Protokoll der Sitzung vom 02.04.2003

Wenn die linke Seite über diese Brücke geht zu denjenigen – –. Herr Bürger, da gebe ich Ihnen gern nachträglich Recht nach vielen Bildungsdebatten, die wir hier geführt haben, Sie haben das schon vor 15 Jahren gesagt, es hat lange gedauert, bis andere da angekommen sind, dass es notwendig ist. Das aber stellt noch nicht die Organisationsform, gemeinsam zu unterrichten, in Frage, sondern nur, wie bis jetzt in dieser Organisationsform unterrichtet worden ist.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Deshalb sage ich, es müssen diejenigen, die bis jetzt die klassische Gesamtschule vertreten haben, auch über eine Brücke gehen. McKinsey sagt, weder das dreigliedrige Schulsystem noch die Gesamtschule, wie wir sie kennen, ist die Zukunft. McKinsey sagt, wir müssen von vorn anfangen, von unten, bei der Grundschule, beim Kindergarten, dann aufbauen, die Kinder möglichst lange zusammen lassen. Ich sage das nicht, weil das mittlerweile grünes Programm ist, sondern ich sage das, weil hier gesellschaftlich wichtige Kräfte in eine Richtung drängen, die sie als zukunftsfähig aus einem Vergleich in Europa sehen. Allein das ist ein Argument, das wir übernehmen müssen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Prä- sident W e b e r übernimmt wieder den Vorsitz.)

Die letzte Brücke, die uns McKinsey bietet, ist die der Finanzen. Sie sagen, wir müssen neue Finanzquellen schaffen, aber wir müssen auch mehr in diese Bildung investieren. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die vier Jahre, die wir hier vielleicht Abgeordnete sind in einer Legislaturperiode, nicht dazu führen werden, dass wir die Ergebnisse sehen. Es dauert 15 oder 20 Jahre. Wer Schulreformen in Europa gesehen hat, die tragfähig waren wie in Schweden oder in Finnland, der weiß, dass es 15, 20 oder sogar 25 Jahre dauert, bis die Ergebnisse in der Gesellschaft ankommen.

(Glocke)

Das ist gerade der Grund, heute und von unten anzufangen und auch für die finanziellen Prioritäten. Ich bin es so leid, dass hier immer gesagt wird, wir sind ein Haushaltsnotlageland, wir haben das Geld nicht, und wir haben so viel Wichtigeres zu tun! Ich mache heute nicht die platte Polemik über den Space-Park und so weiter, jeder in diesem Land sieht, wo Geld hingeht. Wir wollen künftig sehen, dass das Geld in die Investitionen in die Zukunft geht, auch wenn es keine haushaltsrechtliche Investition ist, das ist die Investition in unsere Kinder, und das ist hier der Hauptpunkt, meine Damen und Herren!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als letzten Satz dazu! Wer sich mit diesen Stellungnahmen ernsthaft beschäftigt, der muss sich auch ernsthaft damit beschäftigen, dass es effizienter, auch ökonomisch effizienter ist, die Kinder zusammen zu lassen, damit möglichst viele eine Chance haben.

(Glocke)

Das ist der Weg der Zukunft, und darum haben wir hier heute noch einmal die Frage von McKinsey zur Frage dieses Hauses gemacht, damit Sie dazu sagen können, wie Sie die Zukunftsperspektiven in einem modernen Bildungssystem in einem modernen Europa sehen, nicht aber in der Vergangenheit des vorherigen Jahrhunderts.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächste Rednerin erhält das Wort die Abgeordnete Frau Jansen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich nehme die Große Anfrage der Grünen gern zum Anlass, um doch noch einmal eine bildungspolitische Debatte zu führen, die mir im Zusammenhang mit der Änderung des Schulgesetzes jetzt ein bisschen schwer fällt, weil ich ganz fest davon überzeugt bin, dass das nicht unbedingt das Gelbe vom Ei war, was Sie da vorhin gemacht haben.

