Protokoll der Sitzung vom 01.10.2009

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD – Abg. S t r o h m a n n [CDU]: Nur weil Sie sich nicht durchsetzen konn- ten! Sie sind umgefallen!)

Sie haben mit dieser Sache ein Spiel getrieben! Was haben wir denn erreicht? Schauen Sie sich die Verbesserungen doch an! Mit Ihrem Nein haben Sie das aufs Spiel gesetzt, Gott sei Dank ohne Erfolg! Wir haben ein gutes Ergebnis.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Der Kommentar im „Weser-Kurier“ am Tag darauf sprach von Machtpolitik der CDU und resümiert, ich darf zitieren mit Genehmigung des Präsidenten: „Überzeugend war das nicht, dafür sind die Christdemokraten bislang einfach zu selten als aufrechter Verfechter von direkter Demokratie aufgefallen.“ Das ist richtig, und von mehr Demokratie, das kündige ich schon einmal an, auch nicht, das werden wir heute ja hören!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Es geht heute um die Weiterentwicklung des Wahlrechts. Wenn das Königsrecht des Parlaments die Aufstellung des Haushalts ist, dann ist das Königsrecht der Bürgerinnen und Bürger das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, auch manchmal nicht gewählt zu werden. Die Entwicklung der Demokratie

war immer auch mit der Weiterentwicklung des Wahlrechts verbunden. In Artikel 75 der Bremischen Landesverfassung heißt es wie entsprechend auch im Grundgesetz, ich denke, das Grundgesetz und unsere Landesverfassung darf ich zitieren: „Die Mitglieder der Bürgerschaft werden in den Wahlbereichen Bremen und Bremerhaven auf vier Jahre in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt.“ Um die zeitgemäße Ausgestaltung dieser Grundprinzipien geht es heute.

Das Erste ist der Gleichheitsgrundsatz. Der Präsident hat uns soeben die Entscheidung des Staatsgerichtshofs vom 14. Mai zur Kenntnis gegeben, dass die Wiedereinführung einer Fünf-Prozent-Hürde in Bremerhaven mit unseren Verfassungsgrundsätzen nicht vereinbar ist, weil sie nämlich eine erhebliche Beschränkung der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit wäre, so das Gericht, denn nicht alle Stimmen haben dann die gleichen Erfolgsaussichten, wirksam zu werden. Solche Einschränkung wäre möglich aus zwingenden Gründen, sie liegt aber bei der Kommunalwahl in Bremerhaven nach Einschätzung des Gerichts nicht vor, weil das Verwaltungsorgane sind, anders als etwa beim Landtag. Weil das Gericht so geurteilt hat, ist der Koalitionsantrag, den wir hier in erster Lesung verabschiedet haben, erledigt. Ich gestehe gern ein, dass wir Grünen das mit einem kleinen Stoßseufzer der Erleichterung wahrgenommen haben.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der LINKEN)

Der Kern unseres heutigen Berichts und Antrages kreist um den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl und das Erfordernis, dass jeder und jede das Recht hat zu wählen und nur sehr gute Gründe wiederum Ausnahmen und Einschränkungen zulassen.

Erstens, die rot-grüne Koalition will, dass Unionsbürgerinnen und -bürger, also Menschen aus anderen EU-Mitgliedstaaten, die hier leben, das Recht bekommen, auch den Landtag mitzuwählen. Heute wählen sie ja nur mit einem Extrawahlzettel die Stadtbürgerschaft, die Beiräte, die kommunalen Körperschaften. Wir sehen dies als kleinen Schritt, aber doch wichtigen Beitrag zur weiteren europäischen Integration, eines Europas auch der Bürgerinnen und Bürger.

