Protokoll der Sitzung vom 26.04.2007

Erst Mitte 2006 – und damit drei Jahre nach Gründung des Fachdienstes – wurden Mittel zur Anwer

bung von Einzelvormündern, die die Amtsvormünder entlasten sollen, bereitgestellt. Anfang 2007 wurden zwei neue Stellen bewilligt. Somit wurden über lange Zeit nicht nur die objektiv überlasteten Amtsvormünder ihrem Schicksal überlassen, sondern – viel schlimmer – damit auch die von ihnen betreuten Mündel, also Kinder, für die die Amtsvormundschaft im rechtlichen Sinne ein Elternersatz sein soll.

In vielen Sozialzentren wird der Handlungsansatz des Casemanagements nicht oder jedenfalls nur halbherzig umgesetzt. Viele der Sozialarbeiter stehen ihm kritisch bis ablehnend gegenüber. Eine dreitägige Fortbildungsveranstaltung sollte ausreichen, um aus Sozialarbeitern, die den Schwerpunkt ihrer Arbeit bisher in der persönlichen Arbeit mit Menschen sahen, Casemanager zu machen, die nur noch Hilfen organisieren. Für die Einarbeitung, Fortbildung und Supervision der Mitarbeiter standen zu wenig Geld und Zeit zur Verfügung.

Darüber hinaus bietet die Aktenführung in Teilen Anlass zu Kritik. Sie wird von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern teilweise als übertriebene und überflüssige Schreibarbeit angesehen, die im Gegensatz zu der von den Sozialarbeitern zu leistenden Beziehungsarbeit am Menschen steht. Dieser Fehleinschätzung muss die Amtsleitung künftig entgegentreten. Schließlich verbirgt sich hinter jedem Aktendeckel ein Kinderschicksal, das auf keinen Fall in den Akten verloren gehen darf.

Meine Damen und Herren, die Dienst- und Fachaufsicht über die Casemanager weist schwere Mängel auf. Soweit sie erfolgt, wird zu großes Augenmerk auf Kostenfragen gelegt. Dies mag seine Ursache in dem seit Jahren aufgebauten Kostendruck haben. Die fachliche Kontrolle wird demgegenüber vernachlässigt. Das heißt, Vorgesetzte bekommen nicht mit, was ihre Mitarbeiter tun oder, wie im Fall Kevin, unterlassen. Es fehlt ein verbindliches Vier-Augen-System.

Die Vorgesetzten geben den Casemanagern kaum Anleitung oder klare Vorgaben. Beispielsweise mussten Vorgesetze über polizeiliche Notlagenberichte, die Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung enthalten, bislang nur in einigen Sozialzentren informiert werden. Im Weiteren war nicht geregelt, wie die Vorgesetzten – auch zum Schutz und als Hilfestellung für die Mitarbeiter – in das weitere Vorgehen eingebunden sind. Für Arzt- und Krankenhausberichte, die entsprechende Hinweise enthalten können, war überhaupt keine Information der Vorgesetzten vorgesehen.

Bei der Einleitung von Maßnahmen, die Geld kosten, werden die Casemanager veranlasst, kostenbewusst zu handeln. Anders verhält es sich bei der Überprüfung der bereits eingeleiteten Maßnahmen. Nach dem Eindruck des Ausschusses werden die Durchführung und die Effektivität der eingeleiteten Maßnahmen wenig bis gar nicht kontrolliert.

Ein großes Problem stellt die Erreichbarkeit des Ambulanten Sozialdienstes „Junge Menschen“ dar. Dies gilt zum einen in Bezug auf die Frage, an welches Amt die Bürger sich wenden können, wenn sie den Verdacht haben, dass Kinder gefährdet werden. Bedingt durch die bremische Behördenstruktur findet sich weder im Telefonbuch noch im Internet ein Hinweis auf ein Jugendamt in Bremen. Zum anderen ist es schwierig, die Casemanager im Ambulanten Sozialdienst „Junge Menschen“ überhaupt zu erreichen. In diesem Zusammenhang hat der Ausschuss positiv zur Kenntnis genommen, dass am 1. Februar 2007 ein Kinder- und Jugendschutztelefon eingerichtet worden ist, um die Entgegennahme von Notrufen rund um die Uhr zu gewährleisten.

