Protokoll der Sitzung vom 27.01.2000

Die zehnte Sitzung der Bürgerschaft (Landtag) ist eröffnet.

Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, wir gedenken heute in Deutschland der Opfer des Nationalsozialismus. Heute vor 55 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz in der Nähe des polnischen Städtchens Oswiecim von den vorrückenden Truppen der Roten Armee eingenommen. Sie befreiten rund 7000 Zurückgelassene, die nicht auf den letzten Todesmarsch in andere Lager getrieben worden waren; viele der lebend Befreiten hatten aber in Wahrheit die Grenze zum Tode schon überschritten.

In Auschwitz hatten Deutsche mehr als eineinhalb Millionen Menschen ermordet; erschlagen, erhängt, getötet durch ärztliche Nichtbehandlung ebenso wie durch ärztliche Behandlung, verhungert, zu Tode gehetzt, vergast, nicht ohne sie vorher ausgeplündert und zutiefst gedemütigt zu haben. Die Opfer waren Männer und Frauen, Kinder — ja Kinder, auch kleine Kinder; ich nenne keine Zahl, eines ist ja schon nicht zu verstehen — und alte Menschen, Juden aus ganz Europa, Sinti und Roma, Kriegsgefangene, politische Widerständler, alle, die nicht in die nationalsozialistische Wahnidee von Reinheit und Herrenordnung hineinpassten und denen deshalb das Recht auf Leben abgesprochen worden war.

Auschwitz war ein Kosmos des Schreckens. Deswegen gedenken wir an diesem mit Auschwitz verbundenen 27. Januar aller Opfer des Nationalsozialismus. Wir verneigen uns vor den Toten. Wir denken an die Überlebenden, die ihr Leben lang nicht aus dem Schatten des Todes heraustreten konnten, und wir bitten diejenigen um Nachsicht, die bis zum heutigen Tag überlebt haben und sich häufig mit dem Selbstvorwurf quälen, dass gerade sie überlebt haben. Von Gewissensnöten der Täter haben sie wenig hören können.

Meine Damen und Herren, es ist Mode geworden, vor Gedenkritualen zu warnen, oft genug mit dem Hintergedanken, dass es nun langsam genug sei. Dabei mussten doch 50 Jahre vergehen, bis vor vier Jahren der damalige Bundespräsident Roman Herzog diesen Tag zum Gedenktag erklärt hat. Er hat damit die Hoffnung verbunden, dass das gemeinsame Urteil über diese zwölf Jahre deutscher Geschichte erhalten bleibt und stets erneuert wird. Richtig ist, dass Roman Herzog gleichzeitig die Sorge ausgesprochen hat, dass wir neue, zeitgerechtere Formen des Erinnerns finden müssen, denn das Überleben wird nun bald zu Ende gehen, und nur noch wenige können selbst noch Zeugnis ablegen. Umso wichtiger ist es, dass wir sie fragen und ihnen zuhören!

