Protokoll der Sitzung vom 14.07.2010

(Beifall bei der CSU und der FDP - Ulrike Gote (GRÜNE): Was für eine Unverschämtheit!)

Ein solches bildungspolitisches Pharisäertum wie heute habe ich schon lang nicht mehr erlebt. Die Jünger der Einheitsschule vergießen Krokodilstränen über den Ansatz, das erfolgreiche differenzierte Bildungswesen in Bayern fortzuentwickeln. Das entlarvt sich selbst.

(Beifall bei der CSU und der FDP)

Frau Kollegin Noichl, die eine Bemerkung gemacht hat, hat sich Gott sei Dank kurz aus dem Saal zurückgezogen. Ich hoffe, es dient der inneren Sammlung. Was hier in einem hitzigen Moment der politischen

Debatte an Begrifflichkeiten verwandt wurde, richtet sich selbst.

Ein Drittel der jungen Menschen in Bayern nimmt seine Bildungschancen an der Hauptschule wahr. Die Schülerzahl an vielen Hauptschulen geht deutlich zurück, was drei Gründe hat: Erstens die demografische Entwicklung, zweitens das Wahlverhalten der Eltern, was die Schullaufbahn ihrer Kinder betrifft, und drittens die Binnenwanderung innerhalb Bayerns, was die Herausforderung angeht, in ländlichen Räumen ein wohnortnahes Angebot an weiterführenden Schulen vorzuhalten.

Wir haben die bildungspolitische Verpflichtung, für eine Zahl von 160.000 bis 170.000 jungen Menschen, die auf Dauer an der Mittelschule ihre Bildungslaufahn absolvieren, ein Bildungsangebot zu schaffen, das Zukunft öffnet, festigt und gewinnt. Der IQB-Ländervergleich - wir werden es morgen noch vertieft darlegen - stellt nicht nur den Schülerinnen und Schülern einer Schulart in Bayern herausragende Zeugnisse aus. Die fünf ersten Plätze werden vielmehr von den Schülerinnen und Schülern aller weiterführenden Schulen, der Hauptschulen, der Wirtschaftsschulen, der Realschulen und der Gymnasien, gemeinsam mit ihren Lehrkräften errungen. Das ist die Wahrheit im Bildungssystem in Bayern.

(Beifall bei der CSU)

Wir werden mit der Mittelschule zwei große strategische Ziele umsetzen. Erstens werden wir die jungen Menschen, die sich auf den Weg insbesondere in die duale Ausbildung im gewerblich-technischen Bereich oder in anderen Bereichen machen, vorbereiten und ihnen einen fortentwickelten und zukunftsweisenden Weg für ihre Bildungschancen eröffnen. Es gibt keine andere Schulart als die Mittelschule, die in dieser Form und Intensität mit den beruflichen Schulen und der Welt der dualen Ausbildung zusammenarbeitet.

Fast 60 % der jungen Menschen, die im Moment in Bayern eine duale Ausbildung aufnehmen, kommen aus der Hauptschule und in Zukunft aus der Mittelschule. Wir werden - Herr Güll, mich enttäuscht Ihre Aussage ein Stück weit - mit dem weiterentwickelten mittleren Abschluss zum ersten Mal die Standards für den mittleren Bildungsabschluss der Kultusministerkonferenz landesweit in eine Schulart implementieren. Deshalb werden wir unter anderem - da hätte ich Ihnen schon zugetraut, dass Sie die Unterlagen kennen - im Fach Englisch eine Weiterentwicklung benötigen. So werden wir zum ersten Mal die Förderung in der Hauptschule mit dem Modell der Intensivierungsstunden, also Förderstunden mit doppelter Lehrerbesetzung, ab der fünften Klasse ermöglichen. Anschlie

ßend gibt es die Möglichkeit, sich auf den mittleren Abschluss etwa über einen M-Zug vorzubereiten.

Wir werden für die Kinder, die die Praxisklasse an der Pflichtschule absolvieren, einen von Theorie entlasteten neuen Hauptschulabschluss anbieten, der ihre Stärken hervorhebt, um ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt zu verbessern.

(Beifall bei der CSU)

Wir werden eine intensive, auf Dauer angelegte und landesweit bereits vorbereitete Kooperation zwischen den Mittelschulen und den beruflichen Schulen ins Werk setzen. Wir werden weitere Kooperationen, gerade auch die Kooperation mit der Realschule, weiterführen und qualifiziert ausbauen. Wir haben im Zusammenwirken mit den kommunalen Spitzenverbänden am 11. Februar des vergangenen Jahres einen, wie ich glaube, sehr wichtigen Grundsatz festlegen können, nämlich dass wir flächendeckend und bedarfsorientiert mit Ganztagsangeboten auch in ländlichen Räumen die Angebote verdichten.

