Protokoll der Sitzung vom 26.05.2016

Ich finde das in Ordnung, aber ihr schreit so laut, dass man sich gar nicht mehr verständigen kann! Ich bleibe dabei, auch wenn das einigen Teilen in diesem Hause nicht passt: Die Wirtschaft hat eine hohe Verantwortung, und Teile werden ihr nicht gerecht. Punktum und fertig! Wer glaubt, dass es gut für diese Gesellschaft ist, wenn Arm und Reich immer weiter auseinanderbrechen, sozusagen die Schere immer weiter auseinandergeht und immer weniger Leute reicher werden und immer mehr arm werden, wer glaubt, dass diese Gesellschaft das auf Dauer aushält, dem kann ich nur sagen: Nein, tut sie nicht!

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen – Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Wer glaubt das denn?)

Es wird irgendwann den Punkt geben, an dem auch die Reichen darüber nachdenken müssen, ob sie eigentlich noch im Sinne der Gesamtgesellschaft auch nur einen Fitzel Verantwortung übernommen haben. Wenn gefragt wird, was eine gebrochene Biografie ist, frage ich: Mein Gott, wo leben wir eigentlich, dass man noch nicht mal weiß, was eine gebrochene Erwerbsbiografie ist?

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE)

Das macht mich fassungslos. Eine gebrochene Erwerbsbiografie ist schlicht und ergreifend eine gebrochene Erwerbsbiografie. Es gibt Zeiten, in denen man nicht erwerbserwerbstätig ist, und fertig. So einfach ist das!

(Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen]: Wo es auch nicht unbedingt Geld gibt in der Zeit!)

Nein! Ich rege mich ja nur auf, weil ich das so absurd finde, dass man sich hier hinstellt und sagt, man wisse nicht, was damit gemeint ist.

(Abg. Frau Vogt [DIE LINKE]: Zu Recht! – Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen]: Wir unter- stützen das ja nur! – Weitere Zurufe)

Wir wollen – um auch das an dieser Stelle noch einmal zu sagen – einen ganz kleinen Schritt in die richtige Richtung tun. Als wir den Antragsentwurf fertig hatten, haben mir die Grünen gesagt: Ach, das wird bestimmt eine Debatte geben, in der sie die Rentenreform insgesamt diskutieren wollen. Ich glaube, die Warnung war angebracht, aber das ist gar nicht beabsichtigt. Es geht weder um Wahlkampf noch um populistischen Stimmenfang, sondern einfach darum, älteren Menschen die Möglichkeit zu geben, genauso viel dazuzuverdienen und genauso viel an Vermögen zu behalten, wie das bei Hartz-IV-Empfängern der Fall ist. Das ist schon alles. Da kann man jetzt alles Mögliche diskutieren, aber Sie haben an diesem Punkt haarscharf vorbeidiskutiert – jedenfalls die meisten. Das gilt für die LINKE nicht so, aber von dieser Seite kam es jetzt nicht so herüber, als habe man dort verstanden, um welchen kleinen Punkt es eigentlich geht.

Deswegen meine ich, dass man einfach wieder ein Stück auf den Boden zurückkommen müsste. Wer von Generationengerechtigkeit redet und dabei so tut, als nähmen die Älteren den Jüngeren etwas weg und als liefe der Konflikt entlang der Altersstrukturen in der Gesellschaft, der verkennt, dass es schlicht und ergreifend ein Konflikt zwischen Arm und Reich ist.

(Beifall SPD)

Es gibt nämlich auch arme Alte und junge Reiche. Es geht darum, wie die Vermögenswerte verteilt sind, und darüber würde ich auch gern diskutieren. Ich bin mir sicher, Sie würden dann genauso laut dazwischenrufen, wie Sie das eben getan haben. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Dr. Kappert-Gonther.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auch noch auf ein paar Aspekte in der Debatte eingehen. Als Erstes noch einmal zu Ihrem Hinweis, Frau Grönert, wir hätten im Armutsausschuss präventive Maßnahmen beschlossen und bräuchten diesen Antrag nicht einbringen, wenn wir die umsetzten: Wie ich eben schon ausgeführt habe, bedeutet Prävention, dass man jetzt etwas anfängt, was erst später wirkt. Das ist wie beim Sport. Wenn ich heute anfange zu trainieren, senke ich nicht schon morgen mein Risiko, einen Herzinfarkt zu bekommen, sondern habe in aller Regel erst mal Muskelkater. Die Dinge brauchen etwas Zeit, bis sie greifen.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Ich habe es eben schon gesagt: Die Grünen sehen gemeinsam mit der SPD einen hohen Bedarf, das Rentensystem grundsätzlich zu reformieren. Deshalb haben wir auch den entsprechenden Antrag so formuliert. Wir als Grüne haben den Vorschlag einer grünen Garantierente gemacht. Das Konzept kennen Sie möglicherweise. Aber unser gemeinsames Ziel muss es doch sein, dass künftig weniger Menschen auf Altersgrundsicherung angewiesen sind als bisher, sondern dass sie von ihrer Rente leben können. Das ist das Entscheidende an der ganzen Geschichte. Die aktuellen Entwicklungen sind beunruhigend. Da sind sich, glaube ich, alle einig.