(Abg. S c h r a m m [Bündnis 90/Die Grü- nen]: Das haben Sie selbst beschlossen!)

Ich stehe dazu! Ich weiß, dass es manchmal schizophren ist, wie man Politik machen muss!

(Abg. S c h r a m m [Bündnis 90/Die Grü- nen]: Man kann auch einmal richtige Poli- tik machen! – Zurufe von der SPD)

Die Intention, die mit der Großen Anfrage verbunden ist – das kann ich, glaube ich, für die SPD sagen –, teilen wir. Ich glaube, ich kann für meine

Fraktion sprechen, wir sind davon überzeugt, dass wir in Deutschland mit unserem gegliederten Schulsystem niemals an die Spitze in Europa, geschweige denn, in der Welt kommen werden.

(Beifall bei der SPD)

Die Pisa-Studie hat ja noch einmal sehr deutlich gemacht, dass alle Länder, die Spitzenplätze einnehmen, integrative Schulsysteme haben, in denen die Schüler mindestens bis zur neunten Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Die ersten fünf Länder sind, ich sage das einmal, weil sich das nicht nur auf Europa bezieht, Finnland, Kanada, Neuseeland, Australien und Irland. Das sind die fünf Länder, die an der Spitze liegen, und sie haben alle integrative Schulsysteme.

(Beifall bei der SPD)

Pisa beweist zwar nicht direkt, dass die Schulstruktur einen direkten Einfluss auf die Ergebnisse hat, aber die Hinweise auf einen solchen Zusammenhang scheinen mir doch sehr deutlich zu sein. Im Rahmen der Länder, die ein gegliedertes Schulsystem haben, ist Deutschland das Land, in dem am frühesten aussortiert wird, und Deutschland liegt bei den Vergleichsergebnissen ganz hinten. Insbesondere im Bereich der schwachen Leistungen haben wir mit unserer Hauptschule eine besonders scharfe Auslese.

Ein weiteres Beispiel für die negativen Folgen der zu frühen Auslese ist die Tatsache, dass in Deutschland der Anteil der Fünfzehnjährigen in der zehnten Klasse nur bei 23,5 Prozent liegt. In Belgien zum Beispiel, das auch ein gegliedertes System hat, liegt er bei 65 Prozent und in Österreich bei 50 Prozent. Das heißt, in Deutschland bleiben auch gleichzeitig noch zu viele sitzen, statt zu fördern wird ausgesiebt. Deutschland hat eine vergleichsweise niedrige Akademikerquote bei gleichzeitig hohen Qualifizierungsbedürfnissen der deutschen Wirtschaft, was wiederum bedeutet, dass der Prozess der Bildungsexpansion in Deutschland erst am Anfang steht.

(Beifall bei der SPD)

Eine für mich und uns besonders gravierend negative Nebenwirkung des gegliederten Schulsystems liegt in der sozialen Segregation, in der Selektion, der mangelnden Bildungsgerechtigkeit und der damit nicht mehr gewährleisteten Standortsicherheit des Standorts Deutschland. Es ist nicht zu übersehen, dass es einen Zusammenhang gibt von Zugehörigkeit zu einer Sozialschicht und den Chancen, ein Gymnasium zu besuchen, und dies bei Vorliegen von gleicher kognitiver Grundfähigkeit und Lesekompetenz. Es ist durch alle Untersuchungen belegt, dass es in einem früh gegliederten System schwieriger ist, den Zusammenhang des familiären

Hintergrunds und den Schulerfolg zu lockern, vom Beseitigen reden wir sowieso nicht.

Für Deutschland gilt hier, gibt es die engste Koppelung zwischen familiärer, sozialer Herkunft und Schulleistung. Der Soziologe Wolfgang Lepenies, der auf dem Kongress „McKinsey bildet“ referierte, sagte unter anderem, ich zitiere: „In der Bundesrepublik leben wir in einer Wissensverdrängungsgesellschaft.“ Ich habe jetzt gar nicht gefragt, ob ich zitieren darf!