Zweitens, die rot-grüne Koalition will, dass auch Menschen aus Nicht-EU-Ländern das kommunale Wahlrecht erhalten, wenn sie längere Zeit, zum Beispiel fünf Jahre, hier gelebt haben. Sie leben ja im Durchschnitt ohnehin sehr viel länger hier. Diese Menschen leben hier, sie arbeiten hier, sie zahlen Steuern, sie zahlen Beiträge, sie bekommen Kinder, und sie werden hier alt. Wir sind der Auffassung, dass sie endlich auch darüber mitreden und entscheiden können müssen, was für Schulen ihre Kinder besuchen, wo Wohnungen gebaut werden, welche Kultur der

Staat fördert und so weiter. Viele unser europäischen Nachbarn machen das, zum Beispiel die Niederlande, und so heftig dort in den letzten Jahren über Integration diskutiert wird: Das kommunale Wahlrecht, das es dort gibt, stellt niemand in Frage, weil es sich sehr bewährt hat.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen, bei der SPD und bei der LINKEN)

Wir wissen sehr wohl, dass beiden Vorhaben gegenwärtig das Grundgesetz, jedenfalls in der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts, entgegensteht und dass wir da ganz dicke Bretter bohren müssen.

(Abg. R o h m e y e r [CDU]: Das gilt ja noch, oder?)

Richtig, aber die Kritik an diesem althergebrachten Verfassungsverständnis wächst ja. So hat Herr Ministerpräsident Rüttgers am 18. September eine bemerkenswerte Rede im Bundesrat gehalten. Ich meine jetzt nicht die Rumänen-Rede, sondern eine Rede im Bundesrat, in der er unter anderem gesagt hat, ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten: „Am Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag stört mich das dahinter stehende Staatsverständnis. Es ist zu traditionell. Die Gleichsetzung von Volk, Nation und Staat beruht auf einem überholtem Denken.“ Ganz genau! So ist es!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. D r. G ü l d n e r [Bündnis 90/Die Grünen]: Der Mann hat lichte Momente!)

Das wird sich mit Sicherheit auch nicht auf Dauer so halten lassen, wenn es, wie wir es hoffen, auch mit europäischer Integration und Integration der Bürger hier weitergeht. Wir werden mit langem Atem weiterarbeiten, weil wir überzeugt sind, dass diese Ausweitung des Wahlrechts von elementarer Bedeutung für eine gelingende Integration hier in unseren beiden Städten sein kann.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Wir sind nicht auf Initiativen im Bund angewiesen, sondern wir können hier in Bremen selbst über die Frage des Wahlalters entscheiden. Auch hier gilt, dass die Grenzziehung begründet werden muss. Ich halte eine Altersgrenze für richtig. Ich halte nichts von beliebigen Spielen, also mit 14 oder 12 Jahren oder sonst etwas. Die Gewährung von Bürgerrechten darf nichts Spielerisches oder Willkürliches haben.

(Abg. S t r o h m a n n [CDU]: Hat es aber!)

Darauf komme ich gleich, warum es das nicht hat, Herr Kollege! Wir wollen das Recht zu wählen auf

16 Jahre vorverlegen, weil wir der Überzeugung sind, dass sich in den letzten 20 Jahren der Zeitpunkt verschoben hat, und zwar nach vorn im Lebensalter, an dem die jungen Menschen in der Regel die Eigenständigkeit und Selbstständigkeit erworben haben, die Grundlage für politisches Urteilen und verantwortliche Entscheidungen sind.

Die Gründe dafür liegen in der Veränderung der Gesellschaft und damit auch in den Entwicklungsbedingungen eines jungen Menschen. Herr Prof. Palentien, den wir im Ausschuss gehört haben, hat das so geschildert: Die Zunahme schulischer Bildung, bei der in der Regel die Eltern meist immer weniger ihren Kindern helfen können, verändertes und schon in der Regel ganz selbstständiges Medien- und Freizeitverhalten, vielfältige, offene Familienformen, all diese Veränderungen haben dazu geführt, dass die jungen Menschen früher Erfahrungen mit öffentlichen Tugenden machen und dass sie aus ihrem Alltagsleben die Bedeutung von Interessenkonflikten, von Regeln und den Voraussetzungen des Zusammenlebens einfach kennen. Die Schlussfolgerung von Prof. Palentien war im Ausschuss, ich darf zitieren: „Jugendliche sind heute mit 16 so reif, dass sie von ihrem Wahlrecht bewusst Gebrauch machen würden.“

Man kann darauf natürlich, und ich höre es schon, mit skeptischem Hinweis auf real existierende Jugendliche kontern, aber solche scheinbar erfahrungsgesättigte Skepsis haben die Konservativen schon immer vorgebracht!

