Protokoll der Sitzung vom 13.09.2012

Ich eröffne die 26. Sitzung der Bürgerschaft (Landtag).

Ich begrüße die anwesenden Damen und Herren sowie die Zuhörer und die Vertreter der Medien.

Zur Abwicklung der Tagesordnung wurden interfraktionelle Absprachen getroffen, die Sie dem Umdruck der Tagesordnung mit Stand von heute 9.00 Uhr entnehmen können.

Des Weiteren möchte ich Ihnen mitteilen, dass die Fraktion der CDU ihren Antrag unter Tagesordnungspunkt 36, Stadtführer „Barrierefreies Bremen“ aktualisieren und ausweiten, Drucksache 18/504, inzwischen zurückgezogen hat.

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Nachtragshaushalt Bildung jetzt!

Antrag der Fraktion DIE LINKE vom 10. Juli 2012 (Drucksache 18/515)

Wir verbinden hiermit:

Nachtragshaushalt Bildung

Antrag der Fraktion der CDU vom 11. September 2012 (Drucksache 18/565)

Dazu als Vertreterinnen des Senats Frau Senatorin Jürgens-Pieper und Frau Bürgermeisterin Linnert.

Die Beratung ist eröffnet.

Als erste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Vogt.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch zu Beginn dieses Schuljahres standen Bremens Schulleitungen, Lehrerinnen, Lehrer, Schülerinnen, Schüler und Eltern vor der Situation, dass Stellen nicht besetzt waren, dass Referendarinnen und Referendare nicht eingestellt werden konnten und dass es insgesamt keine Planungssicherheit für die Schulen gab.

Diese Situation ist nicht unvermutet vom Himmel gefallen, sie kam mit Ansage. Bereits als im Oktober letzten Jahres die ersten Haushaltseckwerte bekannt waren, war klar, dem Bildungsressort geht es ein weiteres Mal an den Kragen und das, obwohl bereits im letzten Schuljahr Kürzungen an den gymnasialen Oberstufen und an den beruflichen Schulen vorgenommen wurden, um die Inklusion und die Oberschule gegenfinanzieren zu können. Im Dezember letzten Jahres wurde der nachgebesserte Haushaltsentwurf in der Deputation vorgestellt. Auch aus ––––––– *) Von der Rednerin nicht überprüft.

diesem Haushaltsentwurf konnte man herauslesen, die Personalmittel werden nicht einmal annähernd ausreichen, um Inklusion, Ganztagsschulausbau und Oberschule zu finanzieren. Ich muss an dieser Stelle sagen, dass ich der Meinung bin, dass jeder Abgeordnete und jede Abgeordnete einen Haushalt lesen sollte, bevor er verabschiedet wird. Sicherheitshalber haben wir die fehlenden Personalmittel hier am 9. Mai 2012 aber auch noch einmal benannt: allein im Jahr 2012 fünf Millionen Euro weniger als im Vorjahr, inflationsbereinigt wären es sogar 12 bis 14 Millionen Euro weniger. Wie gesagt, nur für das Jahr 2012! Mittlerweile hat Frau Jürgens-Pieper selbst diese Zahlen eingeräumt. Herr Dr. Güldner, Sie haben gestern in der Debatte zu den kommunalen Kliniken gesagt, es mache keinen Sinn, Geld auszuschütten, bevor man das Problem nicht analysiert habe. Ich muss Ihnen sagen, die Probleme im Bildungsbereich sind längst analysiert. Wenn Klassenfrequenzen kleiner werden, dann heißt das, das man mehr Lehrer braucht. Wenn man Inklusion will, dann braucht man mehr Sozialpädagogen und auch mehr Lehrer und Sozialarbeiter. Wenn man Ganztagsschulen ausbauen will, heißt das, man braucht mehr Lehrer. Schulleitungen, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Schülerinnen und Schüler haben ganz genau gewusst, welche Mindestausstattung das Bildungsressort braucht, um den Anforderungen im Bildungsbereich auch nur annähernd gerecht zu werden: Personalmittel für die Einstellung von 300 zusätzlichen Lehrerinnen und Lehrern jeweils in den Jahren 2012 und 2013, Personalmittel für die Einstellung von 100 zusätzlichen Sozialarbeitern für die Inklusion und zusätzliche Lehrund Lernmittel von jeweils fünf Millionen Euro pro Jahr. Wer Inklusion, Oberschule und Ganztagsschule will, muss auch entsprechende Investitionen tätigen in den Ausbau von Mensen, in den Ausbau von Differenzierungsräumen, weil es sonst funktionell nicht klappen wird. Wie meistens reagierten Sie hier im Mai mit zynischen und polemischen Aussagen. Die Senatorin bezeichnete unsere Haushaltsanträge gar als Schaufensteranträge.

