Eine ungewohnt emotionale Debatte bei einem europäischen Thema. Mich freut das, aber ich habe an dieser Stelle nicht so richtig damit gerechnet.
Frau Grotheer hat schon darauf hingewiesen, der Binnenmarkt ist unbenommen eine der hervorragendsten Errungenschaften, die wir im Laufe der europäischen Integration in Europa erleben durften und, das muss man einfach immer wieder betonen, selbst im Rahmen der jetzigen Regelungen des Binnenmarktes profitieren wir in dem Nationalstaat von unglaublich vielen Arbeitsschutzbestimmungen, Gesundheitsschutzbestimmungen, die auf europäischer Ebene verhandelt wurden und natürlich im nationalen Kontext zum Tragen kommen.
Wir haben bereits sehr viele, mit Unterstützung der europäischen Ebene, sozialpolitische Errungenschaften errungen. Trotzdem lassen die Binnenmarktregeln, unter denen derzeit Freizügigkeitsrechte gewährt werden, immer noch große Lücken, die zumeist zulasten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gehen. Es ist so ähnlich wie in der Verteidigungspolitik oder in der Außen- und Sicherheitspolitik: Sozialpolitik gehört vom Verständnis her ausgesprochen in einen nationalen Bezugsrahmen. Kein Mitgliedstaat der Europäischen Union gibt ohne große Diskussion sozialpolitische Kompetenzen auf eine supranationale Ebene ab, weil das etwas mit nationalen Verständnissen von Wohlfahrtsstaatspolitik zu tun hat.
Das ist eine sehr schwierige Debatte. Deswegen zieht sie sich so lange, wie wir die europäische Integration begleiten. Es ist kein leichter Weg. Umso wichtiger ist es, das muss man betonen: Man muss nicht wahnsinnig viel Überredungskünste auf der europäischen Ebene anwenden, sondern in den einzelnen nationalen Kontexten, auch in der Bundesrepublik Deutschland. In diesem Sinne verstehen wir unseren Antrag, –
die eigene Bundesregierung stärker zu motivieren und darin zu unterstützen, sich auf europäischer Ebene für die Stärkung der sozialen Säule auszusprechen. Die Europäische Kommission kann noch ein bisschen Motivation gebrauchen, denn die Proklamation, die Vorschläge, die sie mit den 20 Schlüsselprinzipien und Rechten zur Stärkung der sozialen Säule vorgelegt hat, sind gut und richtig, vor allem in den Bereichen Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, bei den fairen Arbeitsbedin
gungen und auch beim sozialen Schutz und sozialer Inklusion. Trotzdem bleiben doch viele Lücken übrig.
Aus grüner Sicht sehr misslich ist, dass diese Regelungen nur für die Eurozone gelten, für alle anderen Mitgliedstaaten aber nicht. Das ist eine zu große Lücke. Die Freizügigkeit gilt für alle Mitgliedstaaten und nicht nur für die Eurozone. Ganz besonders misslich, das hat aber etwas mit den nationalen Kontexten zu tun: Die in der Proklamation aufgezählten Schlüsselprinzipien haben den Charakter einer unverbindlichen Empfehlung. Das ist uns zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir wollen, dass die Europäische Union ihr Versprechen wahrmacht, neben Friedenssicherung und Freizügigkeitsregelung ein Garant für Gerechtigkeit und Wohlstand zu werden, mehr zu werden, als wir es schon sind, für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen und zum Beispiel über eine europäische Arbeitslosenversicherung nachzudenken.
Ich will hier einen Vergleich – manche werden gleich vielleicht sagen, der hinkt – aber ich will ihn trotzdem ziehen: Wir haben auch einmal über eine große nationale, nein, andersherum: Es war auch bei der Währungspolitik so, dass man immer gesagt hat: Oh, das gehört aber in den nationalen Rahmen. Keiner entscheidet über die D-Mark. Heute haben wir den Euro, weil wir begriffen haben: Wollen wir eine Wirtschafts- und Währungsunion, die funktioniert, geht es nur mit einer Währung, dem Euro.
Dass Sie da jetzt – na ja, ich will da gar nicht darauf reagieren. Wenn wir also einen funktionierenden europäischen Arbeitsmarkt haben wollen, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern volle Freizügigkeit gewährt, dann müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer europaweit sozial absichern.
