Mit jeder Tatsache tauchen neue Fragen auf. Ich bin etwas überrascht, dass der Stadtrat in Bremerhaven jetzt sagt, dass er erste Hinweise zwar schon im Mai
2015 gehabt habe, diese aber unsubstantiiert waren. Mir liegt – wie Ihnen wahrscheinlich auch – E-MailVerkehr aus der Gesundheitsbehörde in Bremerhaven vor. Ich würde sagen, das war ein Hilferuf. Wie kam der eigentlich zustande? Zustande kam er, weil in Bremerhaven aus guten Gründen eine Humanitäre Sprechstunde angeboten wird. Die Mitarbeiterinnen dieser Humanitären Sprechstunde – wahrscheinlich sind es überwiegend Frauen – haben in ihrer Beratungspraxis ganz viele, vornehmlich Frauen vor sich sitzen gehabt, die ihnen diese Arbeitsverträge gezeigt und gefragt haben: Ist das eigentlich so in Ordnung?
Was haben die Mitarbeiter gemacht? Sie haben diese Arbeitsverträge kopiert und gesagt: Wir können das nicht beurteilen, aber es spricht vieles dafür, dass es sich um fingierte Arbeitsverträge handelt. Sie haben gewusst, dass unter Vorlage dieser Arbeitsverträge Leistungen beim Jobcenter beantragt worden sind. Wie es sich gehört, haben sie selbstverständlich ihre Behördenleitung und ihre Amtsleitung über diese Vorgänge informiert.
Aus dem Sommer letzten Jahres gibt es im Zusammenhang mit diesen Vorwürfen einen Brief an die damalige Gesundheitsdezernentin Brigitte Lückert, in dem es heißt – ich zitiere: „Im Rahmen der Humanitären Sprechstunde stellten die Mitarbeiterinnen fest, dass in den letzten Monaten zunehmend insbesondere bulgarische Zuwanderinnen mit Arbeitsverträgen über Minijobs in die Beratung kamen, die mit der Gesellschaft für Familie und Gender Mainstreaming e. V., Hafenstraße …, vertreten durch Herrn“ – den Namen kennen wir – „geschlossen wurden. Es handelte sich laut Arbeitsvertrag ausschließlich um Hauswirtschafter- und Hausmeistertätigkeiten, siehe Anlage.“
„Häufig waren die Klientinnen schon im Jobcenter, um aufstockende Leistungen zu beantragen oder erhielten sie bereits. In vielen Fällen wussten die Klientinnen nicht, was genau sie unterschrieben haben. Die Ausübung einer Arbeit wurde verneint, und vor allem von den Frauen, die in der Mehrzahl schwanger waren, rundweg abgelehnt. Sie konnten keine Angaben zu Arbeitszeit, Ort oder Umfang machen. Die Gespräche wurden immer mit Dolmetscherinnen geführt. Aufgrund der Schweigepflicht verbietet sich die Weitergabe persönlicher Daten. Da wir, die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle, nicht beurteilen können, ob dies von strafrechtlicher Relevanz ist bzw. es sich um Sozialbetrug handelt, wenden wir uns heute an Sie, um entsprechende Schritte einleiten zu können.“
Deutlicher kann man den Sachverhalt als Mitarbeiter seiner Behördenleitung gegenüber nicht offenbaren, und es drängt sich doch die Frage auf: Warum ist auf dieser Grundlage seitens der Politik in Bremerhaven nicht viel früher auf diese Vorwürfe reagiert worden?
Warum musste die Mitarbeiterin, die das gemeldet hat, noch zweimal daran erinnern, eine Antwort zu bekommen, und warum hat sie sie bis zum Schluss nicht erhalten? So geht man weder verantwortungsvoll mit solchen Vorwürfen noch mit seinen Mitarbeiterinnen um. Das ist einfach, ehrlicherweise, ein politischer Skandal!
Vor diesem Hintergrund habe ich übrigens auch kein Verständnis dafür, dass der Stadtrat sagt, die Hinweise seien nicht konkret genug. Was soll eine Mitarbeiterin noch konkreter machen, als das der Behördenleitung zu melden? Schon allein deswegen hätte sofort Strafanzeige gestellt werden müssen, und es hätten sofort strafprozessuale Maßnahmen ergriffen werden müssen. Für Verzögerungen gibt es ehrlicherweise keinen einzigen Grund.
