Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die 12. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde wie immer vorab erteilt.
Aktuelle Stunde gem. § 65 GeschO auf Vorschlag der SPD-Fraktion "Jeder fünfte Bayer kann nicht richtig lesen und schreiben - Erwachsenenbildung endlich ernst nehmen!"
Ich bitte doch um Ruhe und bitte, die Plätze einzunehmen. Ich sage es heute zu Beginn der Sitzung: Ich bitte, die Gespräche außerhalb des Plenarsaals stattfinden zu lassen. – Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Oktober 2013 wurde die PIAAC-Studie – Programme for the International Assessment of Adult Competencies – veröffentlicht. Man könnte sie etwas salopp als "Pisa für Erwachsene" bezeichnen; denn mit dem Programm PIAAC hat die OECD, die bekanntlich auch für Pisa verantwortlich zeichnet, erstmals zentrale Grundkompetenzen der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter – zwischen 16 und 65 Jahren – untersucht. Es handelt sich dabei um eine repräsentative Studie, die in 24 Ländern durchgeführt wurde. An ihr haben in Deutschland 5.400 Personen teilgenommen. Künftig soll sie alle zehn Jahre wiederholt werden.
Drei wesentliche Grundkompetenzen wurden im Rahmen von PIAAC untersucht: erstens, die Lesekompetenz, womit das Verstehen, Nutzen und Interpretieren von geschriebenen Texten gemeint ist; zweitens, die alltagsmathematische Kompetenz, also die Fähigkeit, unterschiedliche mathematische Anforderungen im Alltag zu bewältigen, beispielsweise ein Sonderangebot zu bewerten; drittens, das technologiebasierte Problemlösen, das heißt die Kompetenz, digitale Technologien und Netzwerke für die Suche und die Vermittlung von Informationen zu nutzen.
Der Vergleich führte in den einzelnen Bereichen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Zwar können 12,6 % der Deutschen keine Maus bedienen, doch bewegt sich ihre Kompetenz im Umgang mit neuen Technolo
gien insgesamt im OECD-Durchschnitt. Leicht überdurchschnittlich sind die rechnerischen Fähigkeiten der Deutschen ausgeprägt, vor allem im oberen Kompetenzbereich.
Ausgesprochen bedenklich sind jedoch die Ergebnisse, was die Lesekompetenz angeht: 17,5 % der Deutschen – fast jeder Fünfte! – können maximal kurze Texte mit einfachem Vokabular lesen und – sehr begrenzt – verstehen. Solange für Bayern keine eigenen Zahlen vorliegen – solche wurden meines Wissens nicht erhoben –, müssen wir davon ausgehen, dass auch fast jeder fünfte Bayer des Lesens und Schreibens nur sehr unzureichend mächtig ist. Dieser Befund ist erschreckend. Darüber kann ein Landesparlament, kann eine Staatsregierung, die ihre Bildungspolitik immer als vorbildlich rühmt, nicht einfach hinweggehen.
Bisher rechnete man in Bayern – so die Antwort der Staatsregierung auf eine Anfrage des Kollegen Strobl vom Mai 2010 – mit lediglich 6,3 % Analphabeten. Jetzt wissen wir, dass deren Zahl fast dreimal so hoch ist.
Es ist nicht akzeptabel, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht über die erforderlichen und als selbstverständlich vorausgesetzten Kenntnisse im Lesen und Schreiben verfügt; das bezeichnet man nämlich als funktionalen Analphabetismus.
Was bedeutet es für einen Menschen, wenn er nicht richtig lesen kann? Zunächst natürlich, dass er Texte, mit denen er im alltäglichen Leben konfrontiert wird, nicht oder kaum versteht – seien es Medikamentenbeipackzettel, E-Mails oder Zeitungsartikel, um nur einige Beispiele zu nennen. Dies beeinflusst in hohem Maße seine Lebensqualität, wie die PIAAC-Studie sehr klar aufzeigt.
Menschen mit hoher Lesekompetenz haben in Deutschland eine fast viermal höhere Chance auf einen Arbeitsplatz als die genannten 17,5 % und verdienen im Schnitt über 60 % mehr. In beiden Fällen ist die Diskrepanz in Deutschland ausgeprägter als im OECD-Durchschnitt.
Die Lesekompetenz hat auch Auswirkungen, die man zunächst vielleicht nicht vermuten würde. Menschen mit niedriger Lesekompetenz klagen häufiger über gesundheitliche Probleme, sind seltener in Vereinen oder ehrenamtlich aktiv. Sie fühlen sich eher als Objekt und sehen kaum Möglichkeiten, selbst Einfluss auf die Verhältnisse zu nehmen. Verstärkt wird dieses
Ohnmachtsgefühl dadurch, dass sich gerade in Deutschland diese Menschen schon an ein Leben im gesellschaftlichen Abseits gewöhnt haben; denn in keinem anderen Land sind der Bildungsstand der Eltern bzw. die soziale Herkunft so prägend für die eigene Lesekompetenz wie in Deutschland. Dass der schulische Erfolg maßgeblich vom sozialen Status des Elternhauses bestimmt wird – in Bayern mehr als anderswo –, ist seit Jahren bekannt. Dass dieser Zusammenhang offenkundig das ganze Leben quasi unauflöslich bestimmt, mag überraschen, muss alarmieren und darf nicht Schicksal bleiben.