Bislang war der Umgang mit Hinweisen Dritter auf mögliche Kindeswohlgefährdungen in Bremen nicht geregelt. Dementsprechend uneinheitlich wurde mit solchen Meldungen verfahren. Erst in der letzten Woche wurde dem Jugendhilfeausschuss beziehungsweise der zuständigen Deputation eine fachliche Weisung zur Umsetzung des Schutzauftrages vorgestellt. Eine solche Anweisung war nach Auffassung des Untersuchungsausschusses längst überfällig. Immerhin ist der Paragraf 8 a des Sozialgesetzbuches VIII, der einen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung formuliert, bereits im Oktober 2005 in Kraft getreten. Ich hoffe, dass diese neue Weisung schnellstens im Amt für Soziale Dienste auch wirklich umgesetzt wird.

Die Frage nach den Kosten hat im Amt für Soziale Dienste in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung erlangt. Ohne Zweifel hat die Amtsleitung diesbezüglich Druck auf Sozialzentrumsleitungen und Stadtteilleitungen ausgeübt. Die Einhaltung der Zielzahlen wurde mit Nachdruck eingefordert. Die Controllinggespräche beim Amtsleiter fanden nach den Feststellungen des Untersuchungsausschusses in einer angespannten Atmosphäre statt. Offensichtlich entstand bei einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Eindruck, ihnen werde das Nichterreichen der vorgegebenen Zielzahlen als persönliches Versagen vorgehalten.

Es kann somit davon ausgegangen werden, dass die Controllinggespräche sowie die regelmäßigen Einwendungen der Fachabteilung gegen kostenintensive Maßnahmen bei den einzelnen Mitarbeitern deutlich Wirkung gezeigt haben und diese nicht zu Unrecht von einer „Schere im Kopf“ gesprochen haben. Es wird Aufgabe der neuen Amtsleitung sein, in Zukunft ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem positiv zu bewertenden Kostenbewusstsein einerseits und dem übertriebenen, die Fachlichkeit antastenden Kostendruck andererseits herzustellen.

Meine Damen und Herren, Mängel wurden auch in der internen und externen Zusammenarbeit festgestellt. Es mangelt an einer umfassenden gegenseitigen Information. Diese ist insbesondere im Hinblick auf die freien Träger notwendig, damit sie qualifizierte

Arbeit leisten können. Sie ist insoweit auch unter Datenschutzgesichtspunkten zulässig. Auch Gerichte und Staatsanwaltschaft haben Mitteilungspflichten gegenüber dem Jugendamt, wenn es um die Abwehr erheblicher Gefahren für Minderjährige geht.

Die Aufgaben des Amtes für Soziale Dienste und des Senators für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales sind nicht eindeutig genug voneinander abgegrenzt. Eine eindeutige Auswirkung auf den Fall Kevin konnte der Untersuchungsausschuss aber nicht feststellen, gleichwohl besteht hier Handlungsbedarf. Unklare Zuständigkeiten müssen beseitigt werden. Sie dürfen nicht vorschnell mit Hinweis auf das „Stadtstaat-Argument“ hingenommen werden.

Meine Damen und Herren, die vorgenannten Mängel im Ressort müssen dringend behoben werden. Positiv bewertet der Untersuchungsausschuss, dass das Ressort umfangreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht hat. Darüber hinaus sind aus den Untersuchungen des Ausschusses im Wesentlichen folgende Konsequenzen zu ziehen:

Bei der Arbeit vor Ort muss künftig mehr darauf geachtet werden, Hilfemaßnahmen nicht nur unreflektiert aneinanderzureihen. Vielmehr ist es im Sinne einer Qualitätssicherung, die Wirksamkeit der ergriffenen Maßnahmen rechtzeitig zu hinterfragen. Dies erfordert auch eine verbesserte Zusammenarbeit mit den freien Trägern sowie eine weitergehende Kontrolle der von diesen erbrachten Leistungen. Sinnvoll erscheint es, weitere Instrumente zur Kindeswohlsicherung in der Struktur des Jugendamtes zu verankern, sei es über einen zentralen Fachdienst, sei es über den Einsatz von Spezialfachkräften in den einzelnen Sozialzentren.

Die Handlungsempfehlungen und Verfahrensvorgaben für die Casemanager müssen vereinfacht, vereinheitlicht und systematisiert werden. Darüber hinaus ist eine Nachqualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erforderlich. Hier erscheint ein längerfristiges Weiterbildungs- und Personalentwicklungsprogramm sinnvoll. Teilweise konnte der Ausschuss feststellen, dass das erforderliche Engagement nicht mehr vorhanden war. Offenbar ist eine Reihe von Mitarbeitern „ausgebrannt“. Oberste Führungsaufgabe wird es in der nächsten Zeit sein, die Unzufriedenheit und den Mangel an Motivation durch unterstützende Maßnahmen wie Supervision, Fortbildung und auch funktionierende Aufsicht zu beheben.

