Protokoll der Sitzung vom 22.04.2015

vor eine weitere große Probe gestellt; denn bei dieser Thematik kann man nur gemeinschaftlich handeln. Man darf mit dem Schicksal von Menschen nicht fahrlässig umgehen. Vor allem gilt es, Schlepper banden, die aus der Not dieser Menschen Kapital schlagen, einen Riegel vorzuschieben.

Mittlerweile haben nahezu alle Fraktionen sowohl

auf nationaler als auch auf europäischer Ebene er kannt, dass es das Ziel sein muss, die Bedingungen

für die Flüchtlinge in den Herkunftsländern zu ver bessern und den Schlepperbanden das Handwerk zu legen. Bei den Überlegungen, wie das gehen soll, ist man, wie wir merken, allerdings noch am Anfang. Die europäischen Staaten sind hier kurzfristig gefordert zu zeigen, dass sie gemeinschaftlich handlungsfähig sind und wofür sie in Form der Europäischen Union 2012 den Friedensnobelpreis erhalten hat. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Als nächste Rednerin hat das

Wort die Abgeordnete Frau Vogt.

Herr Präsident,

liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor drei Tagen sind fast 1 000 Menschen auf dem Weg von Libyen nach Italien ertrunken. Das ist das größte bekannte Schiffsunglück von Flüchtlingen, die nach Europa wollten. Ich glaube, niemand von uns kann sich das Leid und das Ausmaß des Leides überhaupt vorstellen.

Wenn ich mir die vielen Hundert toten Frauen,

Männer, Kinder und Jugendlichen vorstelle, wenn ich mir das vor das innere Auge rufe, wenn man die Berichte von Seeleuten liest, die im Mittelmeer un terwegs sind und von toten Jugendlichen berichten, die im Meer schwammen, die Gesichter in Öllachen, dann erfüllt mich das mit Fassungslosigkeit.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Es erfüllt mich umso mehr mit Fassungslosigkeit, als wir uns vergegenwärtigen müssen, dass dieses Unglück eines von sehr, sehr vielen ist und kein Alleinstellungsmerkmal hat.

Was vor den Grenzen der EU passiert, ist erschüt

ternd, und es ist keine Tragödie, sondern es ist eine Folge der Abschottungspolitik, die Europa im Mittel meer und in den Mittelmeeranrainerstaaten betreibt. Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden. Es gibt Schätzungen, nach denen in den letzten 14 Jahren mehr als 23 000 Menschen ertrunken sind oder an den anderen Außengrenzen, zum Beispiel an den Landesgrenzen zur Türkei, gestorben sind. Sie werden auch von der EU wie Kriminelle behandelt. Das „Verbrechen“, das sie sich haben zuschulden kommen lassen, ist schlicht und ergreifend nur, dass sie geflohen sind. Fliehen ist illegal, auch in Deutsch land ist die unerlaubte Einreise ein Straftatbestand.

In meinen Augen ist dieser Umgang der Euro

päischen Union mit Flüchtlingen unerträglich. Die Grenzabschottung wird ständig perfektioniert, und gleichzeitig steigen logischerweise die Opferzahlen.

Frau Dr. Mohammadzadeh hat eben daran erin

nert: Nach der Schiffskatastrophe vor Lampedusa im Oktober 2013 mit 366 Toten vergossen viele Politiker und Politikerinnen quer durch die Europäische Union in meinen Augen Krokodilstränen. Sie brachten die Opfer mit einem Staatsbegräbnis unter die Erde und

versprachen eine Wende in der Flüchtlingspolitik. Passiert ist seitdem aber nicht viel! In Italien sind die Überlebenden mit Strafverfahren überzogen worden.

Zwar führte die italienische Marine ein Jahr lang

die Seenotrettungsmission Mare Nostrum durch, und es wurden 160 000 Menschen gerettet, trotz dem wollte die EU diesen Einsatz nicht fortsetzen oder vielleicht – so muss man sich fragen – gerade deswegen, weil die Operation so erfolgreich war. Wurden mit dieser Rettungsmission vielleicht zu viele Menschen gerettet? Mit anderen Worten, wollte man auf das weiterhin massenweise Sterben setzen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt EU-Dokumente, die das nahelegen. Es gibt ein Dokument des Rates der Europäischen Union, in dem die Minister der Mitgliedsländer – also auch Deutschlands – sitzen, aus dem sehr deutlich wird, dass die Minister die Steigerung der Seenotrettung als kontraproduktiven Anziehungsfaktor sehen, wie sie es bezeichnen. Das passt, ehrlich gesagt, ganz gut zu dem, was Herr de Maizière noch vor Kurzem vertreten hat. Er sagte nämlich, dass die Seenotrettung Beihilfe zum Schlepperwesen ist. Diese Argumentation, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist an Zynismus kaum mehr zu toppen.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Ehrlich gesagt, die größte Beihilfe für Schlepper ist

eigentlich die Abschottungspolitik der Europäischen Union, denn nur dadurch haben Schlepper das Mo nopol, die Flucht auszunutzen und damit ihr Geld zu verdienen. Das ist natürlich organisierte Kriminalität, Ausbeutung und Menschenhandel, die dadurch ausgebreitet werden. Dies ist durch eine solche Art der Politik vorprogrammiert. Es gibt Schleuser, die Verbrecher und Mörder sind, aber es gibt auch eine Verantwortung der europäischen Minister, die für diese Politik in Europa verantwortlich sind.