Was tun? - Wir haben ein Instrument zur Verfügung, das wir viel zu wenig nutzen: die Erwachsenenbildung. Sie ist in der Bayerischen Verfassung verankert. Genau die Defizite, welche die PIAAC-Studie aufzeigt, können durch die Erwachsenenbildung behoben oder zumindest gemildert werden. Sie kann beruflich verwertbare und andere Kenntnisse vertiefen, schöpferische Fähigkeiten entwickeln und Selbstbestimmung und Selbstverantwortung stärken – kurzum: Erwachsenenbildung hilft den Menschen, ihren Platz in der Welt, in der Gesellschaft zu finden.
Besser gesagt: Sie könnte; denn dazu bräuchte sie andere und deutlich bessere Rahmenbedingungen, als sie sie derzeit vorfindet. Wir lassen die Erwachsenenbildung am ausgestreckten Arm verhungern, anstatt sie so zu fördern, dass sie den wachsenden und sich verändernden Ansprüchen der Gesellschaft gerecht werden kann. Ein Beleg dafür ist zum Beispiel die Tatsache, dass im Gütesiegel "Bildungsregion in Bayern" die Erwachsenenbildung mit keiner Silbe erwähnt wird. Das ist ein Zeichen von Ignoranz, die die Erwachsenenbildung absolut nicht verdient hat und die wir uns absolut nicht leisten können.
Was hindert uns daran, die Einrichtungen der Erwachsenenbildung finanziell so auszustatten, dass sie ihre Arbeit gut machen können? Dafür reichen die 19 Millionen Euro, die derzeit im Haushalt vorgesehen sind, nicht aus. Für eine adäquate Vergütung der Dozenten genügen die zur Verfügung gestellten Mittel bei Weitem nicht. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind an der Tagesordnung.
Wir werden heute noch den Antrag zu einem Tariftreuegesetz in Bayern diskutieren. Auch öffentliche Auftraggeber sind verpflichtet, öffentlich tätige oder in öffentlichem Auftrag tätige Einrichtungen – wie die Einrichtungen der Erwachsenenbildung – so auszustatten, dass dort Tariflöhne gezahlt werden können.
Es geht aber nicht nur um Geld: Die eher geringe Wertschätzung der Erwachsenenbildung zeigt sich in Bayern auch darin, dass wir immer noch kein Weiterbildungsgesetz haben. Auch hier sind wir deshalb politisch gefordert. Deswegen wird die SPD-Landtagsfraktion ein Weiterbildungsgesetz und einen Vorschlag zur Novellierung des Erwachsenenbildungsförderungsgesetzes in dieses Parlament bringen.
Nutzen wir doch die Chancen, die die Erwachsenenbildung bietet, um allen Menschen bei uns zu der Grundbildung zu verhelfen, die sie für ein selbstbestimmtes Leben benötigen. Fördern wir die Erwachsenenbildung so, dass gleichwertige Bildungschancen in allen Regionen in Bayern entstehen!
Vielen Dank, Frau Kollegin. Ich darf jetzt für die CSU-Fraktion Frau Kollegin Dr. Eiling-Hütig das Wort erteilen. Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Mutter einer achtjährigen Tochter – das habe ich hier schon einmal erwähnt – und habe mich in den vergangenen Jahren intensiv darum gekümmert, dass diese gut Lesen und Schreiben lernt. Aus dieser Erfahrung heraus kann ich versichern, dass der Leseund Schreibunterricht in der Grundschule hier in Bayern sehr gut ist.
Es ist deshalb für mich nicht überraschend, dass die bayerischen Schülerinnen und Schüler in den vergangenen Jahren in allen Bildungsstudien gerade auch beim Lesen sehr gut abgeschnitten haben. Das bedeutet im Klartext:
- Wir haben Ihre Kollegin doch auch ausreden lassen. – Als ich das von der SPD gewählte Thema dieser Aktuellen Stunde gelesen habe, musste ich daher zweimal hinschauen. Jeder fünfte Bayer, wird dort behauptet, kann nicht richtig lesen und schreiben.
Ich weiß nicht, wo Sie diese Zahlen gelesen haben. Nach den mir vorliegenden Zahlen gibt es in Deutschland rund 7,5 Millionen Analphabeten, das sind etwas über 10 % der Bevölkerung. In der Mehrzahl handelt es sich dabei um sogenannte funktionale Analphabeten, auch primäre Analphabeten, die nicht oder nur rudimentär schreiben und lesen können.
In Bayern wird die Zahl der funktionalen Analphabeten auf rund 700.000 geschätzt. Das sind bei einer Bevölkerung von 12,5 Millionen etwas unter 10 % der Erwerbsfähigen. Die neueste Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu den Fähigkeiten und Fertigkeiten Erwachsener – Sie haben es eben gehört –, die Erwachsenen-PisaStudie, kommt zum Ergebnis, dass Erwachsene in Deutschland beim Lesen, Rechnen und Problemlösen mit Hilfe des Computers durchschnittlich abschneiden.
Ich komme aber zu einem anderen Schluss: Wenn man berücksichtigt, dass Bayern bei allen Bildungsstudien immer weit über dem deutschen Durchschnitt lag, dann darf man ruhig annehmen, dass die bayerischen Erwachsenen ebenfalls über dem Durchschnitt liegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns gerade bei diesem Thema davor hüten, aus politischen Gründen mit überzogenen Zahlen zu jonglieren; denn eine Zahl von rund 700.000 funktionalen Analphabeten
in Bayern ist zum einen schon hoch genug – nur einer ist schon zu viel - und bedeutet zum anderen für uns eine echte Herausforderung.