Protokoll der Sitzung vom 20.11.2014

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Ryglewski.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. vom Bruch hat schon darauf hingewiesen, was der Anlass für diesen Antrag war. Es waren die Demonstrationen im Sommer gegen die militärischen Einsätze Israels im Gazastreifen, bei denen es zum einen zu Gewalttaten gekommen ist, aber zum anderen auch zu offenen antisemitischen Äußerungen, leider auch in Bremen. Wir waren alle entsetzt darüber, und im Nachgang wurde viel über die Verbreitung von Antisemitismus in Deutschland im Allgemeinen und über die angeblich besondere Betroffenheit der muslimischen Bevölkerungsgruppe im Besonderen gesprochen.

Wir alle waren zu Recht entsetzt, allerdings sollten wir nicht überrascht sein. Antisemitismus ist in Deutschland im Jahr 2014 leider kein neues Problem und mitnichten ein Minderheitenproblem oder eines, das auf eine bestimmte Gruppe beschränkt ist. Antisemitismus ist in Deutschland universell. Es gibt ihn ganz links, es gibt ihn aber vor allem auch ganz rechts. Laut der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung „Die Mitte im Umbruch“ gibt es in Deutschland seit Jahren konstant 15 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die eine latent antisemitische Einstellung haben,

8 bis 10 Prozent von ihnen äußern diese auch öffentlich.

Ich möchte einmal verdeutlichen, was das bedeutet: Antisemitische Einstellung heißt die Zustimmung zu Aussagen wie „noch heute ist der Einfluss von Juden in Europa zu groß“, „noch heute ist der Einfluss von Juden in der Welt zu groß“ oder „Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen“. Noch höhere Zustimmungswerte gibt es allerdings für Aussagen wie „die Juden ziehen immer noch Vorteile aus dem Holocaust“. Die Forschung nennt diese Aussagen sekundären Antisemitismus, ich nenne sie eine Schande! Ich nenne es eine Schande, dass knapp 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fast 40 Prozent der Deutschen meinen, die heute lebenden Juden würden Vorteile aufgrund des Völkermordes an ihren Verwandten haben.

(Beifall)

Antisemitismus äußert sich im Jahr 2014 in Deutschland nicht nur verbal. Allein im zweiten und dritten Quartal dieses Jahres wurden 159 beziehungsweise 302 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund registriert, insgesamt wurden dabei 16 Menschen verletzt, und – um jetzt noch einmal den Hinweis darauf zu geben, dass es eben nicht vor allem muslimische Bevölkerungsteile sind – 90 Prozent dieser Straftaten wurden von Rechtsextremen verübt.

Das Leben der 100 000 Menschen jüdischen Glaubens, die heute in Deutschland leben, ist also von Normalität weit entfernt. Synagogen müssen unter Polizeischutz stehen, Jude ist immer noch ein sehr beliebtes Schimpfwort, und jüdische Männer trauen sich teilweise nicht, mit Kippa auf die Straße zu gehen, weil sie Anfeindungen aufgrund ihres Glaubens ausgesetzt sind. Da verwundert es nicht, dass laut einer Umfrage der EU-Agentur für Grundrechte jeder vierte Bürger jüdischen Glaubens in Deutschland schon einmal über eine Auswanderung nachgedacht hat. Zugegebenermaßen, diese Umfrage war nicht repräsentativ, und in vielen anderen europäischen Ländern ist die Sorge um die Sicherheit viel größer, aber ich sage, jeder Jude, der in Deutschland über die Auswanderung nachdenkt, ist einer zu viel!

(Beifall – Abg. Frau A h r e n s [CDU]: Be- sonders, wenn er aus diesen Gründen darü- ber nachdenken muss!)

Deutschland ist für Juden eben nicht irgendein Land in Europa, sondern Deutschland ist das Land der Täter. Daraus erwächst für uns eine besondere Verantwortung, und Verantwortung darf nicht nur das wichtige Erinnern und das Gedenken an das, was war, sein, sondern Verantwortung heißt auch, dass das Deutschland von heute für Juden eines der sichersten Länder weltweit überhaupt sein muss. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen wie der Redner zur Ge

denkfeier des 9. Novembers, James Schultz, darüber nachdenken, an ihre Wurzeln in Deutschland anzuknüpfen und wieder eine deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen.