Die Mahnung Roman Herzogs dürfen wir aber keinesfalls so missverstehen, als wüssten wir schon alles und müssten nur noch dafür sorgen, dass es immer neuen Generationen junger Menschen gut vermittelt würde. Auch das ist notwendig, aber tatsächlich wissen wir immer noch vieles nicht oder nur sehr oberflächlich, weil es lange Jahre mächtige Interessen gegen das Wissen und Erkennen gegeben hat. Es waren ja auch sehr viele beteiligt! So erleben wir weiterhin, wie viel Neues ans Licht kommt, wenn gefragt wird: über die deutsche Wehrmacht, über die Geschichte großer deutscher Unternehmen, über Wissenschaften wie die Geschichtswissenschaften, ja selbst die Historiker haben über sich selbst geschwiegen! Dabei geht es nie ohne heftige Auseinandersetzungen, das muss wohl so sein. Die Vergangenheit ist noch nicht vergangen, wie könnten wir da von einem Ende des Erinnerns sprechen! Wir haben ja noch nicht einmal die Wiedergutmachung ordentlich zu Ende geregelt. Hinsehen, was vor der eigenen Tür, im eigenen Haus geschehen ist, hinhören auf das, was Menschen erzählen, ein Mensch aus seinem Leben zu erzählen hat, ist die Grundlage von Erinnerung. Auf diesem Feld gibt es in Bremen viele Initiativen, von denen ich heute stellvertretend einige nennen möchte, um ihnen von hier aus für ihre Arbeit zu danken. Ich meine die Schulklassen, die der Geschichte einer verfolgten Familie nachforschen; die Jugendgruppen, die die „Nacht der Jugend“ drüben im Rathaus mitgestaltet haben, indem sie die Verbindung zwischen damals und heute gezogen haben; ich nenne den runden Tisch „Geschichtslehrpfad Lagerstaße“, der den Bunker Farge zu einer Stätte der Erinnerung machen möchte; die Mitarbeiter des Zentralkrankenhauses Ost, die gemeinsam mit Angehörigen, die bei der Gelegenheit das erste Mal darüber sprechen konnten, das Schicksal der Opfer der NS-Psychiatrie erforschen und bekannt machen; und schließlich die Gruppe in Gröpelingen, die dem Leben und Sterben des holländischen Zwangsarbeiters Homme Hoekstra nachgegangen ist und ihm am Schwarzen Weg ein Denkmal gesetzt hat. Einer der Leidensgenossen Homme Hoekstras war Cees Ruyter aus Rotterdam, den ich sehr herzlich heute unter uns begrüße.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Herr Ruyter wird heute Mittag eine Schule besuchen und heute Abend im Rathaus auf der zentralen Gedenkveranstaltung aus seinem Leben erzählen. Alle Bürgerinnen und Bürger lade ich herzlich ein, zu kommen und ihm zuzuhören. Sehr geehrter Herr Ruyter, ich danke Ihnen, dass Sie die Last der Reise auf sich genommen haben. Wir brauchen Ihre Stimme.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Meine Damen und Herren, nicht nur über Zeiten, auch über Orte der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus sind in den vergangenen Jahren große Debatten geführt worden: um das Holocaust-Mahnmal in Berlin, um den Erhalt der Gedenkstätten in den Todeslagern. Jeder wird die getroffenen Entscheidungen für sich beurteilen, aber niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, dass es neben Zeiten des Innehaltens und Erinnerns auch Orte des Gedenkens geben muss. Das gilt auch für Bremen.

Aber neben den Mahnmalen gibt es auch andere, nicht minder wichtige Orte des Gedenkens: die zentralen Orte unseres Gemeinwesens, drüben das Rathaus und hier das Haus der Bürgerschaft. Hier wie dort sprechen wir darüber, was für unser Gemeinwesen, seine Zukunft wichtig und bedeutsam ist. Hier vergewissern wir uns, was wir gemeinsam als richtig und falsch ansehen. Anders als in anderen Nationen ist das Selbstverständnis der Demokratie in Deutschland untrennbar mit schmerzhafter geschichtlicher Erfahrung verbunden. Deshalb hat die Erinnerung, hat die aus der Erinnerung resultierende Selbstverpflichtung staatlicher Macht ihren Ort gerade auch hier im Haus der Bremischen Bürgerschaft.

Die radikalste Selbstverpflichtung formuliert das Grundgesetz in seinem ersten Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wir sind im Gedenken an die zerschundene Würde der Opfer des Nationalsozialismus aufgefordert, uns und künftigen Generationen die Urteilsfähigkeit über Recht und Unrecht, über Toleranz und alltägliche Ausgrenzung und Fremdenhass auf der anderen Seite, für den Wert jedes einzelnen Lebens, seine Würde und seine Freiheit zu schärfen und hier um den besten Weg dafür zu streiten.

Meine Damen und Herren, der heutige Gedenktag der Befreiung von Auschwitz erinnert auch an die militärische Niederwerfung des deutschen Nationalsozialismus. Am Ende sind die Nazis mit ihren Plänen eines reinrassigen europäischen Militärreiches doch gescheitert. Das verweist auf eine zweite radikale Konsequenz aus Auschwitz und Weltkrieg. Auschwitz war und ist eine europäische Erfahrung. Ich bin überzeugt, nur die fortschreitende europäische Einigung auf der Grundlage gegenseitiger Achtung wird auf Dauer Krisen und Kriege, zumindest in Europa, zumindest unwahrscheinlicher machen. Das ist in meinen Augen die sicherste Lehre, die die Kinder und Enkelkinder der Täter und der Opfer gemeinsam ziehen können. Dann wird auch Erinnerung nicht alte Wunden vertiefen, sondern Kraft für eine gemeinsame Zukunft geben.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung für einige Minuten.

