezeichnen.

Herr Minister, Sie hatten am 27.11. behauptet, dass Sie den Koalitionsvertrag wie eine Bibel behandelten. Was beschlossen worden sei, müsse umgesetzt werden. Wir zweifeln jedoch an Ihrer Bibelfestigkeit.

Die Umsetzung des Koalitionsvertrags, an der im Arbeitskreis gearbeitet wird, zweifeln wir stark an. Sie haben selbst gesagt, dass im Arbeitskreis das Expertenwissen fehle. Deshalb frage ich Sie: Wie verhält es sich im Arbeitskreis der CSU? Inwieweit ist Expertenwissen dort vorhanden?

Mit dem Koalitionsvertrag wurde festgelegt, dass das bestehende Ausgleichssystem langfristig in eine Ordnung mit mehr Beitragsautonomie, regionaler Differenzierungsmöglichkeit und einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die sozial ausgeglichen

werden, überführt wird. Wie wollen Sie dies konkret umsetzen?

Einig sind sich die FDP und die CSU nur bei der Einfrierung des Arbeitgeberanteils und beim Aus der paritätischen Finanzierung. Wie soll der Sozialausgleich organisiert werden? Das Finanzvolumen beträgt bei einem Beitrag in Höhe von 45 Euro monatlicher Pauschale 21 Milliarden Euro. Wollen Sie dies über die Mehrwertsteuer ausgleichen oder sehen Sie darin eine Frage der Gerechtigkeit? Möglicherweise planen Sie auch, einen Ausgleich über die Einkommenssteuer vorzunehmen. Wie sind Ihre Einschätzungen hierzu?

Ihr Bundesminister Schäuble hat auf die Frage der GRÜNEN im Bundestag geantwortet, dass bei einem Finanzbedarf von 22 Milliarden Euro die Einkommensteuer im Spitzensatz auf 73 % angehoben werden müsste. Sollte der Finanzbedarf 35 Milliarden Euro betragen, wäre ein Spitzensteuersatz von 100 % notwendig. Wie können Sie dies angesichts der prognostizierten und immer wieder versprochenen Steuersenkung vonseiten der FDP und auch der CDU/CSU vertreten? Die angekündigten Steuerentlastungen führen Sie damit ad absurdum.

Die Kopfpauschale halte ich für ungerecht und unbezahlbar. Wie wollen Sie die Gesundheitspolitik der Zukunft in konkreten Schritten umstrukturieren? Bisher haben wir immer nur ein Nein von Ihnen vernommen. Deshalb sollten Sie skizzieren, welche konkreten Umstellungen Sie fordern. Sie haben im Wahlkampf eine höhere Honorierung und mehr Transparenz versprochen. Nach dem Gackern fehlt jedoch das Eierlegen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Bitte, Herr Staatsminister.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist die Gesundheitspolitik wahrscheinlich eine der wichtigsten gesellschafts- und sozialpolitischen Fragen der Zukunft. Ich gehe sogar weiter und sage: Das, was die Bildungspolitik für die erste Hälfte des Lebens bedeutet, ist die Gesundheitspolitik für die zweite Lebenshälfte. Gesundheitspolitik ist nicht nur eine soziale Frage, die weit über die Diskussion über Hartz IV hinausgeht, sondern auch eine Herausforderung für die unterschiedlichen Regionen. Für Bayern spielt die medizinische Versorgung im Hinblick auf die Zukunft des ländlichen Raums eine große Rolle. Die Perspektive für die Zukunft ist dort, wo Ärzte und die entsprechende medizinische Versorgung angesiedelt sind.

Wie finanzieren wir jedoch die geplanten Maßnahmen? Frau Schopper, Sie haben im Wesentlichen über Bundesfragen nachgedacht. Wir sind jedoch im Bayerischen Landtag. Ich kann Ihnen nur über unsere Vorstellungen berichten.

