Protokoll der Sitzung vom 28.09.2016

immer mehr unter Druck und Angst erfolgte. Die Belastungen für die Schüler, Eltern und Lehrer werden immer größer. Der Grund dafür ist ganz einfach: Die Kinder in der vierten Klasse müssen im Mai ein Ziel erreichen, und das ist dieser ominöse Notenschnitt. Dass dies zu Stress und Belastung führt, hat eine 2015 veröffentlichte Studie über Stressfaktoren bei Eltern und Schülern am Übergang zur Sekundarstufe des Bildungsforschers Heinz Reinders aus Würzburg gezeigt. Darin ist in einem Vergleich der zwei Bundesländer Hessen und Bayern eindeutig nachgewiesen worden, dass das Übertrittsverfahren, das auf verbindlichen Noten basiert, Stress verursacht und krank macht. Das sollte man nie aus den Augen verlieren.

Auch eine zweite Feststellung hat die Bildungsforschung mittlerweile durch mehrere Studien bewiesen. Die Validität der Übergangsentscheidung, also die Gültigkeit, ist höchst umstritten. Sie ist deshalb infrage zu stellen, weil die Zusammensetzung der Grundschulklassen sehr heterogen ist. Das könnte ich näher ausführen, aber die Zeit reicht dazu nicht. Es gibt keine zentralen Prüfungsstandards. Auch die Erfolgsquoten im Probeunterricht sind höher, was die verbindlichen Notenschnitte eigentlich wieder aushebelt. Vor allem aber sollte speziell herausgearbeitet werden, dass nirgendwo die soziale Herkunft so stark maßgebend ist wie in Bayern. Die Studien zeigen nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, bei gleicher Schulleistung für Kinder aus sozial privilegierten Familien höher ist als für Kinder aus sozial weniger begünstigten Familien. Das sind die Ergebnisse der Studie.

Die Kritiker werden jetzt gleich wieder sagen, mit der Abschaffung des verbindlichen Übertrittsverfahrens würde die Abhängigkeit von der sozialen Herkunft noch höher. Das mag nicht ganz von der Hand zu weisen sein. Das staatliche Handeln und das Handeln der Lehrer müssten dann wenigstens von sozialen Abhängigkeiten frei sein. Das ist es aber nicht. Schon die IGLU-Studie hat 2006 bewiesen, dass die Lehrer von Kindern mit weniger privilegiertem Bildungshintergrund höhere Leistungen verlangen. Das ist nicht meine Feststellung, sondern das ist eine Feststellung der IGLU-Studie, die das nachgewiesen hat.

Damit will ich sagen, valide Ergebnisse, die staatliches Handeln allenfalls rechtfertigen würden, gibt es nicht. Deshalb müssen wir uns über die Verfassungsmäßigkeit des Übertrittsverfahrens Gedanken machen. Die verbindliche Übertrittsentscheidung ist verfassungswidrig und verstößt gegen das Elterngrundrecht in Artikel 126 Absatz 1 der Bayerischen Verfassung und Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes sowie gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Artikel 118 Absatz 1 der

Bayerischen Verfassung und das Verbot der Diskriminierung wegen seiner Herkunft nach Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes. Diese Annahme stützt sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1972. Damals wurde festgestellt – ich zitiere –:

Die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg des Kindes hat das Grundgesetz zunächst den Eltern als den natürlichen Sachwaltern für die Erziehung des Kindes belassen.

Ich würde an dieser Stelle vorsichtig sein mit der Aussage – ich weiß, sie wird gleich kommen –, der Bayerische Verfassungsgerichtshof habe darüber schon geurteilt. Das ist nicht der Fall. Den Artikel 126 der Bayerischen Verfassung hat er eben nicht zum Gegenstand seiner Entscheidung über die Popularklage, die Sie gleich anführen werden, gemacht.

Die Konsequenzen, die gezogen werden müssen, haben wir in unserem Dringlichkeitsantrag niedergelegt: Wir fordern die Staatsregierung auf, das Übertrittsverfahren in Bayern zu ändern und die Entscheidung den Eltern zu überlassen. Dies soll aber verbunden werden mit einer ausführlichen Grundschulempfehlung, die die gesamte Persönlichkeit des Kindes und nicht nur die Leistungen in drei Fächern in den Blick nimmt. Zudem soll den Eltern professionelle Beratung zur Seite gestellt werden.

Ich erwarte nicht, dass Sie gleich zustimmen. Ich hoffe aber, dass wir in einen Dialog über dieses Thema, das viele Eltern, Kinder und Lehrer umtreibt, eintreten können. Welch hohe Bedeutung das Thema hat, sehen wir an den Reaktionen, die wir nach der Vorstellung des von uns beauftragten Gutachtens erhalten haben. Vielleicht können wir es demnächst im Bildungsausschuss in Ruhe thematisieren.

(Beifall bei der SPD)

Danke schön. – Nächster Redner ist Herr Kollege Hofmann.