(Abg. Frau Vogt [DIE LINKE]: Nur die FDP hat es nicht kapiert! – Abg. Frau Steiner [FDP]: Hören Sie doch auf, Frau Vogt! – Abg. Frau Vogt [DIE LINKE]: Es stimmt aber!)

Ja, die haben auch gesagt, dass es irgendwie beunruhigend ist, aber sie haben eine andere Vorstellung, wie sich das gesellschaftlich zu entwickeln hat! Aber darin, dass das im Moment nicht so ideal ist, können sie, glaube ich, auch noch mitgehen!

Wir wollen nicht, dass die Altersgrundsicherung die Regel wird, sondern wir brauchen neue Wege für Geringverdienende, für Menschen, die in Teilzeit arbeiten – die also nicht in Vollzeit arbeiten, Frau Grönert, sondern weniger – , für Menschen, die unterbrochene Erwerbsbiografien aufweisen. „Unterbrochen“ heißt, dass jemand eine Zeitlang keiner Erwerbsbiografie nachgeht, für die man Lohn erhält. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn jemand seine Kinder aufzieht oder alte Angehörige pflegt.

(Zuruf Abg. Strohmann [CDU])

Das sind unterbrochene Erwerbsbiografien, weil ich dann nicht erwerbstätig, aber durchaus tätig bin. Das ist ja ein stehender Begriff, der eigentlich leicht zu verstehen ist.

Hierbei geht es nach wie vor vor allem um Frauen. Wir möchten, dass sich mehr Männer auch um die Kindererziehung und um die Pflege ihrer Angehörigen kümmern. Das ist ja klar. Aber im Moment ist es so, dass es vor allem Frauen betrifft, die ihre Erwerbstätigkeit für Kinderzeiten und Pflegezeiten unterbrechen und damit das Risiko haben, dass sie dann, wenn sie wieder in das Berufsleben einsteigen wollen, entweder diesen Einstieg ganz verpassen oder auf geringer dotierte Tätigkeiten zurückgreifen müssen. Immer noch arbeiten wesentlich mehr Frauen als Männer in Teilzeit, was sich später auch auf ihre Rente auswirkt.

Wenn wir uns anschauen, wie die Situation der Frauen in Deutschland im Moment ist, kann man das sehr gut in der Aktuellen Studie des Bundesfamilienministeriums sehen – „Mitten im Leben“ vom Februar 2016 –, die sowohl die Wünsche als auch die Lebenswirklichkeit von Frauen im Alter zwischen 30 und 50 repräsentativ wiedergibt. Darin heißt es beispielsweise, dass nur zehn Prozent der Frauen – nur jede zehnte Frau – ein eigenes Nettoeinkommen von über 2 000 Euro haben. Das fand ich wirklich eine erschreckende Zahl. Vielleicht kennen Sie sie, mir war sie in dem Maße nicht bekannt. Im Vergleich dazu ist das bei 42 Prozent der Männer der Fall. Das ist ein eklatanter Unterschied. Weiter heißt es in der Studie: Mehr als die Hälfte der Frauen geht davon aus, dass sie trotz beruflicher Qualifikation und trotz ihrer Erwerbstätigkeit nicht von der eigenen Rente leben können wird, sondern in Zukunft existenziell auf die Rente ihres Partners angewiesen sein wird. Im Jahr 2016! Das ist doch wirklich ein Knaller, denn Frauen stehen in der Regel 17 bis 37 mögliche Erwerbstätigkeitsjahre zur Verfügung, und auch heute noch droht häufig im Falle von Scheidung oder Tod des Partners Armut. Das darf doch so nicht bleiben!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Wir brauchen eine soziale und nachhaltige Reform des Rentensystems, und zwar nicht nur, aber eben auch besonders für Frauen. Wir müssen unsere Zukunft besser und fairer gemeinsam gestalten. – Vielen Dank!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Vogt.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Tschöpe hat vor drei Jahren gesagt, er habe Angst, dass ich hier einen Herzinfarkt bekomme, und ehrlich gesagt: Ohne dass ich jetzt hätte reden müssen, war ich eben kurz davor.

Frau Grönert und Frau Steiner, Sie reden hier über Sachen, bei denen sich deutlich zeigt, wie weit entfernt Sie von der Realität vieler Menschen sind!

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Weshalb mir tatsächlich das Herz rast, will ich Ihnen gern sagen: Ich fühle mich persönlich davon betroffen. Ich habe fast 25 Jahre eingezahlt – nein, 20 Jahre, weil ich fünf Jahre selbstständig war. Hier sind einige Juristen im Raum, die wissen, dass Rechtsanwaltsfachangestellte nicht so richtig toll verdienen. Mein Stundenlohn lag mit der juristischen Grundausbildung, die man als Rechtsanwaltsfachangestellte hat, zum großen Teil unter neun Euro, und zwar nicht nur in kleinen Kanzleien, sondern auch in größeren. Ich war Alleinerziehende. Ich habe 25 oder 30 Stunden gearbeitet. Wissen Sie, wie hoch meine gesetzliche Rente nach 20 Beitragsjahren ist? Sie liegt bei 350 Euro. Frau Grönert, und Sie sagen hier, dass Sie nicht wissen, wovon Klaus Möhle, Frau Kappert-Gonther oder Herr Janßen reden!