(Unterbrechung der Sitzung 10.12 Uhr)

Präsident Weber eröffnet die Sitzung wieder um 10.18 Uhr.

Ich eröffne die unterbrochene Sitzung der Bürgerschaft (Landtag).

Ich begrüße die hier anwesenden Damen und Herren und die Zuhörer und Vertreter der Presse.

Auf dem Besucherrang begrüße ich eine Gruppe Umschüler vom Arbeiterbildungszentrum.

(Beifall)

Gemäß Paragraph 21 der Geschäftsordnung gebe ich Ihnen folgenden Eingang bekannt:

Entschädigung für NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter, Dringlichkeitsantrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, der CDU und der SPD vom 26. Januar 2000, Drucksache 15/184.

Gemäß Paragraph 21 Absatz 1 unserer Geschäftsordnung muss das Plenum zunächst einen Beschluss über die Dringlichkeit des Antrags herbeiführen.

Meine Damen und Herren, wer einer dringlichen Behandlung dieses Antrags zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen!

Ich bitte um die Gegenprobe!

Stimmenthaltungen?

Ich stelle fest, die Bürgerschaft (Landtag) stimmt einer dringlichen Behandlung zu.

(Einstimmig)

Ich schlage Ihnen vor, diesen Antrag mit Tagesordnungspunkt 24, Bremens Beitrag zur Zwangsarbeiter-Entschädigung, zu verbinden.

Ich höre keinen Widerspruch. Die Bürgerschaft (Landtag) ist damit einverstanden.

Die übrigen Eingänge bitte ich dem verteilten Umdruck zu entnehmen.

I. Eingang gemäß § 21 der Geschäftsordnung

„Landesbreitbandnetz in Bremen“ Große Anfrage der Fraktionen der SPD und der CDU vom 26. Januar 2000 (Drucksache 15/182)

Diese Angelegenheit kommt auf die Tagesordnung der Februar-Sitzung.

II. Kleine Anfrage gemäß § 29 Abs. 2 der Geschäftsordnung

Bilanz nach In-Kraft-Treten der Insolvenzordnung in Bremen und Bremerhaven

Kleine Anfrage der Fraktion der CDU vom 16. Dezember 1999 (Drucksache 15/183)

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Bremens Beitrag zur Zwangsarbeiter-Entschädigung

Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 11. Januar 2000 (Drucksache 15/163)

Wir verbinden hiermit:

Entschädigung für NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter

Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, der CDU und der SPD vom 26. Januar 2000 (Drucksache 15/184)

Dazu als Vertreter des Senats Frau Senatorin Adolf, ihr beigeordnet Staatsrat Dr. Knigge.

Die gemeinsame Beratung ist eröffnet.

Als Erster hat das Wort der Abgeordnete Dr. Kuhn.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich hoffe, es ist heute das letzte Mal, dass wir hier in der Bürgerschaft auf Antrag der Grünen über die Frage der Entschädigung für Zwangsarbeit sprechen müssen, über Entschädigung und Wiedergutmachung für die Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs aus allen Ecken Europas zunächst mit Druck und dann mit nackter Gewalt nach Deutschland gezwungen wurden, um gegen Hungerlohn und Barackenlager, wenn es überhaupt so viel war, für die deutsche Militärmaschinerie zu arbeiten.

Mehr als 70.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, meine Damen und Herren, waren allein hier in Bremen. Dies ist auch ein kleiner Hinweis zum Thema Wissen oder Nichtwissen. 70.000 Menschen kann man eigentlich nicht übersehen haben.

Viel zu lange haben die allermeisten, da nehme ich niemanden aus, überhaupt nicht an diese Menschen gedacht. Dann haben einige begonnen, öffentlich darauf zu drängen, und schließlich haben am Ende doch weltweite Geschäfte deutscher Unternehmen und ihr internationales Echo zur Einsicht geführt. Ich weiß, dass die Verhandlungen dann am Ende noch quälend und auch beschämend gewe