Es stellt sich aber auch die Frage: Was ist mit anderen staatlichen Behörden? Wann hatten sie Kenntnis davon? Diese Menschen, 1 500 Leistungsantragsteller, haben teilweise Angehörige. Wahrscheinlich waren es 2 000 oder 2 500 Menschen, die von diesen Machenschaften in Bremerhaven betroffen gewesen sind. Das muss doch in der Stadt irgendjemandem aufgefallen sein, und zwar anders, als der Oberbürgermeister sagt, nicht nur in der Arbeitslosenstatistik. Diese Menschen sind doch nicht nur beim Jobcenter und bei der Humanitären Beratungsstelle aufgeschlagen.
Wahrscheinlich haben die Kinder. Wahrscheinlich hat auch das kommunale Sozialamt über Leistungen entschieden, beispielsweise der Jugendhilfe. Diese Menschen sind irgendwo in der Stadt untergekommen, Sie haben, wie wir teilweise lesen, unter menschenunwürdigen Bedingungen gelebt. Es ist also nicht nur ein Schaden an den öffentlichen Kassen entstanden. Das, was an Einzelheiten über diesen organisierten Betrug in Bremerhaven bekannt wird, ist menschenunwürdig, auch gegenüber den Betroffenen selbst.
Dass nun ausgerechnet gegen diese Personen ermittelt wird, ist natürlich in einem Rechtsstaat normal, aber die Hauptverantwortlichen sind doch nicht diejenigen, die Opfer dieser kriminellen Machenschaften gewesen sind.
Die Hauptverantwortlichen sind diejenigen, die im Wesentlichen über zwei Vereine in Bremerhaven diesen Sozialbetrug, diese Ausbeutung von Menschen und diese Missachtung von Menschenrechten
überhaupt zugelassen, organisiert und sich daran bereichert haben. Das ist der eigentliche Skandal dieser Geschichte!
Ich will abschließend auch etwas dazu sagen, dass im Raum steht, dass einer unserer Kollegen persönlich in diese Vorgänge involviert gewesen sein soll. Bisher hat er sich weder öffentlich noch dem Parlament gegenüber dazu erklärt. Ich habe den Medienberichten entnommen, dass er dazu eine Erklärung in der SPD-Fraktion abgegeben hat. Ich finde, dass die Öffentlichkeit und dieses Parlament einen Anspruch darauf haben zu erfahren, ob ein Abgeordneter der Bremischen Bürgerschaft an diesen Dingen in irgendeiner Weise beteiligt gewesen ist.
Deswegen, Herr Öztürk, fordere ich Sie auf, erklären Sie sich heute in dieser Aktuellen Stunde zu Ihren möglichen persönlichen Verwicklungen in diese Affäre! Wenn Sie sich nichts vorzuwerfen haben, wenn Sie nichts gewusst haben und wenn Sie daran nicht beteiligt gewesen sind, dann erklären Sie es heute hier im Parlament, dann gilt für Sie bis zum Gegenteil die Unschuldsvermutung!
Solange Sie sich öffentlich dazu nicht erklären, bleibt der Verdacht im Raum, dass Sie sich doch persönlich etwas vorzuwerfen haben, und das hielte ich für einen Skandal. In die Reihen der SPD sage ich: Das darf nicht passieren, und das halte ich für nicht vertretbar.
Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass ein naher Verwandter, mit dem ich im Vorstand eines dieser betrügerischen Vereine sitze, mit mir über diese Angelegenheit nicht spricht und ich davon nichts erfahre. Ich persönlich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein Flugblatt zur Unterstützung meines persönlichen Wahlkampfes verbreitet wird, indem diese beiden Vereine zu meiner persönlichen Wahl unter Abdruck eines Auszugs aus dem öffentlichen Wahlheft aufrufen, und ich nichts davon weiß. Ich kann mir das nicht vorstellen!
Wenn es so gewesen ist, Herr Öztürk, dann haben Sie wirklich nichts gewusst. Dann spricht aber auch nichts dagegen, dass Sie heute hier versichern, dass Sie von diesen ganzen Vorgängen wirklich nichts gewusst haben. Tun Sie das nicht, bin ich der Auffassung Ihrer Kollegin Frau Böschen. Dann haben Sie Ihr Mandat wegen dieser Vorwürfe zurückzugeben. Klären Sie uns auf und sagen Sie uns, wie Ihre Beteiligung war, oder versichern Sie uns, dass Sie nicht beteiligt gewesen sind! Wir haben einen Anspruch auf Aufklärung dieses Sachverhalts.