Neben der Verwaltung ist aber auch die Politik, meine Damen und Herren, gefordert. Die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Der Abschlussbericht des Ausschusses darf nicht in der Schublade verschwinden. Alle demokratischen Parteien sind aufgerufen, in der nächsten Legislaturperiode eine umfassende Verbesserung der Situation von Kindern und ihren Familien im Lande Bremen anzustreben. Dies ist nach den Geschehnissen, die zum Tod von Kevin geführt

haben, unsere Pflicht. – Vielen Dank, meine Damen und Herren!

(Beifall)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Möhle.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Als Erstes lassen Sie auch mich einen großen Dank an die Ausschussassistenz aussprechen! Sie hat hoch professionell, schnell und effektiv gearbeitet, auch dafür von mir herzlichen Dank. In meine Danksagung mit einbeziehen möchte ich auch die Protokollführung, die Druckerei sowie die gesamte Bürgerschaftsverwaltung.

(Beifall)

Die Nachricht, dass Kevin tot im Kühlschrank seines vermeintlichen Vaters gefunden wurde, hat nicht nur Bremen schockiert, sondern ganz Deutschland. Ganz besonders geschockt hat die Menschen dieser Tod auch, weil Kevin einen Amtsvormund hatte. Wenn Kinder unter staatlicher Aufsicht nicht mehr lebenssicher sind, bedeutet dies Staatsversagen und damit auch Regierungsversagen. Die ehemalige Senatorin Röpke hat dies erkannt, die politische Verantwortung übernommen und ihren Rücktritt erklärt.

Gleichwohl war sehr schnell deutlich, dass es erheblichen Aufklärungsbedarf gab. Die grüne Bürgerschaftsfraktion war sich sehr schnell einig und stellte den Antrag auf Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Dem folgten SPD und CDU. Der Ausschuss wurde von der Bremischen Bürgerschaft einhellig eingesetzt. Am 3. November nahm der Ausschuss seine Arbeit auf. Die Ausschussarbeit war getragen von dem gemeinsamen Ziel, den schrecklichen Tod des kleinen Kevin aufzuklären. Es gab insofern eine gute parteiübergreifende Zusammenarbeit im Ausschuss, die sachlich und von großem Aufklärungsinteresse geprägt war.

Lassen Sie mich gleich zu Anfang einige persönliche Anmerkungen machen! Kevins Tod kann niemanden emotionslos und kalt lassen. Meine eigene Betroffenheit ist im Laufe der Befragung in völlige Fassungslosigkeit und auch Wut umgeschlagen. Kevin könnte heute noch leben, wenn es mehr Engagement und einfach nur mehr menschliches Mitgefühl gegeben hätte. Da, wo die professionelle Verantwortung aufhört oder nicht wahrgenommen wird, fängt Zivilcourage an. Auch daran hat es bei viel zu vielen Akteuren gemangelt.

Wenn eine Kinderklinik im Arztbrief Kindesmisshandlung feststellt, wie bei Kevin geschehen, dann ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

muss mehr energisches Handeln erwartet werden können, ein bürokratisches Weiterleiten reicht da überhaupt nicht aus.

(Beifall)

Wenn eine Tagesmutter bei den zuständigen Stellen erhebliche Verletzungen Kevins meldet und von einem gebrochenen Fuß, der seitlich absteht, spricht, muss sofort eingeschritten werden, und die Tagesmutter darf nicht alleingelassen werden.

(Beifall)

Wenn sich der Amtsvormund einfach nur auf die Aussagen des Casemanagers verlässt, anstatt sich den Jungen anzusehen, dann hat er schlicht falsch gehandelt.

(Beifall)

Wenn der Amtsleiter von der Senatorin auf den Fall Kevin aufmerksam gemacht wird, dann reicht es eben nicht aus, die Verantwortung zu delegieren. Der sogenannte Casemanager hat so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Er hat nicht nur amtsinterne Kommunikationswege blockiert, sondern mit einer völlig falschen fachlichen Einschätzung der Lebens- und Gefährdungssituation Kevins dazu beigetragen, dass auch andere Fehler gemacht haben. Er hat vor allem auch deutlich geschönte, um nicht zu sagen, gelogene Berichte verfasst.