Ich persönlich denke, es ist eine Lebenslüge zu glauben, dass in einer Zeit, in der die Menschen älter werden, der medizinisch-technische Fortschritt wächst und eine verstärkte menschliche Zuwendung in der Medizin benötigt wird, Kostensenkungen in den nächsten 20 Jahren möglich seien. Die entscheidende Frage ist dabei, wie die Kostensteigerungen am Ende gerecht verteilt werden und auf welchen Schultern und in welcher Form sie stattfinden.

Derzeit haben wir zwei Probleme, die aktuellen Defizite der gesetzlichen Krankenversicherung und die langfristige Herausforderung. Der Bund hat einen Teil der zu erwartenden Defizite bei den Krankenkassen in diesem Jahr - das fand ich gut - durch Steuereinsätze abgemildert. Der Zuschuss des Bundes beträgt knapp vier Milliarden Euro. Zusätzlich ist positiv anzumerken, dass der Bund sehr viele Steuermittel in das Gesundheitssystem investiert. Wie die Defizite in Zukunft ausgeglichen werden, werden die weiteren Vorschläge zeigen. Ob die Vorschläge tatsächlich greifen, ist eine spannende Frage, über die wir im Einzelfall diskutieren müssen.

Für die langfristige Finanzierung gibt es unterschiedliche Modelle. Aus meiner Sicht sind dabei drei Dinge besonders wichtig: Erstens: Ich halte die Kopfpauschale in ihrer reinen Form nicht für ein zukunftsgerechtes Finanzierungssystem.

(Beifall bei der CSU)

Dies hat mehrere Gründe. Wir haben die Einführung der Kopfpauschalen oder Prämienmodelle in der Schweiz und den Niederlanden verglichen. Die Modelle haben dort nicht zu Kostensenkungen, sondern zu Kostensteigerungen geführt. In der Schweiz sind die Kosten um circa 14 % gestiegen. In Holland gibt es eine neue Versicherungsstruktur, die einen Wettbewerb aufgrund der Prämien verhindert.

Zweitens. Für mich verletzt die Kopfpauschale in ihrer reinen Form das Solidaritätsempfinden. Nach dem Prinzip der Sozialversicherung sollte der Stärkere etwas mehr geben, damit der Schwächere ebenfalls eine angemessene medizinische Versorgung bis ins hohe Alter hinein erhält. Aufgrund des Sozialausgleichs würden 40 bis 50 % der Versicherten automatisch zu Empfängern. Dies ist ein Problem der Gerechtigkeit.

Drittens. Ein weiteres Problem stellt die Finanzierung dar. Die GRÜNEN haben im Bundestag interessanter

weise eine Anfrage an den Bundesfinanzminister gestellt. Die Beantwortung der Anfrage nach den Kosten der geplanten Kopfpauschale wurde übrigens mit dem Bundeswirtschafts- und dem Bundesgesundheitsministerium auf Beamtenebene abgestimmt. Danach sind so exorbitant hohe Schätzungen zutage getreten, dass aus meiner Sicht kaum an eine Finanzierbarkeit gedacht werden kann. Das ist meine und die Auffassung der Partei, der ich angehöre.

Auf der einen Seite haben wir im Gesundheitswesen keine Kostensenkung. Zudem befürchte ich, dass wir den Grundvertrag der Solidarversicherung gefährden, wenn wir etwas tun, das nicht finanzierbar ist. Daher glaube ich, dass eine Kopfpauschale zur Lösung weder der aktuellen noch der zukünftigen Fragen eine echte Chance bietet und dass deshalb das Modell gar nicht kommen wird.

Auf Bundesebene gibt es eine Kommission. Sie wird die erforderlichen Vorschläge erarbeiten. Diese werden wir dann gemeinsam bewerten.

Die Frage, wie ich mir das vorstellen kann, ist ganz einfach zu beantworten. Wir haben im Koalitionsvertrag auch darauf hingewiesen, dass sich die Einkommensunabhängigkeit nur auf die Frage des Zusatzbeitrags bezieht, nicht auf den gesamten Bereich der Pauschale, wie es in den letzten Wochen darzustellen versucht wurde.

