Protokoll der Sitzung vom 15.11.2000

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Genau, meine Damen und Herren – auch Herr Tittmann wird schon ganz unruhig –, in der Tat ist diese Rede, die die CDU da nahe legt, nicht weit entfernt von der DVU-Rede der multikriminellen Gesellschaft, und dem treten wir mit Entschiedenheit entgegen!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. T i t t m a n n [DVU]: Warten Sie einmal morgen ab!)

Meine Damen und Herren, ich möchte es auch noch einmal an Bundespräsident Rau erinnernd sagen: Die multikulturelle Gesellschaft ist kein Garten Eden. Wohl wahr! Es geht hier nicht um eine paradiesische Veranstaltung, um die reine Harmonie. Natürlich geht es darum, dass man Konflikte bewältigen muss. Aber ob man glaubt, um diese herumzukommen, wie es die DVU suggeriert, oder ob man sagt, wie wir, in einer globalisierten Welt muss und will man mit Zuwanderung leben, und die Probleme, die auftauchen, muss man als Herausforderung begreifen, das ist allerdings eine Unterscheidung um das Ganze, und die wollen wir politisch auch getroffen wissen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Unserer Meinung nach führen wir Identitätsdebatten, wenn wir über die Frage streiten, was für ein Land ist Deutschland, sind wir eine Zuwanderungsgesellschaft oder nicht. Wer sind wir in Deutschland, wie schaffen wir es, in diesem wiedervereinigten Land nach innen und nach außen friedlich zu leben? Meiner Meinung nach gibt es keinen friedlichen, keinen humanen und keinen wirtschaftlich erfolgreichen Weg zurück zu einem „Deutschland den Deutschen“. Deswegen ist die DVU für uns an diesem Punkt auch der entscheidende politische Gegner. Eine solche Parole, Herr Tittmann, „Deutschland den Deutschen“, ist menschenverachtend, sie hetzt die Leute auf, und sie hat nichts damit zu tun, endlich die Lehren aus der deutschen Geschichte zu ziehen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Darum sage ich es noch einmal deutlich: Es gibt keine Alternative zur Globalisierung, wir wollen und müssen mit ihr leben. Deutschland wird keine Einwanderungsgesellschaft klassischen Typs sein. Wir unterscheiden uns natürlich von den USA oder von Australien, auch von Israel. Die westeuropäischen Staaten werden Einwanderungsgesellschaften eigenen Typs sein. Wir fußen nun einmal auf der europäischen Nationalkultur. Das wollen wir auch gar nicht tilgen, nein, im Gegenteil: Es gilt, aus dieser Geschichte der europäischen Kulturnationen einen neuen und friedlichen Weg zu finden, wie man mit Migration und Zuwanderung für alle Menschen möglichst gut zusammenleben kann.

Dafür gibt es in der Tat Grundlagen. Man muss die parlamentarische Demokratie achten – die Trennung von Staat und Kirche ist zum Beispiel in Frankreich viel weiter fortgeschritten als in Deutschland, bis hin zu der Auseinandersetzung um das KruzifixUrteil haben wir auch gesehen, dass Deutschland auch dort eine gewisse besondere Situation hat –, auch die Gleichstellung der Geschlechter, das sind