Dennoch ist es falsch, dem Casemanager die alleinige Verantwortung in die Schuhe schieben zu wollen. Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass selbst die Innenrevision der senatorischen Behörde, die nach dem Tod Kevins eingesetzt wurde, sich darüber gewundert hat, wie schlecht hier gearbeitet wurde, und dass der Casemanager nahezu zwei Jahre unkontrolliert vor sich hinarbeiten konnte.

Zu keinem Zeitpunkt gab es ein fundiertes Hilfekonzept. Dafür gab es eine völlig unreflektierte Aneinanderreihung der verschiedensten Hilfsangebote. Wurden sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht an- oder wahrgenommen, kam die nächste Maßnahme. Ob die Maßnahmen Kevin tatsächlich helfen würden, war noch nicht einmal angedacht. Wenn aber Fallkonferenzen unter Teilnahme der Stadtteilleiterin und Verantwortlicher der Amtsleitung den Vorschlägen des Casemanagers zustimmen, ohne die Konzeptionslosigkeit und das völlige Fehlen eines Hilfekonzepts zu erkennen, so tragen diese zumindest eine nicht unerhebliche Mitschuld. Auch hier hat die Amtsleitung und die ihr unterstellte Fachabteilung versagt.

Es geht also nicht an, nunmehr alles auf den Casemanager zu schieben und andere Verantwortlichkeiten zu übersehen. Der Abschlussbericht tut das auch

nicht. Akribisch wird in der zusammenfassenden Bewertung des Berichts jede Station durchaus kritisch hinterfragt. Das ist auch richtig und notwendig. Gewünscht hätte ich mir, dass auch die Behörden und Amtszeugen selbstkritischer im Ausschuss aufgetreten wären. Das war aber nicht so. Die Verantwortung wurde im Prinzip nicht angenommen, sondern an andere weiter- und abgeschoben. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein solcher oder ähnlicher Fall künftig nur dann verhindert werden kann, wenn es einen anderen, verantwortungsvolleren Umgang auch mit Fehlern im Amt geben wird.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Ich möchte an dieser Stelle aber auch nicht unerwähnt lassen, dass es durchaus engagierte Menschen gab. Da ist die Familienhebamme zu nennen, die hartnäckig vor dem Gewaltpotenzial des vermeintlichen Vaters, vor dem Ziehvater gewarnt hat, oder die Familienrichterin, die sich ebenfalls deutlich für das Kindeswohl eingesetzt hatte, auch eine Polizistin, die auf den ersten Blick erkannt hat, dass Kevin entwicklungsverzögert ist und den Jungen im Krankenhaus untersuchen ließ und dann in das Hermann-Hildebrand-Haus brachte. All dies sind Beispiele eines professionellen Selbstverständnisses, das andere Akteure schmerzhaft vermissen ließen.

Bei aller festgestellten Amtsverantwortung gibt es aber auch den mutmaßlichen Täter. Ich will aber deutlich sagen, dass Täter nicht vom Himmel fallen. Sowohl bei Herrn K., dem vermeintlichen Vater und Täter, als auch bei der Mutter Kevins gab es erschreckende, ja geradezu schockierende eigene Familiensituationen. Sandra K.s Vater nahm sich, als Sandra K. gerade einmal sechs Jahre alt war, das Leben, und auch Herrn K.s Vater nahm sich selbst das Leben, als Herr K. noch ein Kind war. Das soll die Tat überhaupt nicht relativieren, es soll aber erklären, dass Täter nicht selten zuvor selbst Opfer waren. Die Staatsanwaltschaft und die Gerichte werden sich mit der juristischen Schuld auseinanderzusetzen haben. Das war nicht die Aufgabe des Untersuchungsausschusses.

Für mich ist es bis heute nicht fass- und nachvollziehbar, wie ein Mensch ein Kind dermaßen quälen und dann noch monatelang mit einem toten Kind im Kühlschrank leben konnte. Den Leidensweg Kevins nachzuvollziehen, das gehörte zu dem schwierigsten Teil der Untersuchung. 24 Knochenbrüche – der von der Tagesmutter festgestellte gebrochene linke Fuß war nach dem gerichtsmedizinischen Gutachten tatsächlich gebrochen –, Vitamin-D-Mangel, der darauf hindeutet, dass Kevin sehr lange Zeit kein Tageslicht gesehen hat, und Schädelverletzungen sind nur die nüchterne Beschreibung des gerichtsmedizinischen Gutachtens.