Zu unserer historischen Verantwortung gehört auch, dass wir uns differenziert mit dem Nahostkonflikt auseinandersetzen. Deutschland hat den Staat Israel immer unterstützt und das Selbstverteidigungsrecht Israels selbstverständlich niemals infrage gestellt, und wir werden das auch weiterhin nicht tun. Das heißt mitnichten, dass man die israelische Politik nicht kritisieren darf oder jede Kritik an Israel antisemitisch ist. Deutschland hat sich ja auch zu einzelnen Punkten, was Militäreinsätze angeht, durchaus kritisch geäußert, und das müssen wir auch tun, aber man muss schon genau hinsehen. Es muss schon verwundern, wenn die gleichen Menschen, die sich in Deutschland ansonsten auf die Straße stellen und vor der vermeintlichen islamistischen Gefahr in Deutschland warnen, am nächsten Tag ihre Liebe zur Hamas entdecken.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der LINKEN – Abg. D r. K u h n [Bündnis 90/Die Grünen]: So ist es!)

Ich glaube nicht, dass das die Unterstützung ist, die die palästinensische Zivilbevölkerung möchte, und ich glaube auch nicht, dass es die Unterstützung ist, die sie braucht.

Man kommt in diesem Konflikt nicht darum herum, sich zu positionieren, aber ich meine, dass es eben nicht darum geht, einseitig für eine Seite Partei zu ergreifen, sondern unsere Aufgabe und Position muss sein, immer wieder für eine friedliche Lösung zu werben, bei der beide Seiten gewinnen können. Damit tut man der Zivilbevölkerung in Israel und Palästina den größten Gefallen, denn eine Lehre haben wir aus 70 Jahren Nahostkonflikt sicherlich ziehen müssen: Bisher hat es nur Verlierer gegeben! – Vielen Dank!

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der LINKEN)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. Kuhn.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte als Allererstes sagen, wenn wir heute über Antisemitismus reden, über Feindschaft gegenüber Muslimen, aber auch über Antiziganismus und den alltäglichen Rassismus, dann sprechen wir nicht über die anderen, sondern wir sprechen auch über uns, über unsere Verantwortung

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen, bei der SPD und bei der LINKEN)

und auch über die Folgen für uns, denn diese Erscheinungen berühren und gefährden die Grundlagen unserer gemeinsamen Idee, wie wir miteinander leben wollen.

Wir haben vor zehn Tagen unter dem Beifall fast der ganzen Welt den Fall der Mauer am 9. November 1989 gefeiert. Dieser Tag war in der Tat ein Glückstag in der deutschen Geschichte. Darüber ist der andere deutsche 9. November, nämlich der des Jahres 1938, in diesem Jahr ein wenig in den Hintergrund getreten. Wir haben seiner würdevoll – vielen Dank auch an die Fraktion der LINKEN – gemeinsam gedacht am Mahnmal für die Opfer der Reichspogromnacht in Bremen. Diese Gedenkstunde hat uns erneut vor Augen geführt, dass diese Vergangenheit immer noch nicht vergangen ist und sehr lange nicht vergangen sein wird.

Der Anlass für die heutige Entschließung, die wir auf Initiative der CDU gemeinsam tragen, war der offene Judenhass, der sich im Sommer während des Gazakonflikts auf deutschen, auf Bremer Straßen gezeigt hat und sich vielfach zu tätlicher Gewalt steigerte. Das hat uns tief erschreckt, aber die jüdischen Gemeinden hat das bis ins Innerste erschüttert. Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, dass sich ein Jude in Deutschland heute wieder nicht traut, mit der Kippa auf die Straße zu gehen? Das ist einfach eine Schande für unser Land!

(Beifall)

Dann weigern sich Staatsanwaltschaften in Deutschland, öffentliche Rufe auf Demonstrationen wie „Hamas, Hamas – Juden ins Gas!“ strafrechtlich zu verfolgen mit der Begründung, das richte sich ja nicht gegen die Juden allgemein, sondern gegen Israel. Auch das finde ich unerträglich!

