Protokoll der Sitzung vom 22.02.2007

Ich eröffne die 77. Sitzung der Bürgerschaft (Landtag).

Ich begrüße die hier anwesenden Damen und Herren sowie die Zuhörer und die Vertreter der Presse.

Auf der Besuchertribüne begrüße ich recht herzlich zwei 9. Klassen vom Schulzentrum Drebberstraße und eine Gruppe des Focus-Vorbereitungskurses von der Alexander-von-Humboldt-Schule. Seien Sie alle ganz herzlich willkommen!

(Beifall)

Gesetz über den Vollzug der Jugendstrafe im Land Bremen (Bremisches Jugendstrafvoll- zugsgesetz – BremJStVollzG)

Mitteilung des Senats vom 30. Januar 2007 (Drucksache 16/1283) 1. Lesung

Wir verbinden hiermit:

Bremisches Jugendstrafvollzugsgesetz

Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 15. Februar 2007 (Drucksache 16/1311)

Dazu als Vertreter des Senats Herr Staatsrat Mäurer.

Wir kommen zur ersten Lesung.

Die Beratung ist eröffnet.

Als Erster hat das Wort der Abgeordnete Ehmke.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat am 31. Mai des letzten Jahres entschieden, dass es für den Jugendstrafvollzug einer speziellen gesetzlichen Grundlage bedarf, und hat den Gesetzgeber verpflichtet, eine solche bis zum Ende des Jahres 2007 zu schaffen. Durch die Föderalismusreform ist die Gesetzgebungskompetenz für den Bereich des Strafvollzugs nun vom Bund auf die Länder übergegangen, und somit trifft hier heute die Verpflichtung des Bundesverfassungsgerichts uns in der Bürgerschaft als Landesgesetzgeber.

Der Senat hat uns dazu heute den Entwurf eines Bremischen Jugendstrafvollzugsgesetzes vorgelegt, das wir heute in 1. Lesung beraten. Bevor ich auf einzelne Gesichtspunkte des Gesetzes eingehe, möchte ich vorweg noch einige lobende Worte zum bisherigen Gang der Entstehung dieses Gesetzes finden.

Der Justizsenator, Bürgermeister Jens Böhrnsen, hat in zwei öffentlichen Anhörungen wichtige Fra

gen des Jugendstrafvollzugs und dieses Gesetzentwurfs mit Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis ausführlich diskutiert, und viele Anregungen haben Eingang in diese dem Entwurf vorgeschalteten Beratungen und letztlich in diesen Entwurf gefunden. Ich habe dies als ein sehr offenes und konstruktives Verfahren empfunden, und ich finde, dass es beispielgebend sein kann und sein sollte auch für weitere Entscheidungsprozesse hier in Bremen.

(Beifall bei der SPD)

Zur Sache möchte ich hervorheben, dass das Bremische Jugendstrafvollzugsgesetz den Erziehungsgedanken und den Resozialisierungsgedanken in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt und als Ziel formuliert, ohne dabei die Belange der Sicherheit zu verkennen. Damit schafft dieses Gesetz die Grundlagen für einen modernen Strafvollzug und erfüllt die verfassungsrechtlichen Vorgaben.

Ein weiterer Punkt, der in der Debatte um das Jugendstrafvollzugsgesetz eine große und wichtige Rolle gespielt hat, ist die Eigenständigkeit des Jugendstrafvollzugs und seine Trennung vom Erwachsenenvollzug. An dieser Stelle ist vielfach der organisatorische Aufbau, Paragraf 98 des Gesetzes, diskutiert worden. Ich glaube aber, dass es sich lohnt, auf den Paragrafen 101 des Gesetzes zu schauen, der die fachliche Eigenständigkeit des Jugendstrafvollzugs eindeutig festschreibt und deutlich macht, dass in allen fachlichen Fragen die Leiterin des Jugendstrafvollzugs nicht dem Anstaltsleiter der Gesamtanstalt nachgeordnet ist, sondern dass der Jugendstrafvollzug unabhängig ist. Diese wichtige Vorgabe wird meines Erachtens durch den Paragrafen 101 vernünftig umgesetzt.

Eine weitere wichtige Frage, das sehen wir auch im Antrag, den die Grünen heute vorgelegt haben, und das spielte auch in den Beratungen eine wichtige Rolle, ist der Wohngruppenvollzug. Ich möchte es aus der Sicht der Sozialdemokraten deutlich sagen, der Wohngruppenvollzug muss der Regelvollzug sein.