Ich habe die Hoffnung und Erwartung, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen in die Lage versetzt werden, diese Vorgänge vollständig aufzuklären, nicht nur, um Verantwortlichkeiten zu definieren. Ja, wer persönlich Schuld hat, muss auch persönlich Verantwortung übernehmen! Es muss doch unser aller gemeinsames Anliegen, sicherzustellen, dass sich dieser unglaubliche, nicht nachvollziehbare Sachverhalt nicht wiederholt. Die Reaktion darf doch nicht sein: Es gibt ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren, am Ende gibt es eine strafrechtliche Verantwortung und vielleicht einen Täter, aber im Übrigen bleibt der Sachverhalt nicht aufgeklärt.
Ich möchte, dass es eine Antwort auf die Frage gibt, wie wir in Zukunft vermeiden können, dass sich solch ein massenhafter, organisierter Sozialbetrug in unseren Systemen wiederholt. Das muss doch die Lehre aus diesem Verfahren sein! So etwas darf sich nicht wiederholen, und wir sind aufgefordert, sicherzustellen, dass das auch nicht passiert.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, aus Begegnungen mit Menschen, was passiert, wenn man auf einem mehrseitigen Vordruck des Jobcenters unter einer Rubrik auch nur die kleinste Eintragung vergisst: das Geldgeschenk der Großmutter an den eigenen Enkel oder die Nebenbeschäftigung, die 80 Euro im Monat einbringt. Wenn Sie das nicht angeben, dann trifft Sie die ganze Härte unseres Rechtsstaats. Was meinen Sie, wie schnell Sie einen Rückforderungsbescheid bekommen! Was meinen Sie, wie schnell Sie einen Strafbefehl bekommen, wo Sie dann neben der Rückzahlung der unberechtigt bezogenen Leistungen auch noch eine Geldstrafe in kleinen monatlichen Raten abstottern müssen! Was meinen Sie, was in diesen Menschen vorgeht, die vielleicht aus Fahrlässigkeit, vielleicht aus Unwissenheit, vielleicht auch, weil sie sagen: „Das geht die nichts an, und die 50 Euro möchte ich behalten“, keine Angabe gemacht haben, wenn sie erfahren, mit welcher kriminellen Energie sich unser Sozialstaat ausbeuten lässt?
Deswegen sage ich, es ist nicht nur eine Frage strafrechtlicher Verantwortung, es ist nicht nur eine Frage politischer Verantwortung, sondern es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit, dass wir diesen Vorwürfen bis ins kleinste Detail nachgehen und sie natürlich im Interesse der öffentlichen Kassen, aber eben insbesondere auch im Interesse der Gerechtigkeit im Umgang mit Sozialhilfebetrug restlos und vollständig aufklären. Ich habe die Hoffnung, dass uns das gelingt und dass alle daran mitwirken.
Ich habe gelesen, dass die Grünen in Bremerhaven einen Untersuchungsausschuss erwägen. Vielleicht habe ich nicht alles gelesen, was in der Stadtverfas
sung und der Geschäftsordnung in Bremerhaven in den letzten Jahren geändert wurde. Ich habe gestern noch einmal nachgeschaut – ich glaube, das geht nicht.
Grundsätzlich hat dieser Fall vom Ausmaß des Betruges her, von den in Rede stehenden Beträgen, von der Frage nach politischer Verantwortung bis hin zu Empfehlungen, wie wir sicherstellen, dass das nicht wieder passiert, eine Rechtfertigung für eine parlamentarische Untersuchung. Das ist Ultima Ratio, und das bedeutet für mich: Bevor wir darüber beraten und entscheiden, muss alles unternommen werden, um mit milderen Mitteln eine vollständige Aufklärung zu erlangen.
Ich sage aber auch: Wenn das aber verweigert wird, wenn das verschleiert wird, wenn das nicht vollständig erfolgt, dann bleibt uns am Ende nichts anderes übrig, als zu diesem schärfsten Schwert zu greifen. Kurzum, ich habe die Erwartung, dass alle Vorwürfe, die im Raum stehen, dass alle Fragen, die offen sind, vollständig und zur Befriedigung aller, die daran beteiligt sind und die einen Anspruch auf Aufklärung haben, beantwortet werden. Ich hoffe, dass uns das gelingt. – Vielen Dank!
Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie weit gehen Menschen, um sich finanziell zu bereichern, und wie verzweifelt müssen Menschen sein, wenn sie sich so ausbeuten lassen? Unser Bundesland erschüttert ein besonders schwerer Fall von vielfachem Sozialbetrug. Der Schaden für die öffentlichen Kassen ist noch nicht absehbar.
Die Fakten sind schnell erzählt: Ein Verein lockt Menschen aus Südosteuropa nach Bremerhaven, schließt mit ihnen einen Arbeitsvertrag und begleitet sie bei der Beantragung von Transferleistungen bei den deutschen Behörden. So weit, so schlecht, denn das Ganze ist systematisch aufgestellt. Offensichtlich gezielt haben die Menschenfänger eben jene Menschen aus ihrer Heimat gesucht, die weder lesen noch schreiben konnten. Offensichtlich gezielt haben sich diese Menschenfänger die Ärmsten der Armen ausgesucht und sie mit der Aussicht auf ein besseres Leben im ach so reichen Deutschland nach Bremerhaven gelockt. Was hier geschah, mögen die Juristen als gewerbsmäßige Beihilfe zum Betrug bezeichnen, für mich ist das eine moderne Form des Sklavenhandels.
Das wenige Geld, das ihnen nach ihrem Arbeitsvertrag zustand, sollten sie ebenso in Teilen wieder an die Organisatoren dieses Betrugs abgeben wie auch die vom Jobcenter erhaltenen Gelder zur Aufstockung ihres Gehalts. Die Opfer wurden ausgepresst wie eine Zitrone. Zwei Vereine und mehrere Firmen sollen dieses profitable Geschäft betrieben haben. Die Opfer haben malocht und rangeklotzt unter anderem in den unbeliebtesten Jobs im Hafen, wie man hört, und ihre Bosse haben die Hand aufgehalten. Ein solches Handeln macht uns hier alle fassungslos. Die Notlage eines Menschen auszunutzen, sich persönlich daran zu bereichern und der Gesellschaft vorzuspielen, man handle im Interesse eben jener Gesellschaft, eben jener Menschen wie einst der barmherzige Samariter, ist aber, meine Damen und Herren, nichts anderes als organisierte Kriminalität, und die gehört mit den Mitteln des Rechtsstaats verfolgt!
Dieser Fall wirft aber auch weitere Fragen auf; es ist vollkommen richtig zu fragen, Herr Röwekamp: Wie konnte es eigentlich dazu kommen? Ist das niemandem im Jobcenter aufgefallen? Ist das niemandem im Magistrat oder in der Verwaltung der Seestadt Bremerhaven aufgefallen? Ist wirklich niemand der Frage nachgegangen, warum der Zuzug dieser EUBürger so massiv und vor allem überdurchschnittlich nach Bremerhaven erfolgte? Was genau haben eigentlich die Firmen gewusst, bei denen die Bulgaren eingesetzt wurden? Wann wusste welche Stelle was, und wie hat sie gehandelt? Wie ist mit Hinweisen aus anderen staatlichen Organisationen umgegangen worden? Sind andere öffentliche Gelder in diese Vereine geflossen und, wenn ja, wofür eigentlich? Schlussendlich: Wie gehen wir jetzt eigentlich mit den Menschen um, die in Bremerhaven sind, die jetzt eben die Anzeige wegen Betrugs erhalten? Auch da haben wir aus grüner Sicht eine Herausforderung zu bewältigen, der wir uns stellen müssen.
Unsere grüne Stadtverordnetenfraktion hat sich mit einem sehr umfangreichen Fragenkatalog an den Magistrat gewandt, und wir hoffen, nein, wir erwarten, dass dieser vollumfänglich beantwortet wird! Wir als Politik wie auch die Behörden müssen diesen Fall genau anschauen, um eben diesen Formen des Betrugs bestmöglich entgegenzutreten. Wir müssen darauf achten, dass dieser Fall eben nicht genutzt wird, Ressentiments gegen Menschen aus anderen Ländern weiter salonfähig zu machen. Wir müssen ihn auch deswegen genau aufklären, damit er nicht genutzt werden kann, weitere Einschnitte in unsere sozialen Sicherungssysteme zu begründen.
Wir Grüne wollen die Aufklärung und die Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft. Wir wollen die Aufklärung durch die politisch Verantwortlichen, und wir fordern alle auf, die an diesem Betrug beteiligt sind oder waren, hiervon gewusst oder davon profitiert haben, sich zu erklären und ihre Konsequenzen zu ziehen. – Vielen Dank!