die Grundlagen unserer Verfassung. Die müssen von allen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern geachtet werden. Aber jenseits dieser verfassungsmäßig gegebenen Grundlagen gibt es und muss es auch sehr viel Raum geben für kulturelle Unterschiede, für verschiedene Religionen, seien sie nun islamisch, jüdisch, christlich, hinduistisch oder buddhistisch. Da gibt es viel Raum und muss es geben, auch grundgesetzlich garantiert, für diese Unterschiede und auch für ethnische Differenzen. Darum haben wir Grüne ein Drei-Säulen-Modell entwickelt, wie wir uns die Zuwanderung in Deutschland vorstellen und wie wir sie politisch regeln und gestalten wollen. Wir stehen dazu, dass es Zuwanderungen wegen des Arbeitsmarktes gibt, siehe auch die Debatte um die Green Card, aber auch in vielen anderen Bereichen, siehe in der Gastronomie, in der Hotellerie, die ohne Menschen aus anderen Ländern, die dort arbeiten, gar nicht leben könnten. Deswegen stehen wir zu Zuwanderungen aus arbeitsmarktpolitischen Gründen, aber natürlich muss man sie gestalten. Die zweite Säule ist, dass wir darauf beharren – anders als andere politische Mitstreiter –, dass das Grundrecht auf Asyl nicht ausgehöhlt wird. Natürlich muss man über europäische Harmonisierung reden, aber ein solches Grundrecht muss im Interesse von verfolgten Menschen aufrechterhalten werden.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Die dritte Säule unserer Zuwanderungspolitik heißt, Zuwanderung aus humanitären Gründen möglich zu machen. Auch dort haben wir viele Unterschiede zu dem, was die CDU und weiter rechte Politiker in den letzten Wochen geäußert haben. Wir stehen zu diesem Drei-Säulen-Modell der Zuwanderungen, wir halten es für verantwortungsbewusst und verantwortlich im Interesse unseres Landes. Wir glauben auch, dass man humanitäre und arbeitsmarktpolitische Gründe kombinieren kann und trotzdem zu einer verantwortlichen Zuwanderungspolitik in der Lage ist. Die Zahl, wie viele Menschen in einem Land aufgenommen werden können, ist nie statisch. Sie hängt immer von der inneren Befindlichkeit einer Gesellschaft ab und ob die entsprechenden politischen Meinungsmacher dafür werben oder dagegen Stimmung machen. Das allerdings ist eine zentrale Frage. Meine Fraktion und ich stehen dafür, dass man gerade in Deutschland mit seiner verhängnisvollen Tradition und den Angriffen in den letzten Monaten auf Menschen aus anderen Ländern darum kämpfen muss, dass wir wirklich ein weltoffenes Land sind. Alles, was dagegen getan wird, bis hin zu einem solchen Begriff wie deutsche Leitkultur, unterstellt, dass Deutsche besser sind als andere Menschen, und das darf es nicht geben!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Jetzt kann man feststellen, dass die Anmeldungen für die Green Card nicht so viele waren, wie es vielleicht manche gewollt oder andere vielleicht befürchtet haben. Man muss feststellen – ich habe es leider auch in meiner eigenen Zeit gemerkt, als ich mehr mit diesem Politikbereich zu tun hatte –, es ist in der Tat schon so, dass Studenten oder auch gut ausgebildete Arbeitskräfte aus anderen Ländern teilweise schon Angst haben, nach Deutschland zu kommen, weil sie wissen, dass Kollegen von ihnen angegriffen worden sind. Sie überlegen es sich dreimal, ob sie lieber in die USA oder in andere Länder gehen oder nach Deutschland kommen. So weit ist es leider schon, das muss uns bewusst sein! Wenn jetzt hier darauf verwiesen wird, dass die Zahlen bei der Green Card nicht für eine besonders große Nachfrage stehen, finde ich es zumindest wichtig, sich auch zu überlegen, welche Angstgründe dabei offensichtlich leider eine Rolle spielen

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Meine Damen und Herren, ich habe es eingangs gesagt: Für uns ist das eine politische Identitätsdebatte. Zu wie viel Realitätsanerkennung, dass Deutschland de facto seit Jahren ein Zuwanderungsland ist, sind wir in der Lage? Das nicht täuschend wegdrücken, sondern es ganz bewusst politisch angehen zu wollen, ist unsere politische Forderung und Haltung.

Ich möchte deswegen noch einmal zu unserem Entschließungsantrag kommen, den wir Ihnen vorgelegt hatten, er ist dann federführend an die Deputation für Wirtschaft verwiesen worden. Nachdem nun einiges in Deutschland passiert ist, werden wir die Punkte eins und zwei sowie vier, fünf und sechs unseres Antrags zurückziehen. Wir gehen davon aus, dass sie sich in der politischen Debatte erübrigt haben.

Was sich aber nicht erübrigt hat, ist der Punkt drei. Dort geht es nämlich um die zentrale politische Frage, ob wir uns dazu bekennen, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist und wie man diese Zuwanderung gestaltet. Deswegen halten wir diesen Punkt drei aufrecht. Wir möchten, dass er heute abgestimmt wird, allerdings mit einer kleinen sprachlichen Veränderung. Weil wir die Punkte eins, zwei, vier, fünf und sechs für erledigt erklären, muss dann der erste Satz von Punkt drei lauten: „Die Bürgerschaft (Land- tag) ist der Auffassung, dass die Green-Card-Entscheidung die Formulierung“, und dann geht der Satz weiter. Alles andere bleibt so, wie es ist. Es ist also eine rein sprachliche Überarbeitung, dass man nicht mehr den Verweis hat, diese richtige Einzelentscheidung, sondern dass die Entscheidung noch einmal genannt wird, nämlich die Green-Card-Entscheidung.