Wir wollen - das ist der zweite strategische Ansatz, in dem wir uns ein großes Stück weit von Ihnen unterscheiden - das Thema der Bildungsgerechtigkeit in Bayern in den ländlichen Räumen genauso ernst nehmen wie in den Ballungsräumen. Wir wollen von den 979 Hauptschulen so viele wie möglich so lange wie möglich erhalten. Alle Jugendlichen sollen das gleiche Bildungsangebot vorfinden, gleich ob sie in der Landeshauptstadt München oder in einem ländlich strukturierten Gebiet in unserem Land wohnen.

Das hat drei Gründe, und mit dieser Konzeption sind wir bundesweit einzigartig: Wir wollen ein weiterführendes wohnortnahes Schulangebot, erstens weil ein weiterführendes wohnortnahes Schulangebot mit einem mittleren Abschluss ein Stück Lebensqualität bedeutet, zweitens weil es ein Stück Standortsicherheit bedeutet und drittens - jetzt kommt der entscheidende Moment - weil es ein Stück Bildungsgerechtigkeit bedeutet, wenn man wohnortnah Bildungsangebote wahrnehmen kann.

Wir tun dies mit einer Vermittlungsstrategie, die es in dieser Form in Bayern noch nicht gegeben hat. Allein die Intensität, mit der Sie im Protest gegen Dialogforen angerannt sind, macht Sie selbst verdächtig. Wir machen Betroffene zu Beteiligten.

(Beifall bei der CSU)

Wir gehen von dem Ziel aus, die einzelne Schule dauerhaft selbstständig mit einem eigenen Kollegium und einer eigenen Schulleitung zu erhalten, weil wir um die besondere Qualität von Schule im Dorf, im Markt

und in der Stadt wissen. Schule im Ort bedeutet soziale Gemeinschaft, und sie bietet identitätsstiftende Möglichkeiten weit über das Bildungs- und Erziehungsziel hinaus. Deshalb gehen wir den eigenverantwortlichen Schulverbund an. Dort werden wir die Mitwirkung der kommunalen Sachaufwandsträger so gestalten, wie noch an keiner Stelle im bayerischen Bildungssystem: Die Sachaufwandsträger erhalten Sitz und Stimme im Verbundsausschuss. Dabei wird nichts von oben übergestülpt. Das ist aufgrund der Expertise der kommunalen Sachaufwandsträger entstanden, mit denen Dr. Huber und ich Gespräche in ganz Bayern geführt haben. Die Schulfamilie soll mit dem Sachaufwandsträger auch in pädagogischen Fragen zusammenarbeiten. Sie sollen sich über die Stundenkontingente im Bereich der Budgethoheit, den Standort, die Klassenstärken und die Angebote einigen. Die Sachaufwandsträger und die Schulfamilie wirken über die Verbundversammlung unmittelbar in diese Prozesse ein. Sie stehen dabei ebenfalls unmittelbar in Kontakt mit den Vertretern, die für den Verbund verantwortlich sind.

Das kostet Stellen. Wir wollen die wohnortnahe weiterführende Schule. Sie soll den mittleren Abschluss anbieten, der nach den neuen Standards der Kultusministerkonferenz zum ersten Mal die inhaltliche Vergleichbarkeit mit den mittleren Abschlüssen der Wirtschaftsschule oder der Realschule gewährleistet. Der Ausbildungsbetrieb soll für das Elternhaus nachvollziehbar gemacht werden. Der Lehrplan, die Stundentafel und die Prüfungsaufgaben sollen in Englisch, Mathematik und Deutsch inhaltlich vergleichbar werden. Wir wollen diesen Weg konsequent weitergehen, weil wir nur auf diese Weise die wohnortnahe Versorgung mit weiterführenden Schulen auf Dauer in Bayern sicherstellen können. Dieser Dialog ist neu. Er ist intensiv und fordert die Kommunen. Die interkommunale Zusammenarbeit ist und wird in diesen Tagen auf eine ganz neue Ebene gestellt. Selbstverständlich ist dies eine Nachricht von besonderem Interesse.

Zwei Drittel der bayerischen Schulen können zusammen mit ihrem Sachaufwandsträgern selber darüber entscheiden, ob und wie sie sich auf den Weg zur Mittelschule machen. Zwei Drittel der Schulen in diesem Land haben von diesem Angebot Gebrauch gemacht. Mit 230 Verbünden bzw. einzelnen Mittelschulen wurden passgenaue Lösungen erarbeitet. Dies ist ein Musterbeispiel dafür, mit welcher Elastizität und Gestaltungsfreiheit wir in der Schulverwaltung unterwegs sind. Wir haben Dutzende von Einzelfalllösungen ermöglichen können.