(Beifall bei der SPD)

Es ist selbstverständlich und klar, dass, wenn im Einzelfall am Verhalten des Strafgefangenen ein Wohngruppenvollzug scheitert oder nicht zustande kommen kann, Lösungen gefunden werden, aber wir wollen nicht, dass man es sich dabei einfach machen kann, sondern wir wollen, dass der Vollzug seiner Aufgabe gerecht wird und sich Mühe gibt, mit den Gefangenen zu arbeiten. Deshalb gehen wir davon aus, dass der Wohngruppenvollzug der Regelvollzug sein soll.

Meines Erachtens ist das im Gesetz so angelegt. Man findet das vor allen Dingen auch, wenn man in die Begründung sieht, aber ich denke, inhaltlich, meine Damen und Herren, haben wir bisher keinen

Dissens. Wir werden uns im Rechtsausschuss noch einmal ansehen müssen, ob die Formulierung das so abbildet. Ich könnte mir das vorstellen, aber ich denke, das sollten wir im Rechtsausschuss noch einmal im Detail beraten.

Einen Dissens haben wir dann, wenn ich noch einmal auf den Antrag der Grünen komme, allerdings im Bereich der Frage Regelvollzug, offener Verzug. Ich glaube, dass man an der Stelle auch aufpassen muss, dass man nah an der Realität bleibt. Wir haben in Deutschland die Situation, dass über 80 Prozent der Gefangenen im geschlossenen Vollzug sind, obwohl im Strafvollzugsgesetz ein Regelausnahmeverhältnis zugunsten des offenen Vollzugs vorgesehen ist. Das hilft uns an dieser Stelle nicht weiter.

Ich glaube, dass die Formulierung im bremischen Gesetzentwurf klüger ist, wo man sagt, es gibt die Vollzugsform offener Vollzug, geschlossener Vollzug, und wir müssen uns ansehen, ob der Gefangene für den offenen Vollzug geeignet ist oder nicht. Mit Regelausnahmeverhältnissen verändern wir in der Sache nichts, möglicherweise bauen wir aber im Gesetz etwas auf, was der Realität nicht entspricht. Ich finde, davor sollten wir uns an dieser Stelle hüten.

(Beifall bei der SPD)

Aber auch das ist eine Sache, die wir im Detail im Rechtsausschuss weiter beraten können. Wir möchten deshalb auch den Antrag der Grünen gemeinsam mit dem Gesetz nach der ersten Lesung in den Rechtsausschuss überweisen. Man kann sich darüber streiten, ob das von der Formulierung ganz passend ist, weil der Antrag den Senat auffordert, aber ich glaube, im Kern geht es darum, dass die 3 Punkte, die von den Grünen aufgezeigt sind, da noch einmal ordentlich fachlich beraten werden müssen, und dazu sind wir bereit.

Ich möchte des Weiteren noch sagen, dass der bremische Gesetzentwurf mit den meisten anderen Bundesländern abgestimmt ist. Das finden wir als Sozialdemokraten richtig, weil wir nach wie vor der Auffassung sind, dass es sinnvoll ist, im Strafvollzug bundesweite Standards zu setzen, und deshalb eine Absprache der Länder hier an dieser Stelle sinnvollerweise genutzt werden sollte.

Ich finde es richtig, an einzelnen Punkten, an denen wir es politisch für geboten, für inhaltlich sinnvoll halten, bremische Wege zu gehen, denn auch das macht Landeskompetenz aus. Wir haben hier beim Regelausnahmeverhältnis im Hinblick auf die Anstaltskleidung ein Beispiel, aber ich möchte auch sagen, dass es mich besonders freut, dass das Bonussystem, eine Anregung meines ehemaligen Fraktionskollegen Horst Isola, des ehemaligen justizpolitischen Sprechers der SPD-Fraktion, die er in der ersten Anhörung zum Jugendstrafvollzugsgesetz gebracht hat, hier im Paragrafen 4 Eingang gefunden hat.

Ich glaube, dass auch das ein Element des modernen und zukunftsweisenden Strafvollzugs sein kann. Deshalb freue ich mich, dass diese Anregung aufgegriffen wird, und es unterstreicht auch noch einmal, dass es Sinn gemacht hat, diese Beratungen durchzuführen und sich auch daran zu beteiligen. Veränderungen und Entwicklungen waren durchaus möglich.