Die Zukunft liegt im Wettbewerb der Kassen, und zwar auch unter dem Gesichtspunkt der Regionalität.

Gerade wenn es um die aktuellen Fragen der Konvergenz geht, spüren wir die große Herausforderung, dass die bayerischen Patienten und Beitragszahler dank eines relativ hohen Einkommens einen sehr hohen Betrag leisten, der über den Fonds verteilt wird. Die Umverteilungsmechanismen des Fonds sind letztlich nicht zu unseren Gunsten. Das können Sie auch an Folgendem erkennen: Bezüglich der Honorarverteilungen an Ärzte machen manche Länder, zum Beispiel Niedersachsen, einen Sprung von 17 %. In Bayern geht die Rechnung mit plus/minus null aus. Das muss man aber noch genau bewerten. Jedenfalls ist die Regionalverteilung entscheidend.

Deswegen können wir uns sehr gut vorstellen, eine Reduktion des Einheitsbeitrags und mehr Wettbewerbsautonomie der Kassen zu ermöglichen, damit Landeskassen und landesspezifische Kassen eine Perspektive haben. Die könnte ein Weg sein, den wir beschreiten müssen.

Ich sage ein Letztes. Wenn man über Einsparungen im Gesundheitswesen redet, ist die Fixierung allein auf die Einnahmenseite nicht richtig. Man muss auch über die

Ausgabenseite reden. Bezüglich der Ausgabenseite habe ich gestern die bayerischen Träger des Gesundheitswesens - Ärzte, Krankenhäuser, Kassen -zusammengerufen. Da haben wir vereinbart: Wir werden eine Liste von Vorschlägen zur Entbürokratisierung erstellen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es im Gesundheitswesen schätzungsweise 20 Milliarden Euro an Bürokratiekosten gibt. Bei den Kassen betragen sie allein - das steht auch auf der Homepage des Gesundheitsministeriums - zwischen 8 und 9 Milliarden Euro; das ist alt wie neu. Es gibt enorme Möglichkeiten, dagegen anzugehen.

Vergegenwärtigen Sie sich einmal: Der durchschnittliche Kontakt zwischen Arzt und Patient beträgt sieben Minuten. Der durchschnittliche Dokumentationsaufwand beträgt aber 14 Minuten. Damit hängt die Einführung eines neuen Berufs zusammen, nämlich des Dokumentationshelfers. Auch in Krankenhäusern muss eine Flut an Bürokratie geleistet werden. Wir sind uns sicher einig, dass man die Kosten deutlich reduzieren und Bürokratie abbauen kann, zumal kein Formular jemals eine therapeutische Wirkung bei einem Patienten gehabt hätte.

Wir glauben also an Möglichkeiten zur Einsparung von Bürokratie. Es gibt Vorschläge zum Pharmabereich, die man umsetzen kann. Ich finde sie interessant. Langfristig muss es zu einem besseren Wettbewerb zwischen den Kassen mit regionaler Verankerung kommen. Die Kopfpauschale hat aus meiner Sicht hingegen keine Perspektive.

Nach der Beantwortung der Hauptfrage steht die erste Nachfrage der antragstellenden Fraktion zu. Bitte, Frau Schopper.

Herr Minister, können Sie hier heute zusichern, dass Sie das alte Doppelspiel der CSU, Häuptling Gespaltene Zunge zu sein, also in Berlin Ja, aber in München Nein zu sagen, definitiv ausschließen können? Werden Sie der Kopfpauschale auf Bundesebene also nicht zustimmen, wodurch es zum Bruch der Koalition kommen würde? Das ist meine erste Frage.