Wir möchten also, dass Sie heute im Bremer Landtag dazu Stellung nehmen, wie Sie die Zuwande

rungspolitik gestalten wollen, ob Sie zu der Realitätsanerkennung in der Lage sind, dass es Zuwanderung gibt und dass man diese politisch regeln muss. Zu den anderen Punkten werden gleich meine Kollegen Stellung nehmen. – Vielen Dank!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Jäger.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Frau Dr. Trüpel, es ist ja nett, dass Sie zum Schluss auch noch auf die Green Card eingegangen sind. Man könnte den Eindruck haben, das Thema ist Ihnen unangenehm.

(Widerspruch beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. T e i s e r [CDU]: Denen ist gar nichts unangenehm!)

Deshalb haben Sie jetzt erst einmal eine Zuwanderungsdiskussion geführt. Ich kann es aber auch positiv sehen, dass Sie jetzt erkannt haben, dass man das Green-Card-Thema nicht isolieren kann, sondern dass man eine umfassende Debatte in diesem Land führen muss.

Meine Damen und Herren, ich möchte trotzdem noch einmal auf einige Punkte zur Green Card eingehen und werde dann auch noch ein paar Sätze zur Zuwanderungsdebatte anmerken. Ich erinnere noch einmal an die Debatte im Mai dieses Jahres. Einig waren wir uns – ein paar Punkte gab es, da waren wir uns tatsächlich einig –, dass die deutsche Green Card, die Green Card à la Deutschland, keine american Green Card ist und der Begriff deshalb völlig in die Irre führt. Man sollte deshalb immer hinzufügen, was man meint.

Zweitens berufe ich mich auf Herrn Kottisch, der gesagt hat, ich zitiere: „Die Green Card darf nicht isoliert betrachtet werden.“ Ja, Recht hat er! Er meinte unter anderem die Intensivierung von Qualifizierungsbemühungen der Deutschen im IT-Bereich, aber damit hatte es sich dann auch. Dass vielleicht auch andere Themen eine Rolle spielen, darauf müssen wir gleich noch einmal kommen.

Drittens waren wir uns einig, dass die Green Card à la Deutschland allenfalls nur eine kurzfristige Maßnahme ist und nicht Antworten auf die wesentlichen Fragen dieser Republik gibt.

Nun frage ich mich: Was hat die Bundesrepublik in den letzten fünf Monaten dazugelernt und zusätzlich zu einer kurzfristigen Perspektive entwickelt? Ich stelle fest, dass da nicht viel gewesen ist. Erstens! Zweitens: Ist die Green Card Deutschland erfolgreich? Da sage ich, und das deutete ja auch Frau Dr. ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

Trüpel an, sie ist nicht erfolgreich! Sie ist ein Flop! Erst bekommen wir die Inder nicht,

(Abg. Frau L i n n e r t [Bündnis 90/Die Grünen]: Ihr wolltet die Inder gar nicht!)

dann stellen wir fest, dass die Osteuropäer auch nicht mehr da sind, sondern woanders hingehen und von anderen Ländern abgeworben werden. Wir heilen damit auch nur in der Debatte die Wunden, haben aber keine Perspektive für die nächsten Jahre.

Im Übrigen ist das nicht nur eine Frage von Ausländerfeindlichkeit, die zu bedauern ist. Es ist auch eine Frage, und auch das ist angedeutet worden, von Technikfeindlichkeit! Wir reden nämlich nicht nur darüber, wie wir qualifizierte ausländische Kräfte zu uns bekommen, sondern wir debattieren ja inzwischen schon längst darüber, wie wir die guten, qualifizierten Kräfte in Wissenschaftsstandorten, aber auch im Wirtschaftsbereich in Deutschland behalten.

(Beifall bei der CDU)

Das war schon der dritte Punkt!

Der vierte Punkt: Ich frage mich, ob auch in der Sozialdemokratie inzwischen eine Diskussion und ein Umdenken wirklich stattgefunden haben, wenn es um die Debatte des grenzüberschreitenden Wettbewerbs um die besten Köpfe geht. Ich stelle fest, dass dies nicht der Fall ist. Herr Senator Lemke spricht zwar gelegentlich bei Nicht-SPD-Veranstaltungen auch von den Notwendigkeiten von Eliten, damit hat es sich dann aber auch. Wenn wir dann in die konkrete Debatte schreiten, hört man davon relativ wenig, jedenfalls hier in Bremen.