Die Küstenwachen sind nicht zimperlich im Um

gang mit Flüchtlingen. Vor Kurzem hat eine Genossin von uns, die beim Alarmphon Watch the Med enga giert ist, live miterleben müssen, wie eine illegale Zurückschiebung zwischen Griechenland und der Türkei vorgenommen wurde ist. Wie gesagt, eine illegale Zurückschiebung! Das hat sie sehr erschüttert. Die spanische Küstenwache – auch das wissen wir – hat schon auf Flüchtlinge geschossen und einige dabei getötet. Diese Menschenrechtsverletzungen werden geduldet und nicht bekämpft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit einer solchen

Art von Politik wird die Europäische Union dem Friedensnobelpreis nicht gerecht. Ich glaube, wir brauchen eine Wende in der Grenzpolitik der EU.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Sie ist dringend nötig, um das Sterben zu stoppen.

Ich finde es auch dramatisch, dass immer erst ganz, ganz große Katastrophen passieren müssen, bevor etwas geschieht und bevor sich die Mitgliedsländer der Europäischen Union und die politisch Verant wortlichen überlegen, was sie eigentlich tun müssen.

Nach Beendigung der italienischen Mare-Nostrum

Mission im Oktober 2014 wurde sie durch die FrontexMission Triton ersetzt. Wie eben schon gesagt wurde, hat Triton ein sehr stark verkleinertes Einsatzgebiet, nämlich 30 Meilen um Italien herum. Ferner ist der Einsatz nicht auf die Seenotrettung ausgerichtet, sondern auf den Grenzschutz beziehungsweise eben auf die Abwehr der Flüchtlinge. Die Kapazitäten von Triton sollen jetzt verdoppelt werden, außerdem ist die militärische Zerstörung von Flüchtlingsbooten an der Küste Nordafrikas geplant.

Ich bin sehr skeptisch, liebe Kolleginnen und Kol

legen, und glaube nicht, dass das die Wende ist, die wir tatsächlich brauchen. Nötig wären – auch das ist von den Vorrednerinnen von Grünen und SPD gesagt worden – stattdessen legale Fluchtwege.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Die Schweiz hat bis 2012 mit ihrem Botschafts

asyl praktiziert, wie es geht, und dadurch konnten Flüchtlinge in schweizerischen Auslandsvertretungen Asyl beantragen und legal in die Schweiz einreisen. Durch Fluchtwege wird den Schleppern das Monopol entrissen und werden Menschenleben gar nicht erst gefährdet, denn Flüchtlinge, die vor Krieg, vor Hun ger und vor den Folgen des Klimawandels fliehen, haben gar keine andere Wahl, als einen sicheren Ort zum Leben zu suchen.

Am Montag wurde auch in Bremen ein starkes

Signal für die Öffnung der Grenzen für legale Ein wanderung und für Menschen in Not gesetzt. Über 1 000 Teilnehmende an der Kundgebung forderten „Fähren statt Frontex!“.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Ich möchte mich an dieser Stelle für dieses starke Signal bedanken, und ich schließe mich dem unein geschränkt an.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur, weil

es wieder Hunderte von Toten gegeben hat, bin ich froh, dass wir heute über dieses Thema sprechen. Wir sind uns über die Rolle der EU-Grenzpolitik und von Frontex in diesem Hause ja weitestgehend einig. Wir sind uns auch weitestgehend darin einig, dass das Mittelmeer kein Massengrab bleiben darf.

Es reicht aber nicht, nur mit dem Finger nach

Brüssel oder Warschau zu zeigen. Nicht die Kom mission oder Frontex allein sind verantwortlich,

sondern vor allen Dingen der Ministerrat, den ich eben schon zitiert habe. Darin sitzen die Minister der Mitgliedsländer, also zum Beispiel auch der deutsche Innenminister de Maizière. Deutschland tritt bei migrationspolitischen Themen leider auf die Bremse. Das war der Fall in Bezug auf die DublinVerordnung, die innerhalb von Europa für eine sehr ungleichgewichtige Aufnahme von Flüchtlingen sorgt und Länder wie Italien und Griechenland vor unmögliche Situationen stellt. Das war leider auch der Fall, als die Verlängerung des Seenotrettungs programmes Mare Nostrum diskutiert wurde.

Bremens Innensenator Mäurer sagte, das Wichtigste

für die Bekämpfung der Fluchtursachen wären im Moment eine maritime Rettungsgruppe sowie legale Möglichkeiten zur Einwanderung. Liebe Kollegin nen und Kollegen, das unterschreibe ich sofort! Ich erwarte auch, dass die A-Länder eine neue Initiative jenseits der Zehn-Punkte-Maßnahmen starten, die morgen ergriffen werden sollen.

Demnach sind die Ausweitung der bestehenden,

aber gescheiterten Triton-Mission und sogar die militärische Zerstörung von Flüchtlingsbooten vor gesehen. Die Schaffung von legalen Einreisewegen ist immer noch nicht dabei, dennoch wäre das jedoch eine echte Wende in der Flüchtlingspolitik. So sehr ich auch die Pressemitteilung, die Herr Senator Mäu rer vorgestern veröffentlicht hat, inhaltlich teile, so hoffe ich doch auch, dass sich Herr Senator Mäurer gemeinsam mit seinen Kollegen aus den anderen SPD-geführten Ländern, sprich aus den A-Ländern, auch dafür einsetzt, dass die Bundesregierung hier ihren Kurs ändert.