An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Schulverwaltung in den Schulämtern und in der Regierung danken, die

dies ermöglicht haben. Schwarzach im Landkreis Straubing ist ein Beispiel dafür, dass die Gründung eines Schulverbundes mit Rücksicht auf die Schule und ihre Situation vollzogen werden muss. Der Schulverbund wird nach gemeinsamer Vereinbarung erst in einigen Jahren in Kraft treten. Wir haben es ermöglicht, alte Beziehungen zu Standorten außerhalb eines Verbundes weiterhin als Beschulungsort gangbar zu machen. Ich bin Herrn Kollegen Fahrenschon dafür dankbar, dass wir mit Beginn des kommenden Schuljahres alle pädagogisch bedingten Schülerverkehre nicht nur von zu Hause bis zur Schule - nach den üblichen Bezuschussungsregularien durchführen können. Dies war eine vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Kommunen.

Wir sind mit diesem Ansatz auf einem ambitionierten Weg, wohnortnahe weiterführende Schulen mit der Möglichkeit eines mittleren Abschlusses auf sicherem inhaltlichem Fundament überall in Bayern anbieten zu können. Das ist ein Weg, der uns von vielen in diesem Land unterscheidet. Wir stellen das differenzierte Bildungswesen gegen das Konzept der Einheitsschule. Der Chancenreichtum und die Chancengerechtigkeit sind nicht nur innerhalb Bayerns, sondern innerhalb der gesamten Bundesrepublik Deutschland beispielgebend.

(Beifall bei der CSU und der FDP)

Das Thema Ganztagsschulen und ihre sozial- und bildungspolitische Bedeutung ist bereits angesprochen worden. Lassen Sie mich zum Thema der Privatschulfinanzierung ein paar Takte sagen. Die Krokodilstränen und der Taschentuchverbrauch in der letzten halben Stunde waren bemerkenswert. In der vergangenen Legislaturperiode war ich selbst Ausschussvorsitzender und weiß, wie intensiv die Ausgestaltung eines Gesetzentwurfes ist. Wir haben im Dialog mit den Regierungsfraktionen den Gesetzentwurf der Staatsregierung weiterentwickelt. Der Gesetzentwurf basiert auf einer guten Zusammenarbeit und einer vorbildlichen Diskussionskultur zwischen dem Parlament und den Ministerien. Frau Kollegin Will hat eben bereits zum Ausdruck gebracht, dass das im Koalitionsvertrag niedergeschriebene Ziel damit umgesetzt worden ist. Die Privatschulfinanzierung wird damit vereinfacht und verbessert.

Im Vertrauens- und Bestandsschutz ist die Frage der Karenzzeit bei der Etablierung von Hauptschulzügen an bestehenden Montessorischulen zugunsten der Schulträger gelöst worden. Darüber hinaus haben wir für Schulträger, die bisher keinen Antrag auf eine Vollschule gestellt haben, eine Übergangszeit geschaffen; ihnen haben wir ebenfalls Vertrauensschutz gewährt. Bei der Neufassung der Finanzierungskulisse haben

wir für die Dauer der ersten beiden Schuljahre Echtzahlen zugrunde gelegt, um den Aufwuchs nachvollziehbar und abbildbar zu machen. Erst danach sollen die Schülerzahlen der amtlichen Schuldaten gelten. Wir haben die entsprechende Vertrauensschutzsituation für Schulen, die im Aufbau sind und antragstellend tätig waren, nachvollzogen, indem wir die auf Echtzahlen abgestützte Finanzierung für den ersten Durchlauf sichergestellt haben.

Ich bin den Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen dankbar für die intensive politische Beratung im vergangenen Jahr. Wir haben das Thema Mittelschule weiterentwickelt und das wohnortnahe weiterführende Schulwesen offen und intensiv mit allen Beteiligten diskutiert. Wir werden diese Form der Kommunikation über zentrale bildungspolitische Fragen fortführen. Wir werden noch in diesem Jahr umfassende Ansätze zur Weiterentwicklung der eigenverantwortlichen Schule mit den Koalitionsfraktionen und den entsprechenden Ressorts erarbeiten. Die Konzepte werden wir in diesem Hause selbstverständlich vorstellen.