Fünftens frage ich mich, ob wir denn wirklich alle begriffen haben, was die Globalisierung der Arbeitswelt bedeutet. Wir diskutieren immer nur auf dem IT-Bereich, wie wir die Kräfte nach Deutschland holen. Wir fragen uns immer noch nicht, wie es mit den anderen Bereichen ist. Wir reden ja längst nicht mehr nur über IT, sondern auch über Bio- und Gentechnologie. Gehen Sie einmal in die Institute an der Universität Bremen, die sagen eben auch: Wir bekommen, wenn wir Glück haben, noch ein paar Osteuropäer, aber darüber hinaus wird es schon schwierig.

Des Weiteren stelle ich sechstens fest, dass Frau Bulmahn eine Dienstrechtsreform an den Hochschulen vorgelegt hat. Manches ist darin erfreulich, weil es flexibilisiert, aber manche Vorschläge sind auch nicht dazu angetan, die Besten in diesem Land zu behalten oder Bessere nach Deutschland zu bekommen. Insofern komme ich zu dem Ergebnis, dass auch da relativ wenig dazugelernt wurde.

Siebtens stelle ich fest, dass es in unserem Land zum Glück inzwischen eine übergreifende Diskus

sion gibt, wie Zuwanderung gesteuert werden kann, allerdings natürlich mit allen Schattierungen, dazu haben wir eben einiges gehört. Ich sage deutlich: Wir dürfen dieses Thema nicht weiter zum Tabu erklären! Das war einigen offenbar nicht recht, und jetzt kommt es ihnen allenfalls recht, dass der Begriff der Leitkultur dazu angetan ist, ihn auch so weit zu interpretieren, dass man ihn in die Ferne diskutiert und sagt, das ist alles abwegig, was dazu diskutiert wird.

Ich stelle für die CDU fest: Wir haben es inzwischen in diesem Land geschafft, eine Debatte dazu zu führen, welche Spielregeln für unser gemeinsames Zusammenleben gelten. Dabei geht es nicht darum zu differenzieren, sondern eine gemeinsame Grundlage für unser Zusammenleben zu bekommen. Im Übrigen sollten sich manche Deutsche diese Diskussion auch antun, diese Spielregeln ansehen und diese Diskussion mit führen. Wir dürfen uns selbst nicht ausschließen. Das ist in der Tat richtig!

(Beifall bei der CDU)

Ich finde es in der Tat keine Quälnummer, und es ist ja immer populär, auch einmal etwas in die Richtung der Stammtische zu schieben. Ich kann nur sagen, wir machen keine Politik für die Stammtische, aber wir machen eine Politik, die auch auf das hört, was die Stammtische meinen, weil man sonst völlig den Anschluss an das, was die Bevölkerung bewegt und was diskutiert wird, verliert.

(Beifall bei der CDU)

Dann werden wir das Thema Zuwanderung mit Sicherheit nicht erfolgreich bewältigen.

Meine Damen und Herren, wir sind der festen Überzeugung, dass, wer ungesteuerte Zuwanderung zulässt, es nicht hinbekommt, die Bevölkerung gemeinsam darauf vorzubereiten, wie wir die demographischen Bewegungen in der Welt und auch in unserem Lande bewältigen können. Wir werden wenig Verständnis für humanitäre Probleme haben, vor allem aber auch nicht die wirtschaftlichen Probleme bewältigen können, und natürlich wollen wir qualifizierte Kräfte nach Deutschland bekommen. Aber wenn die Bevölkerung den Eindruck hat, dass wir hiermit überfordert werden, dann müssen wir als Politiker darauf eine Antwort finden.

(Abg. Frau L i n n e r t [Bündnis 90/Die Grünen]: Das schüren Sie doch ordentlich!)

Die CDU hat diese Diskussion eröffnet!

Meine Damen und Herren, wir werden gleich in einer zweiten Runde darauf noch einmal eingehen. Ich möchte mich nicht so weit von der Green-CardDebatte entfernen und einfach noch einmal sagen,

was in Bremen passiert ist. Wir könnten hier große Weltpolitik machen, ich möchte aber noch einmal sehen, was in Bremen auch angesichts dieser Debatte passiert. Ich stelle fest, dass sich zumindest die Sozialdemokraten in Sachen Naturwissenschaften, und wir reden ja immer von IT-Fachkräftemangel und von Qualifikation, inzwischen bewegt haben. Das Thema ist kein Feindbild mehr an den Schulen.

(Abg. Frau H ö v e l m a n n [SPD]: Das ist richtig Quatsch!)