Sehr verehrte Frau Vizepräsidentin, liebe Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Herr Güll, wir standen bereits Ende April im Plenum beieinander, um uns über die Frage des Übertrittsverfahrens zu unterhalten. Ich sagte Ihnen schon damals, dass es gut wäre, wenn wir uns damit im Bildungsausschuss beschäftigen würden. Sie haben es damals aus taktischen Gründen vorgezogen, die Debatte mit der Übergabe der Übertrittszeugnisse an die Schülerinnen und Schüler zeitlich zu verknüpfen.

Dass Sie heute wieder einen Dringlichkeitsantrag zu diesem Thema in das Plenum eingereicht haben, enttäuscht mich ein wenig. Sie haben Ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, dass wir im Bildungsausschuss in einen Dialog eintreten können. Diesen hatten wir Ihnen schon beim letzten Mal angeboten. Sie haben es aber vorgezogen, erneut einen Dringlichkeitsantrag zu diesem Thema einzubringen. Das ist Ihr gutes Recht; Sie können es halten, wie Sie wollen. Wenn Sie aber in diesem Zusammenhang davon sprechen, der Dialog solle befördert werden, dann wird das vielleicht nicht so funktionieren, wie Sie es sich vorgestellt haben.

(Martin Güll (SPD): Wo ist denn da die Logik?)

Dahinter steht deswegen eine Logik, sehr geehrter Herr Kollege, weil Sie in Ihrer Rede leider nur rudimentär auf die in dem Rechtsgutachten enthaltenen Aussagen eingegangen sind. Sie haben über die sekundären Herkunftseffekte und die Bedeutung der Zusammensetzung der Klassen gesprochen. Sie haben die Frage aufgeworfen, ob eine Vielzahl guter Schüler dazu beiträgt, dass etwas weniger gute Schülerinnen und Schüler möglicherweise keine Übertrittsempfehlung bekommen. Dazu haben Sie nichts weiter ausgeführt; das übernehme ich kurz für Sie.

Über genau diese Punkte sollten wir uns inhaltlich intensiv unterhalten. Das ist uns heute aber nicht möglich, weil Sie es vorgezogen haben, das Thema in einem Dringlichkeitsantrag zu behandeln. Das ist meine Kritik; ich glaube, sie ist gerechtfertigt. Man hätte über das Thema intensiver diskutieren können.

(Dr. Simone Strohmayr (SPD): Das erschließt sich mir nicht!)

Es mag sein, dass es sich Ihnen nicht erschließt.

(Dr. Simone Strohmayr (SPD): Die Argumentation erschließt sich mir nicht!)

Das mag auch daran liegen, dass Sie auf dieser Seite des Parlaments und nicht auf der anderen sitzen. Sei es, wie es sei!

(Lachen bei der SPD)

Ich möchte zu dem Dringlichkeitsantrag ausführlicher Stellung nehmen. Dabei geht es mir insbesondere um die von Herrn Güll geäußerten erheblichen Zweifel an der Verfassungsgemäßheit unseres Übertrittsverfahrens. Ich teile nicht die Auffassung, dass unser Verfahren verfassungswidrig sei. Das liegt zunächst einmal daran – –

(Florian von Brunn (SPD): Sind Sie Jurist?)

Ja. Ist das jetzt ein Grund zur Entschuldigung?

(Florian von Brunn (SPD): Nein!)

Okay, gut. Ich frage vorsichtshalber. Da sich Juristen heute für so vieles entschuldigen müssen, Herr Kollege, frage ich vorsichtshalber, ob das in Ihrer Fraktion ein Grund wäre, sich zu entschuldigen.

(Volkmar Halbleib (SPD): Mal so, mal so!)

Bei uns ist es nicht so. Wenn Sie mir zuhören, dann kommen wir auch zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung, Herr Kollege, und nicht nur zu einer Auseinandersetzung über meinen Lebenslauf.

Es geht um die sekundären Herkunftseffekte, das heißt um die Frage, welchen Einfluss die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht auf die Übertrittsempfehlung hat. Daran knüpft die SPD die Behauptung, dass unser Übertrittsverfahren verfassungswidrig sei.

In dem von der SPD in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten wird klar ausgeführt, dass das Problem der sekundären Herkunftseffekte nicht auf Bayern beschränkt ist. Es handelt sich vielmehr um ein deutschlandweites Problem. Das mag mit unserer Mentalität oder mit unserer Gesellschaft zu tun haben. Dass es ein Ärgernis ist, ist unbestritten.

Es bleibt jedoch bei der entscheidenden Feststellung: Unser Übertrittsverfahren kann nicht die Ursache dafür sein, dass diese sekundären Herkunftseffekte bestehen; denn die anderen Bundesländer wenden andere Übertrittsverfahren an, stellen aber genau dieselben sekundären Herkunftseffekte fest.

Vom juristischen Standpunkt aus betrachtet gilt damit: Wir schaffen keine Ursache für das Auftreten der sekundären Herkunftseffekte. Damit stellt sich die Frage der Verfassungsgemäßheit unseres Übertrittsverfahrens nicht.