(Abgeordneter Dr. Buhlert [FDP]: Der europäische Arbeitsmarkt wird aber für deutsche Arbeitnehmer nicht besser!)
Unsere Vorschläge dazu finden Sie im Antrag unter Beschlusspunkt III. Die sind sehr weitgehend, das stimmt. Sie befördern eine Debatte, die wir gern führen wollen um in diesem Sinne die sozialen
Rechte anzugleichen an alle anderen Freizügigkeitsrechte, die wir im Binnenmarkt schon haben. In dem Sinne bitte ich um Unterstützung des Antrags. – Dankeschön!
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist völlig selbstverständlich, dass wir Europa nur weiterentwickeln können, wenn wir auch die sozialen Sicherungssysteme nach und nach harmonisieren. Nur, da fängt natürlich das Problem an, das müssen wir ehrlich sagen. Uns wäre sicherlich das Liebste, wenn wir alles nach deutschen Standards harmonisieren würden, weil das, glaube ich, insgesamt als Teil der sozialen Marktwirtschaft bewährt ist. Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir so viele Kombattanten für diese europäische Lösung bei den anderen Ländern finden werden.
Den anderen Weg kann ich mir wiederum auch nicht vorstellen, dass wir am unteren Ende von sozialen Standards anfangen und das als Basis für ein europäisches Modell nehmen. Deshalb ist es ein sehr komplexes Thema, das hier in diesem Antrag angesprochen wird, und ich muss sagen, ich glaube, das braucht tatsächlich Zeit. Aus diesem Grunde werden wir als Fraktion der CDU, und da bitte ich um getrennte Abstimmung, den Punkten I und II auch zustimmen und uns bei dem Punkt III enthalten, weil in dem Punkt III auch gute und vernünftige Sachen stehen. Ob ich jetzt als Erstes glaube, dass uns eine europäische Arbeitsbehörde weiterhilft, da würde ich zum Beispiel ein Fragezeichen machen.
Weil wir dort nicht alles unterschreiben können, was Sie in Punkt III aufgelistet haben, haben wir uns entschlossen, uns dort zu enthalten. Die ersten beiden Punkte sind natürlich wichtig für die Weiterentwicklung der Europäischen Union. Ich glaube, dass uns im Moment Ziele fehlen, dass wir sicherlich auch eine Europakrise haben, weil wir in vielen großen Fragen nicht wissen, in welche Richtung wir sie weiterentwickeln wollen. Ich hatte neulich das Vergnügen, der Kollege Gottschalk hatte mich in seinen SPD-Ortsverband eingeladen, da hatten wir die Diskussion um die europäische Verteidigungspolitik, wie es damit weitergeht. Da habe ich sehr deutlich gesagt, dass ich dafür bin, dass wir uns zu einer europäischen Armee weiterentwickeln. Dann sind interne Konflikte technisch
nicht mehr umsetzbar, wenn vielleicht das ein oder andere europäische Land sich in Richtungen entwickelt, wie man es sich eigentlich nicht wünscht.
Diese große Fragestellung gilt auch bei der Sozialfrage, und dazu müssen wir, glaube ich, in den nächsten Jahren Antworten finden, um die Europamüdigkeit, die bei dem einen oder anderem Land vorhanden ist, zu überwinden, zu entwickeln, um gerade auch den schwächeren Ländern in dem Bereich eine Perspektive zu geben. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass die Koalition den Antrag eingebracht hat. Wir sind auch gern bereit, zu den Punkten in dem Bereich III in der nächsten Legislaturperiode intensiv zu debattieren.
Heute allerdings das alles schon zu unterschreiben, dazu sehen wir uns nicht in der Lage. Ich glaube aber, dass wir mit diesem Antrag eher am Beginn dieser Diskussion sind und nicht am Ende. Aus diesem Grunde freuen wir uns dann auch auf die nächsten Debatten zu diesem Bereich. – Danke sehr!
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Sozialversicherungen in Europa zu harmonisieren wird ein schwieriges Unterfangen, weil die Sozialversicherungen in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedliche Schnittstellen zu den einzelnen Steuersystemen haben. Bei der Gesamtfinanzierung gibt es durchaus Divergenzen. In dem einen Land werden bestimmte Dinge aus Arbeitgeberbeiträgen finanziert, in anderen Ländern ist das paritätisch. In anderen Ländern, wie beispielsweise Italien, wird die komplette Krankenversicherung aus Steuermitteln finanziert.