(Abg. D r. G ü l d n e r [Bündnis 90/Die Grünen]: Da hat sie wohl recht!)

Wir wissen mittlerweile, die tatsächlichen Bedarfe gehen über unsere Haushaltsanträge hinaus. Glauben Sie bitte nicht, der Rechnungshof könne nicht rechnen! Er beziffert den zusätzlichen Bedarf für die Schulstrukturreform mit jährlichen Mehrkosten von rund 20 Millionen Euro, denn er kommt zu dem Schluss, dass das Bildungsressort die Zahl der benötigten Lehrkräfte zu niedrig angesetzt hat. Das ist für uns nicht neu. Die demografische Rendite haben wir schon immer als Märchen bezeichnet. Nachdem Sie letztes Jahr Ihren Koalitionsentwurf vorgelegt haben, der eine Kürzungsquote von 1,2 Prozent für den Bil

dungsbereich vorsah, und ihn mit der demografischen Rendite begründet haben, haben wir Ihnen nur anhand der tatsächlichen Zahlen der Bevölkerungsentwicklung, die das Statistische Landesamt veröffentlicht, schon nachweisen können, dass der Rückgang der schulpflichtigen Kinder seit dem Jahr 2007 wieder sinkt und die Geburtenzahlen seit dem Jahr 2010 sogar stark steigen. Ironischerweise wurde diese nicht vorhandene demografische Rendite in den vergangenen Jahren mehrfach ausgegeben: für den Schulentwicklungsplan, für die Erhöhung der Schulleiterstunden, die da nie angekommen sind, für die Tarifsteigerungen und, wie gesagt, für die PEP-Quote.

(Abg. D r. G ü l d n e r [Bündnis 90/Die Grünen]: Sie müssen doch auch einmal die Schülerzahlen dazunehmen!)

Ich muss Ihnen sagen, die Haushaltsdebatten waren vom Protokolldienst der Bürgerschaft noch nicht einmal abgeschrieben, da kam es zum erwarteten Knall. Frau Jürgens-Pieper musste bekannt geben, 110 Lehrerstellen können nicht besetzt werden. Sie haben den Koalitionsausschuss einberufen, und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, das, was Sie dort beschlossen haben, ist eine Bankrotterklärung für den Bildungsbereich.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Bildungssenatorin kann die Stellen zwar besetzen, muss aber dafür erneut im eigenen Haushalt kürzen. Die Giftliste, die in der Sondersitzung der Bildungsdeputation im Juli vorgestellt wurde, hat für ziemlich viel Fassungslosigkeit gesorgt. Ich habe noch nie so blasse Gesichter in einer Deputationssitzung gesehen. Die Weiterbildung für die Inklusion wird um ein weiteres Jahr verschoben. Die Erhöhung der erst im Jahr 2010 zur Umsetzung beschlossenen jährlichen 80 zusätzlichen Stellen für Referendarinnen und Referendare in den Vorbereitungsdienst wird zurückgenommen. Es gibt keine zusätzlichen Klassen in der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern, das Verschieben von Einstellungen, keine Neueinrichtung von offenen Ganztagsschulen, keine Verbesserung der Lehrerstundenausstattung an den bestehenden Ganztagsschulen, obwohl einigen Schulen diese Lehrerstundenausstattung schon längst zugesagt war, ich muss Ihnen sagen, bildungspolitisch ist dieser Beschluss eine Katastrophe.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie kürzen nämlich gerade in dem Bereich, den sich diese Koalition in ihrer Koalitionsvereinbarung zum angeblichen bildungspolitischen Schwerpunkt gemacht hat: dem Aufbau des ganztägigen Lernens und dem Ausbau der Inklusion. Dann wird es richtig absurd, wenn ich vor zwei Wochen lesen muss, dass die Fraktion der Grünen in Bremerhaven und in Bremen

beschließt, sie will noch mehr Inklusion, und das, obwohl die bestehenden Beschlüsse noch nicht einmal gegenfinanziert sind. Ich finde das absurd, das muss ich einmal ganz klar sagen.