Die Aussage einer Zeugin aus dem Hermann-Hildebrand-Haus macht die Qual Kevins sehr deutlich:

„Der Junge hatte keinen Muskeltonus, er wirkte schwach und reagierte kaum, er hatte resigniert, Kevin weinte lautlos ohne Tränen.“ Ich sage es noch einmal, Kevin könnte heute noch leben, wenn anders gehandelt worden wäre.

Der Ausschussbericht benennt neben den Fehlern der verschiedenen Amtsebenen vor allem auch Strukturmängel. Diese Mängel sind sorgfältig vom Ausschuss herausgearbeitet worden und im Abschlussbericht wiedergegeben, deshalb will ich das an dieser Stelle nicht vortragen.

Eine Kernaussage von mir ist aber: Die Sparschraube wurde im Jugendamt überdreht. Die Haushaltsanschläge waren über mehrere Jahre nicht ausreichend, und die Sparpolitik des Senats hat zu einer Entfachlichung im Amt geführt.

Genau hier komme ich zur Gesamtverantwortung des Senats. Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich den Fall Kevin als Wahlkampfthema für völlig ungeeignet halte. Ich bin aber nicht bereit, auf den Trick hereinzufallen, jede Beschreibung politischer Verantwortung als Wahlkampf bezeichnen zu lassen. Nein, für die unzureichenden Haushaltsmittel ist nun einmal die Regierungskoalition verantwortlich. Wenn Bürgermeister Böhrnsen in der Presse davon spricht, dass die CDU aus dem Sozialhaushalt einen Steinbruch gemacht hat, dann finde ich, dass er durchaus recht hat. Mir drängt sich aber die unmittelbare Frage auf: Warum haben Sie das zugelassen, Herr Bürgermeister?

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Zurufe von der CDU)

Staatsrat Knigge hat als Zeuge im Ausschuss das Aushandeln der Sparvorgaben geschildert, als sei dies auf einem orientalischen Teppichbasar geschehen. 93 Millionen Euro sollten eingespart werden. Dies war der Vorschlag einer Arbeitsgruppe aus der Finanzbehörde und dem Rechnungshof. Staatsrat Knigge glaubte nun, dass 12 Millionen Einsparmasse fachlich möglich seien. Die CDU fand aber, dass es mindestens 40 Millionen sein sollten. Geeinigt hat sich die Koalition dann auf 25 Millionen Einsparvolumen.

Dies zeigt deutlich die politische Fehleinschätzung des Senats. Der Sozialhaushalt war viel zu niedrig angesetzt, und das Sozialressort stand insgesamt unter einem ständigen extremen Spardruck. Im Jugendamt wurden Stellen schlicht nicht besetzt. Es fehlten allein im Casemanagement für den Fachdienst „Junge Menschen“ laut einer wissenschaftlichen Studie 16 Stellen. Auf Erziehungsberatungstermine mussten Eltern oft monatelang warten. Die Amtsvormundschaft war mit nur 2,75 Stellen bei über 640 Mündeln hoffnungslos unterbesetzt, die Notaufnahme des Mädchenhauses wurde geschlossen, die „Aufsuchende Familienberatung“ wurde aufgelöst, nur um ein paar Beispiele zu benennen.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fühlten sich nicht nur überlastet, sie waren es. Auf die vielzähligen Überlastanzeigen reagierte die Amtsleitung überhaupt nicht. Stattdessen wurde in den Controllinggesprächen extremer Druck auf die Mitarbeiter ausgeübt. Zielzahlen sollten auch auf Kosten der fachlichen Entscheidung eingehalten werden. Billigere Maßnahmen hatten Vorrang. Es war nicht nur die Schere im Kopf der Sozialarbeiter, wie Hermann Kleen es formuliert hat, das auch, es gab aber auch Beispiele, in denen aus Kostengründen von der Leitungsebene direkt Einfluss auf fachliche Entscheidungen ausgeübt wurde. Ob der für Kevin zuständige Casemanager nicht doch aus Kostengründen eine Heimunterbringung noch nicht einmal angedacht hatte, war abschließend nicht wirklich herauszubekommen. Der Casemanager hat vor dem Untersuchungsausschuss krankheitsbedingt nicht ausgesagt.