Das ist genehmigt!

Danke! „An einem Tatbestand lässt sich dies besonders deutlich zeigen: der Weigerung der Politik, den Tatbestand der Bildungsarmut überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.“ Gleichzeitig übte er eine ganz scharfe Kritik daran, dass wir in Deutschland es nicht fertig bringen, Sozial- und Bildungspolitik zusammenzubringen, und fordert nachdrücklich einen Bildungssozialbericht, weil er Bildungsarmut auch definiert. Er sagt zum Beispiel: „Der Hauptschulabschluss oder eine Berufsausbildung ist so etwas wie der Mindestlohn, der Mindestbildungsabschluss.“ Zehn Prozent aller Jugendlichen und Kinder in dieser Gesellschaft haben aber überhaupt keinen Abschluss und sind damit bildungsarm. Diese Bildungsarmut wird in Deutschland vererbt. Er machte ganz ausdrücklich darauf aufmerksam, dass Bildungsarbeit auch als präventive Arbeit der Sozialpolitik zu sehen sei. Je mehr in Bildung, in Kinder und Jugendliche investiert wird, umso weniger Ausgaben werden wir in der Sozialpolitik haben.

(Beifall bei der SPD)

Gleichzeitig werden wir einen Beitrag dazu leisten, das Phänomen der Bildungsarmut in Deutschland zu beseitigen.

Wenn ich jetzt den McKinsey-Chef, Herrn Kluge, noch einmal hier ein bisschen ins Gespräch bringen darf, dann muss ich sagen, nach dem, was ich dort gelesen habe, geht er sehr hart mit dem deutschen Bildungssystem ins Gericht. Er sagt unter anderem, das Bildungssystem sei im höchsten Maße unsozial, es gebe einen zu engen Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungschance. Bildung sei allerdings die einzige Chance der Kinder. Das gravierendste Problem sei für ihn unsere Bildungsmisere. Wir bräuchten eine Bildungsexplosion. Es gehe nicht um die Frage, hier und dort etwas zu verbessern, sondern es gehe um die Frage, welches Ganze wir brauchen.

(Beifall bei der SPD)

Er führt weiter aus, dass die Bildungsinstitutionen ihren Aufgaben in Deutschland nicht mehr gerecht werden. Bildungsarmut, er nimmt dies auf, erzeugt Wachstumsarmut, und die treffe am härtesten die

sozial Schwachen. Er fordert darum ein umfassendes, finanzierbares Sanierungskonzept, das seiner Meinung nach folgende Maßnahmen umfassen sollte: Bessere Ausbildung von Lehrern und Erzieherinnen, unter anderem auch eine Hochschulausbildung für Erzieherinnen, also eine hoch qualifizierte Ausbildung, ein ganz besonderes Augenmerk auf die vorschulische Bildung zu legen. Für die Schulen fordert er mehr Eigenverantwortung, aber auch Rechenschaftspflicht und die Einführung von Qualitätsstandards sowie deren Überprüfung. Der internationale Vergleich zeige für ihn ganz deutlich einen Mangel an Qualität im deutschen Schulwesen, damit geht ein Mangel an sozialer Gerechtigkeit einher.

Ich will jetzt auch noch einmal die verschiedenen Faktoren aufzählen, die er nannte, bei denen er dringenden Reformbedarf sieht. Das sind Forderungen, bei denen ich sage, ich stehe als Sozialdemokratin nicht in der Ecke, sondern ich habe Verbündete gewonnen. Erster Punkt ist die individuelle Schülerförderung. Er stellt fest, eine späte institutionelle Differenzierung in Schultypen verbunden mit individueller Förderung im Klassenverband korreliert mit hohem Bildungserfolg. An die Stelle der in Deutschland üblichen frühen institutionellen Trennungen in Schultypen müssen daher Konzepte treten, die dem einzelnen Schüler helfen, seine Stärken zu entfalten. Das ist mir voll aus dem Herzen gesprochen!