(Beifall bei der LINKEN und bei der CDU)

In der Sondersitzung der Bildungsdeputation im Juli teilte die Senatorin zudem mit, dass über den Koalitionsbeschluss hinaus zusätzlich weitere 60 Stellen fehlen, um alle Bedarfe zu decken. Weiterhin kündigte die Senatorin an, es müsse eine Richtlinie erstellt werden, in der alle Bedarfe auf den Prüfstand kommen, sie erwähnte auch die der Grundschulen. Mich hat es daher nicht verwundert, dass Frau Jürgens-Pieper in einer Pressekonferenz unlängst offen einräumen musste, beim bundesweiten Schulvergleich der vierten Klassen sei nicht damit zu rechnen, dass man den 16. Platz abgibt.

Meine Damen und Herren und verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, ich frage mich wirklich: Wie wollen Sie das den Eltern, den Schülerinnen und Schülern und den Lehrerinnen und Lehrern erklären? In Bremens Bildungshaushalt wurde in der Vergangenheit mehrfach – ich sage mehrfach – seit dem Jahr 1995 gekürzt. Wir sind immer noch das Bundesland, in dem der schulische Erfolg am meisten vom sozialen und wirtschaftlichen Status des Elternhauses abhängt.

Mein Sohn geht seit zehn Jahren hier zur Schule. Er hat diverse Reformen erlebt. Einige waren bildungspolitisch totaler Unsinn wie die Einführung der Sekundarschule, aber zu allen Beschlüssen wurde uns verkündet: Wir wollen genau diese Tatsache ins Gegenteil verkehren, wir wollen, dass Kinder aus allen Haushalten bessere Bildungserfolge erzielen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich muss Ihnen sagen, bei all diesen Reformen, die mein Sohn erlebt hat, kam immer nur Verschlechterung heraus. Gerade was diesen Aspekt angeht, dass man wirklich Kindern aus allen Haushalten, auch den ökonomisch schwächeren, bessere Bildungschancen zubilligt, das ist nie dabei herausgekommen. Das hat auch einen Grund: Ich muss Ihnen ganz klar sagen, auch wenn wir an dieser Schulreform, die im Jahr 2009 beschlossen worden ist, Schönheitsmängel sehen, ist sie sinnvoll und notwendig. Es wird aber nichts daraus, wenn man sie nicht finanziert.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich finde diese Politik, und dies seit drei Jahren, in höchstem Maße unverantwortlich und unseriös. Es ist ein Potemkinsches Dorf. Sie machen ein neues Schild an eine Schule und vergessen, die Schule ent

sprechend auszustatten. Auch die demonstrierenden Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer haben dies mittlerweile erkannt. Sie sagen auch ganz klar, wenn Sie darauf setzen, weiterhin den Haushalt zu sanieren, indem Sie öffentliche Aufgaben reduzieren und kürzen, dann gefährden Sie nicht nur den Bildungserfolg aller Schülerinnen und Schüler, sondern dann sorgen Sie auch dafür, dass wir hier irgendwann eine Stadt haben, in der niemand mehr so richtig gern leben mag.

Wir begrüßen an dieser Stelle ausdrücklich, dass auch die CDU mittlerweile bekennt, dass das in Bremen niemandem zuzumuten ist. Auch die CDU sagt seit dieser Woche, und das ist neu, für elementare Aufgaben des Landes muss man Geld in die Hand nehmen. Das ist ein Paradigmenwechsel, mit dem ich vor ein paar Tagen noch nicht gerechnet habe, und ich habe große Achtung davor. Wir werden Ihrem Antrag auch zustimmen bis auf den Punkt 6, daher bitte ich um getrennte Abstimmung des Punktes 6.