Es ist allerdings anerkannt – das schreibt Professor Cremer ebenfalls in seinem Gutachten –, dass ohne Schullaufbahnempfehlung die sekundären Herkunftseffekte, die dazu führen, dass Eltern die Entscheidung nicht für das Gymnasium, sondern, sofern vorhanden, für die Realschule oder die Mittelschule treffen, sogar verstärkt werden. Herr Güll, Sie wollen sehenden Auges ein Verfahren abschaffen, das zu einer Verminderung dieser Effekte führt, mit der vordergründigen Aussage, dass unser Übertrittsverfahren verfassungswidrig sei. Ich kann das nicht nachvollziehen und halte das für einen Fehler.

(Beifall bei der CSU)

Das Rechtsgutachten bezieht sich zudem überwiegend auf Ergebnisse der IGLU-Studie von 2006. Daher darf der Hinweis schon gestattet sein, dass unser Übertrittsverfahren mittlerweile abgeändert worden ist. Neuere Bewertungen der Frage, inwieweit sich die sekundären Herkunftseffekte nach Änderung des Übertrittsverfahrens abgemildert haben, lässt das Gutachten völlig außen vor. Deswegen wäre es auch nicht überzeugend, wenn Sie das Gutachten für die Beantwortung der Frage, ob unser Übertrittsverfahren verfassungswidrig ist, heranziehen würden.

Ich weiß natürlich, dass Sie einen bestimmten Effekt nachweisen wollten. Deswegen haben Sie Professor Cremer beauftragt. Einen bayerischen Professor, der Ihnen das bestätigen würde, hätten Sie wahrscheinlich nicht gefunden.

(Beifall bei der CSU – Thomas Gehring (GRÜNE): Professor Cremer ist einer der renommiertesten Bildungsexperten Deutschlands!)

Es gibt einen bestimmten Grund, warum Sie ihn beauftragt haben. Normalerweise würde ich an dieser Stelle sagen: Lassen Sie sich das Geld, das Sie für das Gutachten ausgegeben haben, zurückgeben! Es ist nämlich dieses Geld nicht wert.

(Beifall bei der CSU)

Aber in diesem Fall hatten Sie diesen Gutachter aus einem bestimmten Grund beauftragt. Sie wollten, dass ein bestimmtes Ergebnis herauskommt. Deswegen haben Sie das Geld völlig zu Recht bezahlt. Ob das Ganze effektiv war, darf ich bezweifeln.

Als Nächstes haben Sie gesagt, wir sollten vorsichtig sein, was die Popularklage angeht, die der Bayerische Verfassungsgerichtshof im Jahr 2014 behandelt hat. Dieser habe nämlich den Artikel 126 der Bayerischen Verfassung überhaupt nicht angesprochen. Das stimmt so nicht. Der Verfassungsgerichtshof hat Artikel 126 an einer Stelle angesprochen, nämlich im Zusammenhang mit der allgemeinen Empfehlung. Die Tatsache, dass er die übrigen Punkte nicht weiter geprüft hat, spricht dafür, dass er die Annahme, der Elternwille könne in diesem Zusammenhang ein Problem darstellen, als so abwegig angesehen hat, dass er es nicht für notwendig hielt, intensiver darauf einzugehen. Das ist die Schlussfolgerung, die ich daraus ziehe.

Ich ziehe eine weitere Schlussfolgerung: Sie gehen in Ihrem Dringlichkeitsantrag auch auf den weiteren Bildungsweg ein und zitieren eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Sie haben es aber unterlassen, auf die Randnummer hinzuweisen, die kurz nach der zitierten Stelle folgt. Das Bundesverfas

sungsgericht hat darin klar festgestellt, dass der Staat die Zulassung von Schülerinnen und Schülern zu weiterführenden Schulen selbstverständlich von Zulassungsvoraussetzungen abhängig machen kann. Sie haben nicht vollständig zitiert, sondern Sie haben bewusst bestimmte Punkte weggelassen, weil sie Ihnen nicht in Ihren ideologischen Kram passen.

(Beifall bei der CSU)

Das halte ich für mindestens genauso verwerflich.

Lassen Sie uns einfach darüber reden, was der eigentliche Grund ist. Wenn mich jemand fragt – –

(Susann Biedefeld (SPD): Schlaumeier!)

Wenn es Ihnen nicht gefällt, wie ich rede, dann brauchen Sie ja nicht zuzuhören. Jemanden, der versucht, sich mit einem solchen Gutachten auseinanderzusetzen, als "Schlaumeier" zu betiteln, lässt tief blicken, was die Art der politischen Auseinandersetzung angeht, Frau Kollegin.

(Beifall bei der CSU – Susann Biedefeld (SPD): Ich meine die arrogante Art und Weise!)

Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen. Ich sage lediglich: Wenn Sie jemanden mit "Schlaumeier" betiteln wollen, dann können Sie das gern tun.

Herr Kollege Güll, ich stelle fest: Nicht alle Mitglieder Ihrer Fraktion sind an dem Dialog interessiert, den Sie doch in Ihrer Rede eingefordert haben. Das macht aber nichts.