(Beifall)

Anlass war aber auch die große Unruhe in der islamisch geprägten Welt des Mittleren Ostens, wo Terrorgruppen wie die Muslimbrüder, wie die Hamas und jetzt der Islamische Staat den Namen, die Traditionen einer großen Religion missbrauchen, um ihre Herrschaft einzurichten und zu sichern. Dieser Missbrauch der Religion dient wiederum Menschen hier bei uns als Vorwand, alle Gläubigen und Anhänger des Islam unter generellen Verdacht zu stellen und sie als Muslime für demokratieuntauglich zu erklären, wobei diesen Menschen am wenigsten irgendetwas an der Demokratie liegt.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen, bei der SPD und bei der LINKEN)

Ihre Behauptung ist gefährlicher Unsinn, Millionen Muslime, die hier mit uns leben, widerlegen sie tagtäglich, aber die muslimischen Gemeinschaften sind

darüber beunruhigt, zumal sie bereits schlechte Erfahrungen gemacht haben mit Hassparolen gegen Moscheebauten und anderen Erscheinungen. Wir verstehen diese Sorge, und deswegen sprechen wir in der Entschließung nicht nur über den Antisemitismus, den wir schon so lange und so schrecklich kennen, sondern auch über die Muslimfeindschaft, die wir gar nicht erst entstehen und wachsen lassen wollen, denn eine solche Feindschaft wäre ebenso ein gefährliches Gift für unser Zusammenleben.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Es wird gerade unter den Muslimen darüber gesprochen, dass eine offene Debatte innerhalb ihrer Gemeinschaften notwendig sei, auch über die missbräuchliche Berufung auf den Islam. Ja, eine solche Debatte ist notwendig, aber diese Auseinandersetzung kann ja nur die Sache der Muslime selbst sein, wir können sie nur dabei unterstützen. Meine Auffassung ist, dass unser Beitrag, unsere Unterstützung, unsere Aufgabe dabei ist, grundsätzlich und immer wieder zu sagen und auch danach zu handeln, dass es in unserer Gesellschaft keine Hierarchien von Religionen, Weltanschauungen und Lebensstilen gibt,

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

dass wir gegenseitig allen mit dem gleichen Respekt begegnen wollen und nicht nur mit Duldung. Unsere heutige Lebenswirklichkeit ist sicher mit vielen Traditionen gesättigt – natürlich, das ist klar –, aber sie ist heute vor allem durch Vielfalt geprägt.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Die Freiheit zur Vielfalt ist zentral. Die Freiheit zur Vielfalt zu fördern und zu schützen, ist unsere Aufgabe. Das ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass wir auch in der Lage sind, Antisemitismus und anderen Vorbehalten mit guten Argumenten entgegenzutreten. Darum sollte es uns ja gehen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Ich möchte im zweiten Teil meines Beitrags auf den Antisemitismus, vor allen Dingen auf die aktuellen Formen, eingehen. Es muss darum gehen, uns dagegen zu wappnen. Ich will auf die 2 000-jährige Geschichte des Judenhasses zurückgreifen. Er hat ja viele Formen durchlaufen. Verstehen Sie alles das, was ich jetzt sage, als Zitat. Ich muss aber sagen, was da war.

Das waren die Juden als verstockte Mörder Christus. So begann es. Da wurde leider Martin Luther der Klassiker und Hauptzeuge. Die Juden waren dann

die Wucherer und die Händler, die man dafür ausrauben und erschlagen durfte. Die Juden wurden dann die Treiber und Nutznießer der Moderne. Das waren die Erfinder des Kapitalismus, die Erfinder des Kommunismus, die Erfinder der Demokratie, die Erfinder der Kaufhäuser und der Homosexualität. Alles, was die Moderne ausmacht, waren sie. Schließlich kam die furchtbare deutsche Zuspitzung, die Juden als minderwertige und schädliche Rasse, die auszumerzen sei.