Ich habe eine zweite Frage. Ganz konkret scheint mir Ihre Vision einer neuen Einnahmenseite im Gesundheitswesen noch nicht zu sein. Sie haben auf andere Länder verwiesen und gesagt, die Leistungen seien teurer geworden. Das stimmt, ich gebe Ihnen völlig recht, jedenfalls was die Schweiz und die Niederlande anbelangt. Aber wie wollen Sie konkret die Überversorgung regulieren, wenn wir wissen, dass wir in München mehr Herzkathetermessplätze haben, als sie in ganz Großbritannien zu finden sind? Wie wollen Sie die Überversorgung, die Unterversorgung und die Fehlver

sorgung regulieren und dabei die Bürokratie abbauen? Wie wollen Sie das tatsächlich bewirken? Oftmals muss man dazu doch mehr Bürokratie aufbauen als abbauen.

Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.

Ich spreche hier für die Staatsregierung. Die Staatsregierung ist immer geschlossen, einheitlich, stark und konsequent, und zwar auf allen Ebenen.

(Lachen bei den GRÜNEN)

- Nehmen Sie das einmal als gegeben hin!

Ich kann für mich eindeutig sagen, dass ich in dieser Position, übrigens auch in den Koalitionsverhandlungen, sehr zur Freude meiner gesamten Verhandlungspartner eine konsequente Haltung vertreten habe. Das konnte man auch in den einschlägigen Publikationen nachlesen. Dazu gibt es eine klare, einheitliche Bewertung.

Unabhängig davon, wie man Chancen und Risiken grundsätzlich bewertet, wird die Herausforderung in der Finanzierung liegen. Dazu haben Sie im Bundestag eine vernünftige Frage eingebracht. Da geht es jedenfalls um eine entscheidende Frage.

Sie haben von Über- und Unterversorgung geredet. Man muss einmal die normalen Zahlen und die Versorgungsvorgaben, die aus Berlin kommen, betrachten. In der Tat gibt es in einigen Bereichen eher eine Überversorgung, keine Unterversorgung. In vielen ländlichen Regionen scheint es aber umgekehrt zu sein. Wenn dort beispielsweise jemand seine Hausarztpraxis aufgibt, stellt sich die Frage der medizinischen Versorgung in der jeweiligen Struktur völlig neu. Deswegen müssen wir übrigens auf Dauer überlegen, ob die bisherigen Planungsbezirke so sind, dass eine bayerische Krankenversicherung darauf fast keinen Einfluss hat. Die Planungsbezirke werden weitgehend in Berlin eingeteilt. Diese muss man möglicherweise ändern, um die Versorgungsstruktur flexibler zu handhaben.

Dies wird sowieso die größte Herausforderung der Zukunft sein. Wir erarbeiten dazu zurzeit eine Ministerratsvorlage. Wir sind nämlich der Auffassung, dass die Versorgung im ländlichen Raum mehr Flexibilität braucht. Das hängt auch mit der Verweiblichung der Medizin und der Zusammensetzung der Medizinstudenten zusammen. Da befinden wir uns in einem sehr intensiven Dialog; denn darin liegt die Hauptherausforderung.

Trotzdem, Frau Schopper, gehe ich nicht so weit, zu sagen, unser Ziel müsse sein, die Arzt-Patient-Kontak

te zu reduzieren. Ich glaube sogar, dass es eher umgekehrt sein müsste: Wir müssen uns überlegen, wie wir die Menschlichkeit, die Humanität verstärken können.

Ich hatte kürzlich alle Patientenvertreter aus Bayern zu einem Gespräch eingeladen. Da gab es keine Klagen über Ärzte oder über fehlende medizinische Versorgung, aber manchmal gab es Klagen über zu wenig Zeit für menschliche Zuwendung.

Also müssen wir im Zusammenhang mit der Finanzierung des Gesundheitswesens und mit der Honorierung der Ärzte - da ist auch an Pfleger und überhaupt an alle Bereiche zu denken - überlegen, wie wir es schaffen, neben der Technik auch mehr Menschlichkeit, mehr Humandividende zu verwirklichen.

Das ist unbestritten ein ambitioniertes Ziel. Aber wenn wir über eine grundsätzliche Änderung reden, müssen wir auch daran denken. Das ist jedenfalls der Kompass, mit dem wir in die Debatte gehen werden.