Ich bitte die Regierungsfraktion wirklich sehr nachdrücklich: Stimmen Sie unserem Antrag zu, und legen Sie für Bildung einen vernünftigen Haushalt vor, der die Bedarfe tatsächlich deckt! – Ich danke Ihnen!

(Beifall bei der LINKEN)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. vom Bruch.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt Debatten, die führt man gern, und es gibt Debatten, die führt man weniger gern. Diese gehört eindeutig zur zweiten Kategorie. Warum?

Vieles kommt einem vor wie ein Déjà-vu. Zum zweiten Mal arbeiten wir bildungspolitische Chaostage auf, die sich mit leicht nuancierten Ursachen, aber dem gleichen Ergebnis kurz vor den Sommerferien erneut abgespielt haben. Wieder haben Lehrerinnen und Lehrer gefehlt, wieder wurden die Beteiligten, die Gremien und die Öffentlichkeit zu spät oder gar nicht informiert. Wieder gab es Unsicherheit, mangelhafte Kommunikation und vor allem eine völlig unzureichende Transparenz und Steuerung der erforderlichen und der vorhandenen Ressourcen. Nachdem wir dies in ähnlicher Form bereits im letzten Jahr erlebt haben, verfestigt sich der Eindruck von Überforderung, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der CDU)

Dabei sind personelle Bedarfe keineswegs wie Naturkatastrophen, die sich unvorhersehbar entweder vor oder nach Wahlen und nach Haushaltsberatungen schicksalhaft ergeben, sondern sie sind abseh––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

bar und berechenbar. Deshalb ist das, worüber wir hier sprechen, nicht bloß eine ärgerliche Alltagspanne, sondern Ihre Leiden sind hausgemacht und wiederholt. Deshalb stellt sich die Frage nach den fachlichen und organisatorischen Konsequenzen, aber auch nach der politischen Verantwortung, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU)

Worin liegen die Ursachen? Der Eindruck liegt nahe, dass bis zu einem gewissen Grad die Übersicht über Soll und Haben verloren gegangen ist, dass bestimmte, insbesondere die die personellen Ressourcen betreffenden, Planungsprozesse nicht frühzeitig genug stattfinden. Viel wichtiger aber ist, Sie haben sich verhoben und verkalkuliert. Reformvorhaben wie zum Beispiel die Inklusion sind nicht ausreichend mit Ressourcen unterlegt. Der Fehler liegt nämlich nicht im Kern. Die Ziele und die Umsetzung der Reformen sind von vornherein mit der Verfügbarkeit von Ressourcen nicht im Einklang geplant. Etwas, was Sie, Frau Senatorin, inzwischen selbst einräumen!

(Beifall bei der CDU)

Die Folge ist ein Wechselbad zwischen entweder politisch motivierter übertriebener Hast oder dem abermaligen Ziehen von Notbremsen infolge von Ressourcenmangel. Den goldenen und richtigen Mittelweg kennen Sie nicht, so haben Sie wertvolles Vertrauen verspielt und sind dabei, die so wichtige Akzeptanz zum Beispiel der Inklusion zu gefährden.

(Beifall bei der CDU und bei der LINKEN)

Im Weiteren wird immer deutlicher, Sie haben es während der Haushaltsberatungen an Klarheit und Wahrheit fehlen lassen. Fast noch schlimmer ist, die hauptsächlich beteiligten Ressorts Bildung und Finanzen sind sich schlicht und ergreifend nicht einig und diskutieren im Hintergrund offenbar schon seit geraumer Zeit. Kein Wort über Defizite oder Risiken davon in den Haushaltsberatungen dieses Parlaments im Mai, weder von der Bildungs- noch von der Finanzsenatorin! Stattdessen politischer Streit. Anfang des Jahres über Betreuung und Ganztagsschulen, dann über 110 oder 150 Lehrerstellen, jetzt über die Inklusion! Sie verunsichern die Beteiligten. Sie verwischen, worauf es in Wahrheit ankommt: entschieden für mehr schulische Qualität und mehr Gerechtigkeit im Bildungssystem einzutreten für die Schülerinnen und Schüler unseres Landes, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der CDU)