(Abg. Frau W i n t h e r [CDU]: Dann müs- sen Sie es aber auch flächendeckend ma- chen!)

Denken Sie einmal an die Geschichte des Frauenwahlrechts! Da wurde auch mit Hinweis auf die real existierenden Frauen gesagt: Und denen wollt ihr das Wahlrecht geben?

(Abg. R o h m e y e r [CDU]: Von wem?)

Das waren immer die Argumente der konservativen Seite, immer!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen, bei der SPD und bei der LINKEN)

Andererseits sage ich, mir fallen viele 20-, 40- oder auch 70-Jährige ein, an deren Wahlrecht ich trotzdem keinerlei Zweifel hege.

Ich freue mich sehr, dass wir heute das beschließen werden, was wir Grüne schon im Jahre 2000 beantragt haben, was die CDU aber damals in der Großen Koalition verhindert hat. Die jungen Menschen müssen am längsten mit den Wirkungen der Entscheidungen von heute leben. Sie müssen sie abarbeiten. Es ist richtig, dass sie so früh wie möglich

und sinnvoll über die Gestaltung ihrer Zukunft mitentscheiden, und was in vielen Bundesländern, Flächenländern ja auf kommunaler Ebene und damit auch in Großstädten schon selbstverständlich ist, wird auch in den überschaubaren Verhältnissen des Landes Bremen richtig sein, das ist unsere Überzeugung.

(Abg. S t r o h m a n n [CDU]: Haben wir ja schon! Beirat!)

Zuletzt der strittige Punkt, zu dem wir den Staatsgerichtshof um sein Urteil bitten wollen! Es geht da um Untiefen, die sich aus der Kombination von Wahlsystemen ergeben. Bei der Kreuzung von Mehrheitsund Verhältniswahlrecht im Bund kommt es ja zu solchen mysteriösen Erscheinungen wie Überhangmandaten und negativen Stimmen. Das ist so etwas Ähnliches wie schwarze Löcher, der Wähler erreicht genau das Gegenteil von dem, was er eigentlich wollte.

Bei uns ist es so, dass die Einfügung von Elementen der Personenwahl in das ursprünglich reine Listenwahlrecht zu der Frage führt, welche Reihenfolge in der Zuordnung der Mandate am ehesten dazu führt, dass die Hervorhebung von einzelnen Kandidaten durch die Wähler und Wählerinnen – das wollen wir ja, das bieten wir an – dann auch klar und deutlich in der Mandatsverteilung ihren Niederschlag findet. Wir haben uns darüber im Ausschuss nicht einigen können. Der Kollege Tschöpe hat dargestellt, dass sich selbst die Sachverständigen nicht einigen konnten. Ich glaube, die Mehrheit im Ausschuss, auch wir sind der Auffassung, dass das geltende Wahlrecht in Ordnung ist.

(Abg. S t r o h m a n n [CDU]: Ja!)

Die SPD ist da anderer Meinung. Der Staatsgerichtshof wird das beurteilen. Ich persönlich bin sicher, dass wir im Mai 2011 auf der Basis des im Jahr 2006 von „Mehr Demokratie“ erkämpften und mit den heutigen Beschlüssen verbesserten Wahlrechts wählen werden können. Das wird ein großer Fortschritt sein. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen, bei der SPD und bei der LINKEN)

Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, darf ich auf der Besuchertribüne Herrn Tim Weber von „Mehr Demokratie“ e. V. herzlich begrüßen. Seien Sie herzlich willkommen!