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen – Zurufe ALFA)

Es ist unerträglich! Das, was Sie gesagt haben, Frau Steiner, ist noch unerträglicher, denn das ist noch weltfremder!

(Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen]: Genau! Weniger ist besser als arbeitslos, das hat sie gesagt!)

Liebe Kollegen der Koalition, wir sind immer noch ein bisschen am Zweifeln, ob wir zustimmen oder uns enthalten. Die Diskussionen laufen noch. Ich halte mich natürlich an das Mehrheitsvotum. Wir finden es nicht falsch, wenn Menschen mit SGB-XII-Bezug in der Grundsicherung nicht schlechter gestellt werden als Menschen mit SGB-II-Bezug.

(Zuruf Abg. Frau Kappert-Gonther [Bündnis 90/Die Grünen])

Darf ich einmal eben ausreden? Wir haben natürlich überhaupt nichts dagegen, dass wir Initiativen ergreifen und Initiativen aus Bremen starten, die eine Rentenreform im Fokus haben. Das ist nicht der Punkt. Wir hätten aber gern etwas konkretisiert. Herr Möhle, Sie haben durchaus Recht, dass die Rücknahme der Absenkung des Rentenniveaus nur ein kleiner Punkt ist. Das sehen wir genauso. Trotzdem war es eine der rentenpolitischen Todsünden der letzten 15 Jahre, und es täte gerade der SPD und den Grünen ganz gut, das einmal öffentlich anzuerkennen und zu sagen, dass man das zurückholen muss, denn das ist einer der Gründe. Frau Steiner, Sie sagen, dass drei Prozent der Menschen jetzt in Altersarmut sind. In Bremen ist die Anzahl durchaus höher. Aber viel dramatischer ist, dass durch das Lohnniveau, durch das Ausmaß prekärer Beschäftigungen in Bremen und durch die große

Lohnlücke, bei der wir bundesweit leider negativer Spitzenreiter sind, die Menschen, die zukünftig in die Rente eintreten, in einem so hohen Maße wie in kaum einem anderen Bundesland der Republik altersarm sind.

(Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen]: Leider wahr! – Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Deswegen kam ja wohl auch der Hinweis auf die Kinderarmut!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie sagen, dass sei nur der SPD geschuldet, weil sie hier seit 72 Jahren regiert, finde ich das ein bisschen verquer, denn das hat natürlich auch etwas damit zu tun, welche wirtschaftlichen Entwicklungen, welchen Strukturwandel und vor allem welche sozialpolitischen Reformen wir hatten. Da würde ich sagen: Klar, da hat die SPD ziemlich verbockt, aber nicht hier im Land, sondern eher bei den sozialpolitischen Reformen.

(Beifall DIE LINKE – Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Im Land auch!)

Die Rentenbeschlüsse waren natürlich total kritisch, und das führt dazu, dass wir eine zunehmende Altersarmut haben, genauso wie die Agenda 2010 dazu geführt hat, dass das Lohnniveau gesunken ist und die Zahl prekärer Beschäftigungen angestiegen ist.

(Beifall DIE LINKE)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sagen, dass wir eine Rentenreform brauchen. Klaus Möhle, ich rede jetzt einmal ganz offen: Ich bin da auch enttäuscht von meiner eigenen Partei!

(Beifall ALFA)

Sie haben da überhaupt nicht zu klatschen!

(Heiterkeit und Beifall DIE LINKE, SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Heiterkeit ALFA)

Wir haben beschlossen, dass wir eine Grundsicherung von 1 050 Euro wollen, damit niemand ganz rausswitcht, und wir haben gesagt, dass das über eine Steuerumlage finanziert werden muss. Ich glaube, dass wir alle mehr Mut zur Ehrlichkeit brauchen. Wir brauchen jetzt gar nicht darüber zu reden, ob die Zahlen, die jetzt im Raum stehen – dass ab 2030 50 Prozent aller Menschen auf Grundsicherung angewiesen sind –, stimmen. Ich weiß auch, dass da auch Leute sind, die noch Ehegatten haben. Doch auch, wenn es nur 40 Prozent sind, ist das für eines der reichsten Länder der Welt viel zu viel, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall DIE LINKE)

Wie gesagt, das ist eine Altersarmut, die überwiegend weiblich ist. Auch das wurde hier schon einmal gesagt. Natürlich brauchen wir mehr Mut zur Ehrlichkeit. Eigentlich müssten wir den Mut haben und sagen: Leute, aufgrund ganz vieler Entwicklungen wirtschaftlicher, demographischer und sonstiger Art müssen wir das ganze System umstellen.