Abschließend möchte ich sagen, es ist kein Geheimnis, dass wir uns hier in Bremen nicht um die Kompetenz für den Strafvollzug gerissen haben. Meine Fraktion, die SPD, aber auch der Bürgermeister und Justizsenator haben deutlich gemacht, wir hätten auch gut damit leben können, wenn diese Kompetenz beim Bund verblieben wäre. Nichtsdestoweniger, und das freut mich sehr, sind bis jetzt alle Verantwortlichen in der Frage des Jugendstrafvollzugs sehr verantwortungsbewusst mit dieser Kompetenz umgegangen, sehr sachlich und sehr fachlich. Das freut mich, weil es auch ein Zeichen für das Funktionieren der Föderalismusreform ist, ein Zeichen für das Funktionieren des Föderalismus. Ich glaube, dass wir hier heute einen Beitrag dazu leisten können, die Beratungen entsprechend fortzusetzen durch den Beschluss in der ersten Lesung und Überweisung und Beratung der weiteren Punkte im Rechtsausschuss. – Vielen Dank!

(Beifall bei der SPD)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Wargalla.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mein Vorredner, Herr Ehmke, hat schon darauf hingewiesen, wie das Gesetz entstanden ist und dass es ein Gesetz ist, das im Konsens von 9 Ländern mit Bremen zusammen auf den Weg gebracht worden ist. Ich möchte darauf hinweisen, dass es in der Vergangenheit schon mehrere Vorstöße auf der Ebene des Bundes gegeben hat, eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Das ist leider Gottes in den letzten 20 Jahren immer am Widerstand der Länder gescheitert.

Das war übrigens auch einer der Hintergründe dafür, weshalb viele am Strafvollzug Beteiligte nach dem Übergang der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder befürchtet haben, dass es zwischen den Ländern zu einem Wettbewerb der Schäbigkeit kommen wird, je nachdem, wie arm oder reich das Land ist, je nachdem, wie gut oder wie schlecht die Gefangenen behandelt werden. Ich denke, Bremen hat gezeigt, dass man auch konstruktiv ein Gesetz mit anderen Ländern erstellen kann mit einigen Bremensien, die dann trotzdem Anklang finden und über die wir sprechen können.

Auf Bundesebene gab es einen aktuellen Referentenentwurf aus dem Bundesministerium der noch rot-grünen Regierung, er datiert vom 28.4.2004. Die

ser rot-grüne Referentenentwurf kann als Mutter aller Entwürfe bezeichnet werden. Alles andere kam zeitlich gesehen hinterher. Das betrifft den Entwurf von Frau Zypries und auch den Entwurf der Länder sowie unseren Entwurf. In allen Fällen wurde in wesentlichen Teilen aus dem genannten Referentenentwurf abgeschrieben. Das betrifft den Aufbau des Gesetzes, die Paragrafenfolge und geht teilweise auf die Vorschriften ein.

Die Grünen haben nichts dagegen, wenn man aus Entwürfen abschreibt, die von rot-grünen Regierungen aufgestellt wurden. Gleichwohl haben wir etwas dagegen, wenn wie hier in diesem Gesetzentwurf ein bisschen davon abgewichen oder nicht so gezielt formuliert worden ist, sodass man doch sagen kann, einige Paragrafen unterliegen der Beliebigkeit. Das ist auch der Grund, warum wir eine Regelung fordern, dass der offene Vollzug Regelvollzug wird, dass wir nicht nur eine fachlich zuständige, sondern eine eigenständige Justizvollzuganstalt haben wollen und dass bezüglich der Wohngruppen innerhalb der Vollzugsanstalt das Gesetz härter formuliert werden muss. Wir sollten die Chance nutzen, mit diesem Gesetz den offenen Vollzug als Regelvollzug festzuschreiben, die Jugendstrafanstalt als eigenständige Anstalt herauszustellen und zukünftig den Wohngruppenvollzug gesetzlich regeln.