(Beifall)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Winther.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Dr. Kuhn, wir debattieren heute das Wahlrecht und nicht die Volksgesetzgebung, und Ihre Rede hat mich eben gerade schon sehr erstaunt. Wer wollte denn die Herabsetzung der Hürden für die Verfassungsänderungen? Sie sind es gewesen! Sie haben sich nicht durchsetzen können und schieben uns nun dieses Problem in die Schuhe. Das ist nicht reell, das können Sie so nicht machen!

(Beifall bei der CDU – Abg. S t r o h m a n n [CDU]: Genau!)

Zurück zum heutigen Thema: Ich schließe mich insoweit meinen Vorrednern an, als ich die Arbeit im Ausschuss hochspannend und interessant fand. Wir haben uns mit großem Engagement grundsätzlichen verfassungsrechtlichen wie auch sehr praktischen Fragen gestellt. Wir hatten eine große Unterstützung durch die Ausschussassistenz und auch durch die Verwaltung, und deswegen möchte ich mich ganz besonders bei beiden bedanken. Sehr geehrter Herr Dr. Kuhn, Sie haben in der Einführungsdebatte 2007 und ja auch im Ausschuss eine lebendige Demokratie gefordert. Das ist in Ordnung, auch im Wahlrecht ist sie erstrebenswert, aber sie muss eben in unsere Verfassung passen, und was das Wahlalter angeht, muss sie auch mit anderen Rechtsgebieten schlüssig, so zum Beispiel mit dem Jugendstrafrecht, sein. Das sind die beide großen Punkte, die Sie hier eben gerade angesprochen haben, für uns nicht. Wir haben erhebliche verfassungspolitische wie auch rechtspolitische Bedenken bei der Ausweitung der Wahlmöglichkeiten für Ausländer und auch beim Wahlalter. Ich fange einmal an mit dem Wahlrecht für EUBürger. Sie wissen, um diesem Personenkreis ein Wahlrecht zum Landtag einräumen zu können, müssen wir das Grundgesetz ändern. Das heißt, wir müssen noch einmal abweichen von einer Ausnahme, die zu Recht für Unionsbürger gemacht worden ist. Diese Ausnahme ist gut, aber gegen eine weitere Aufweichung stehen das Bundesverfassungsgericht und auch die Mehrheit von Bundestag und Bundesrat. Sie wissen, das Bundesverfassungsgericht sagt, dass das Wahlrecht deutschen Bürgern zusteht, und es gibt nur eben diese eine Ausnahme, und eine weitere Aufweichung dürfen wir nicht machen.

(Zuruf der Abgeordneten Frau D r. M o - h a m m a d z a d e h [Bündnis 90/Die Grü- nen])

Daran ändern auch die bremischen Gegebenheiten, also das Zusammenfallen von Landtags- und Kommunalwahlen, nichts. Wenn Sie hier eine Bremer Klausel anstreben, wie Sie das gesagt haben, dann stoßen Sie dabei auf dieselben Probleme, als wenn Sie es denn allgemein fordern würden.

Noch eindeutiger ist die Rechtslage für Nicht-EUAusländer bei Kommunalwahlen. Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der bremische Staatsgerichtshof haben anlässlich ähnlicher Bestrebungen bereits in den Neunzigerjahren gesagt, dass es eine Ausweitung nicht geben kann, denn das Volk ist der Träger der Staatsgewalt, und es kann eben nicht beliebig interpretiert werden, wer das Volk ist.

(Beifall bei der CDU)

Das Wahlrecht ist an die Staatsangehörigkeit gekoppelt, und das muss auch so bleiben. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit ist in den vergangenen 20 Jahren stetig erleichtert worden, und das war auch richtig. Aber eine Integration, und das ist ja das, was Sie wollen, erreichen Sie eben über eine gute Bildungspolitik. Das erreichen Sie über eine gute Sozial- und eine gute Wirtschaftspolitik, aber nicht durch Änderungen von Formalien.