Wir sind uns der Notwendigkeit bewusst, in einem Flächenstaat mit 12 Millionen Menschen und großen Unterschieden hinsichtlich der regionalen Schullandschaften zukunftzugewandte Bildungsangebote zu entwickeln. Wir stellen uns ausdrücklich der Diskussion um die Zukunft des differenzierten Bildungswesens mit guten Argumenten. Ich freue mich schon auf den morgigen Tag. Ich bedanke mich bei den Koalitionsfraktionen für die große Unterstützung. Ich freue mich, wenn wir heute diesen wichtigen Schritt in der Bildungspolitik in dieser Legislaturperiode gehen können.

(Anhaltender Beifall bei der CSU und der FDP)

Herr Minister, einen Moment noch. Für eine Zwischenbemerkung darf ich Herrn Kollegen Pfaffmann von der SPD das Wort erteilen.

Herr Staatsminister, ich weiß nicht, ob Sie einen Rat annehmen. Ich würde Ihnen raten, die arrogante Art und Weise der Darstellung der Bildungspolitik in Bayern in diesem Plenum zu überprüfen.

(Widerspruch bei der CSU und der FDP)

Sie haben keinerlei Grund, sich als bester Bildungspolitiker der Republik aufzuspielen. Ich sage Ihnen, warum. Sie als Retter der Hauptschule haben in den letzten Jahren 700 Hauptschulen geschlossen. Sie haben ein G 8 eingeführt, das letztendlich für Eltern

und Schüler eine Katastrophe ist. Ich nenne Ihnen einen weiteren Grund.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Sie teilen Schülerinnen und Schüler ab ihrem 10. Lebensjahr auf, egal wie ihre Lernerfolge sind. Sie haben die größten Klassen und die wenigsten Ganztagsschulen in ganz Deutschland.

(Zurufe von der CSU)

Angesichts dieser Bilanz singen Sie hier das Hohelied der Bildungspolitik in Bayern. Sie belügen die Menschen. Sie sagen, die demografische Rendite würde mit dem Gesetzentwurf im System verbleiben. Falsch. Sie haben im Haushalt 300 Stellen bei den Volksschulen unter Haushaltsvorbehalt gestellt. Sie haben weitere 600 Stellen aus den Volksschulen in die Gymnasien und in die Realschulen transferiert. Trotzdem behaupten Sie, Sie würden die demografische Rendite bei den Schulen belassen. Sie haben keinen Grund, sich in diesem Rahmen positiv über die Schulpolitik zu äußern. Über die Studie der letzten Woche werden Sie morgen reden. Dazu möchte ich Ihnen Folgendes sagen: In ganz Deutschland gibt es kein einziges Bundesland, in dem die Chancengerechtigkeit so miserabel ist wie in Bayern.

(Lachen bei der CSU)

Sie haben keinen Grund in dieser arroganten Art und Weise über Bildungspolitik zu sprechen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Minister, zur Erwiderung bitte.

Sehr geehrter Herr Pfaffmann, ich nehme selbstverständlich Ihren Rat an, den Weg der Bildungspolitik, den wir in Bayern verantworten, selbstkritisch zu überprüfen und auch ihre Darstellungsform jederzeit selbstkritisch öffentlich zu betrachten und die notwendige Seriosität zu wahren. Genauso nehme ich auf, dass Sie Tatsachen, die die Bildungspolitik in Bayern im Kern und in ihrer Qualität durchaus mit anderen vergleichbar erscheinen und Bayern nicht ganz hinten auf den Rängen finden lassen, nur selektiv zur Kenntnis nehmen. Das ist Ihr Privileg. Wir werden uns morgen vertieft darüber austauschen. Aber lassen Sie mich die Chimäre von der scheinbar nicht vorhandenen Chancengerechtigkeit im bayerischen Bildungswesen an einem Punkt deutlich korrigieren.

Wir stellen fest, dass der Zugangsfaktor zu gymnasialer Bildung für Kinder aus den sogenannten oberen

Verdienstklassen 6,5-fach höher ist als der für Kinder aus bildungsferneren Schichten. Heuer haben 35.000 junge Menschen das Abitur am Gymnasium gemacht, 26.000 junge Menschen haben entweder das allgemeine Abitur oder eine andere Form der Hochschulzugangsberechtigung an den beruflichen Oberschulen erworben, darunter ein besonders hoher Anteil von jungen Menschen mit Migrationshintergrund. Eine Anzahl junger Menschen hat sich mit anderen Qualifikationsmaßnahmen eine Hochschulzugangsberechtigung erworben. Nur wer diese Gesamtschau ernsthaft vornimmt, ist dann auch im Hinblick auf die Seriosität seiner Wortbeiträge entsprechend zu werten. Wir können das in den nächsten Tagen vertieft diskutieren.

(Beifall bei der CSU und der FDP)

Ich freue mich, auch weiterhin Ihre seriöse Mahnerfunktion entgegennehmen zu dürfen.

(Beifall bei der CSU)