Gemeinsam – das ist auch für heute das Wesentliche – ist all diesen Formen die Vorstellung und die Aufforderung zu Gewalt. Ich darf zitieren: Die Juden sind unser Unglück. Die fixe Idee, dass es doch jemanden geben müsse, der verantwortlich ist für die Katastrophen und für das Unglück, auch für die eigenen Probleme, also eben der Sündenbock! Genau diese Rolle als Sündenbock, als Schuldige für alle inneren Probleme spielt heute leider in der arabischen Welt das Judentum und konkret der Staat Israel – nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch im Iran und leider zunehmend auch in der Türkei, weil sich die gegenwärtige Führung gern als Führer der islamischen Welt beweisen will und leider auch zunehmend so auftritt.

In keinem arabischen Staat – das muss man sich vorstellen – darf ein Jude überhaupt leben. Die absurden „Protokolle der Weisen von Zion“ sind dort millionenfach verbreitet. Von Juden wird vor Kindern in den Schulen oft nur von Schweinen und Affen geredet. Es gibt in diesen Ländern keine einzige Karte, die den Staat Israel überhaupt nur zeigt, zeigt, dass er existent ist. Es ist doch klar, meine Damen und Herren, dass die massive Verbreitung dieses Judenhasses heutzutage über das Fernsehen auch uns erreicht. Das ist heute eine neue Quelle von Judenhass, der sich hier mit den anderen alten, trüben Quellen des Antisemitismus verbindet.

Das ist genau der Punkt, an dem die kontroverse Debatte beginnen muss. Ich sage vorweg: Ich gehe nicht davon aus, dass Sie, wenn die Kontroverse beginnt, meine Haltung in jedem Punkt teilen werden. Ich bitte Sie aber im Interesse der gemeinsamen Anstrengung, wirklich etwas gegen den aktuellen Antisemitismus zu tun, das Problem wahrzunehmen.

Natürlich gehen die Meinungen über die israelische Politik und die Politik der arabischen Nachbarländer weit auseinander. Das ist völlig klar. Das tut sie auch in der äußerst lebendigen Demokratie Israels. Das ist jetzt nicht der Punkt. Ich glaube, dies ist auch nicht der Anlass, im Einzelnen darüber zu debattieren. Im Ziel, dass zwei Völker in Frieden nebeneinander, miteinander in ihrem jeweils eigenen Staat leben müssen, sind wir uns vollkommen einig.

Wir müssen aber auch erkennen, dass in mancher Kritik an der konkreten Politik auch der schlechte alte Judenhass, jetzt nur in neuem Gewand, steckt – und dann immer mit der Unschuldsgeste: Man wird doch

wohl noch einmal sagen dürfen – –. Das ist ganz beliebt.

Ich will nicht urteilen, wer Antisemit ist. Darum geht es überhaupt nicht. Es gibt sowieso in Deutschland ganz viele Antisemiten. Aber es gibt heute keinen einzigen mehr, der sich dazu bekennt. Das ist auch eigenartig. Jede antisemitische Äußerung beginnt damit, dass gesagt wird, dass man kein Antisemit sei.

Es gibt aber Maßstäbe, um Argumente, unterschiedliche Auffassungen von Vorurteilen und Hassvorurteilen zu unterscheiden. Man hat den sogenannten Drei-D-Maßstab eingeführt: Delegitimierung, Dämonisierung und doppelter Standard. Für alle drei möchte ich Ihnen ein Beispiel liefern.

Delegitimierung ist die Leugnung des Rechtes Israels, überhaupt zu existieren und auch für seine Existenz einzutreten. Ich habe vor zwei Jahren an einer Bremer Oberschule erlebt, dass ungefähr 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler fanden, die Juden hätten grundsätzlich kein Recht auf staatliche Existenz im Nahen Osten. Den Lehrer hat es gar nicht beunruhigt, dass das so war. Ich – muss ich Ihnen sagen – halte eine solche Haltung für antisemitisch, weil allein den Juden das Recht auf staatliche Existenz aberkannt wird.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Dämonisierung sind die Verschwörungstheorien von der jüdischen Herrschaft über die deutsche Presse über die Zerstörung des World Trade Centers durch den Mossad, die jüdische Lenkung der US-Politik bis zu der jüngsten Geschichte, der Islamische Staat sei eigentlich ein Geschöpf der Juden, um den Islam in Misskredit zu bringen. Glauben Sie mir: Solche Sachen werden geglaubt. Das sind keine Hirngespinste. Sie haben Wirkung. Das ist katastrophal.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)