Zuerst zum offenen Vollzug: Bereits in den Siebzigerjahren begann die Diskussion um den offenen Vollzug. In der Gesellschaft gab es in dieser Position einen breiten Konsens. Nur Jugendliche, die sich dem offenen Vollzug entziehen wollten oder den offenen Vollzug zur Begehung von Straftaten benutzen, sollten geschlossen untergebracht werden. In der Zwischenzeit haben sich ganz andere Vorstellungen entwickelt. Vor allem gibt es Bestrebungen, den Jugendstrafvollzug an den allgemeinen Strafvollzug für Erwachsene heranzuführen. Diese Tendenz müssen wir leider auch in Bremen beobachten. Hier werden die Jugendlichen fast ausnahmslos im geschlossenen Vollzug gehalten. Ein einziger jugendlicher Strafgefangener befand sich im Dezember vorigen Jahres im offenen Vollzug. Im Januar keiner! Ich denke, das ist so nicht hinnehmbar!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Nicht ohne Grund hat das Bundesverfassungsgericht konkrete Anforderungen an das Jugendstrafvollzugsgesetz gestellt. So sollen die gesetzlichen Grundlagen nach modernen Erkenntnissen der Erziehungswissenschaft ausgerichtet sein. Das bedeutet kein Verwahrvollzug, sondern Förderung mit dem Ziel, nach der Verbüßung ein Leben ohne Straftaten zu führen, und dazu gehört der offene Vollzug.

Ich möchte gern mit Erlaubnis des Präsidenten aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zitieren: „Jugendliche und Heranwachsende befinden sich bio

logisch, psychisch und sozial in einem Stadium des Übergangs, das typischerweise mit Spannungen, Unsicherheiten und Anpassungsschwierigkeiten verbunden ist. Zudem steht der Jugendliche in einem Alter, in dem nicht nur er selbst, sondern auch andere für seine Entwicklung verantwortlich sind. Die Fehlentwicklung, die sich in gravierenden Straftaten eines Jugendlichen äußert, steht in besonders dichtem und oft auch besonders offensichtlichem Zusammenhang mit einem Umfeld und Umständen, die ihn geprägt haben. Freiheitsstrafen wirken sich in vieler Hinsicht für Jugendliche besonders gravierend aus.“

Meine Damen und Herren, Jugendliche, die oft Schreckliches getan, aber auch oft Schlimmes erfahren haben, erwarten vom Jugendstrafvollzug, den sie als totale Institution ansehen, nichts als Härte. Wenn sie dann aber ein menschliches Gefängnis erleben mit pädagogisch aufgeschlossenen Beamten, ansprechenden Bildungsangeboten, guter Vorbereitung auf das Leben nach der Haft, können sie sich vielleicht öffnen und ihrem Leben eine neue Orientierung geben. Allerdings macht die weltweite Tendenz nach mehr Härte auch im Umgang mit jungen Straftätern, die sogenannte Law-and-Order-Stimmung, es schwer bis unmöglich, den offenen Vollzug als Regelvollzug durchzusetzen.

Erheblich tragen dazu die Medien, die Polizei und die Politik bei. Mit ihrer Dramatisierung wird die Bevölkerung in ständiger Kriminalitätsfurcht gehalten. Dem kann man nur entgegentreten, indem man die Bevölkerung mit den tatsächlichen Zahlen der inhaftierten Jugendlichen und deren Delikte konfrontiert. Dann wird man erkennen, dass nur jeder vierte Jugendliche mit schweren Delikten im Vollzug einsitzt, mit wirklich schweren Delikten. In Bremen ist das nicht anderes, die Jugendlichen mit ganz schweren Delikten haben wir nicht bei uns im Jugendstrafvollzug.

Wenn wir also einen vernünftigen Vollzug gewährleisten, der den Jugendlichen beziehungsweise den heranwachsenden Gefangenen befähigt, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen, haben wir das Vollzugsziel der Realisierung erreicht und damit erheblich für die Sicherheit der Bevölkerung beigetragen.

Es ist ein Irrglaube zu denken, dass die Sicherheit der Bevölkerung durch eine Erhöhung der Mauer erreicht wird. Sicherheit erreiche ich nachhaltiger durch das, was mit den Gefangenen im Vollzug passiert. Auch Herr Knäpper – er ist nicht da heute? –

(Abg. Frau T u c z e k [CDU]: Er ist da!)

hat in der Debatte im November nachdrücklich darauf hingewiesen, dass erfolgreiche Resozialisierungsbemühungen der beste Beitrag für die Sicherheit der Bevölkerung ist. Da stimme ich mit ihm überein.