(Beifall bei der SPD)

Es wird gefordert, ein größeres Gewicht auf die frühe Bildungsphase zu legen, die Anzahl der Ganztagsplätze in den Kindergärten und die Krippenplätze müssen ausgebaut werden, wir brauchen ein konsequentes Qualitätsmanagement – wir haben dabei drastische Defizite –, mehr Eigenverantwortung und Leistungsorientierung für die Schulen, Autonomie für die Einstellung von Personal und dessen Qualifizierung. Eine Feststellung dieses Kongresses, kann man zusammenfassend sagen, lautete: In Deutschland beginnen wir zu spät und selektieren zu früh!

(Beifall bei der SPD – Glocke)

Ich möchte nur noch ganz kurz sagen, eine Feststellung dieses Kongresses möchte ich uns hier auch nicht vorenthalten: Nirgendwo auf der Welt, wurde da gesagt, werden Wissenschaft und Politik in der Pisa-Debatte so vermischt. Die Diskussionen bewegen sich auf dünnem, faktenlosem Eis.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich auf dem Besucherrang eine Gruppe von Teil

nehmerinnen aus dem Mentoring-Projekt der SPDBürgerschaftsfraktion ganz herzlich begrüßen!

(Beifall)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Rohmeyer.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Frau Jansen, Frau Hövelmann sagte mir, dass dies voraussichtlich die letzte Rede gewesen ist, die Sie in der Bürgerschaft gehalten haben. Ich möchte auf jeden Fall gar nicht zu sehr darauf eingehen, ich möchte nur sagen, es waren zum größten Teil die Inhalte, die mich bewogen haben, in die CDU einzutreten, die Sie hier noch einmal vorgetragen haben.

(Beifall bei der CDU – Abg. K l e e n [SPD]: Dafür sind wir heute noch dankbar! – Heiterkeit bei der SPD)

Ja, sehen Sie! Meine Damen und Herren, dass natürlich gerade die, die sonst die Unternehmensberatung immer in eine bestimmte Ecke gestellt haben, hier heute einen Unternehmensberater zitieren, ist eine Ironie für sich, die ich nicht weiter bewerten möchte, aber ich weiß, wie damals Roland Berger, wie auch McKinsey nicht nur von der Opposition, sondern auch von Teilen der Koalitionsfraktionen aufgenommen wurden. Ich freue mich, dass Sie insgesamt die Scheu vor Unternehmensberatern hier verloren haben, auch wenn ich Ihnen sagen muss, dass ich zu der McKinsey-Studie, zu dem Kongress „McKinsey bildet“ und deren Folgen gleich noch etwas detaillierter mit Ihnen diskutieren möchte. Prinzipiell finde ich es gut, dass Sie auch diese Scheu verloren haben.

Es ist auch völlig notwendig und richtig, dass eben nicht nur die Bildungspolitik, nicht nur die Eltern, nicht nur die Lehrer sich mit Schule beschäftigen, sondern auch Unternehmensberater und Unternehmen selbst, aber dann muss man auch die komplette Bandbreite anschauen! Sie haben zwei herausgegriffen, das ist einmal McKinsey, und das ist der Baden-Württembergische Handwerkstag. Wenn Sie sich die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände anschauen und deren Projekt „Initiative Hauptschule“, werden Sie feststellen, es ist nicht so, wie Sie es hier dargestellt haben, dass jetzt die komplette deutsche Unternehmerschaft hinter dem Projekt des integrativen Schulsystems steht. Sie haben genau die beiden einzigen, die sich dazu durchgerungen haben, hier zitiert.

Ich sage Ihnen auch, McKinsey hat sich nicht für eine Gesamtschule ausgesprochen, dazu werden wir aber gleich noch detaillierter kommen. Die Bundes––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.