Wenn Sie das harmonisieren wollten, müssten Sie die kompletten Steuer- und Sozialversicherungsregeln in allen europäischen Ländern harmonisieren. Viel Spaß. Da sehe ich einigen Widerstand bei den Ländern, die betroffen sind. Denn mitnichten ist das so, dass wir uns mit breiter Brust hinstellen können und sagen, wir haben hier ein besonders gutes Sozialsystem.
Unser Sozialsystem ist, wenn man es direkt mit anderen europäischen Systemen vergleicht, in vielerlei Hinsicht defizitär. Die Abgabenquote, insbesondere durch die Sozialabgaben, ist in Deutschland so
hoch wie nirgendwo sonst. Ich wiederhole mich gern. Nach Belgien haben wir die höchste Abgabenquote auf Einkommen durch Arbeit in der gesamten OECD. Wenn ich uns mit unserem direkten Nachbarn vergleiche, mit Österreich, dann haben wir in dem Bereich der Niedrigeinkommen, sagen wir einmal 2 500 Euro brutto im Monat, hier in Deutschland durch die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern ungefähr 15 Prozent weniger Netto vom Brutto als die Kollegen in Österreich.
Wenn ich weitergehe auf Besserverdienende, 90 000 Euro im Jahr, bei einem Alleinverdiener mit 90 000 Euro im Jahr hat ein Österreicher fast 7 000 Euro netto mehr im Jahr zur Verfügung als in Deutschland.
Jetzt könnte man sagen, na gut, dafür haben wir in Deutschland ein besonders großartiges System. Was soll denn daran so großartig sein? Die Rentenversicherung? Ich habe das einmal durchgerechnet. Für eine junge Frau, die heute in ihren Beruf eintritt und 2 500 Euro brutto verdient: Wenn ich das für die deutsche Rentenversicherung durchrechne, hat sie inflationsbereinigt einen Rentenanspruch von 700 Euro. Da sind wir wieder bei dieser Grundsicherung, weil unser Sozialsystem nicht funktioniert.
Die Österreicher allerdings, die Österreicher kämen auf eine Rente, die liegt bei mehr als dem Doppelten, bei mehr als dem Doppelten. Also tun wir nicht so, als ob unser Sozialsystem besonders effizient wäre. Unser Sozialsystem ist teuer, unser Sozialsystem ist ungerecht, und unser Sozialsystem verhindert, dass die Menschen adäquat für ihr Alter vorsorgen können. Nicht nur ist die Rentenversicherung Makulatur, sondern die Menschen werden so stark belastet, dass sie auch privat nicht vorsorgen können.
In der gesamten EU ist die Sparquote und die Eigentumsquote nirgendwo so gering wie in Deutschland. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendein EU-Land, das bei Sinnen ist, das deutsche System als Vorbild betrachtet. – Danke sehr!
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste! Ich freue mich sehr, dass dieser Antrag, der schon im August letzten Jahres gestellt worden ist, heute debattiert wird. Ich glaube, dieses Thema ist mindestens noch
so aktuell wie es im letzten Jahr war, beziehungsweise 2017, als es die Beschlüsse dazu gegeben hat.
Wir stehen jetzt zum einen vor dem Brexit, der sicherlich viel damit zu tun hat, dass die soziale Ungleichheit in Großbritannien immer mehr gestiegen ist und deswegen viele Bürgerinnen und Bürger sehr unzufrieden sind und glauben, dass es etwas mit Europa zu tun hat. Häufig hat es aber eher innenpolitische Aspekte, warum die Situation im Vereinigten Königreich für viele Menschen so schlecht ist, wie sie ist.
Wir stehen aber auch kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament am 26. Mai, und erleben, dass viele Bürgerinnen und Bürger mehr Interesse daran haben, was in Europa passiert und die Erwartung an Europa haben, dass sich mehr um sie gekümmert wird, dass für ihre Lebenssituation etwas getan wird.
Da ist, glaube ich, diese Debatte um die soziale Säule ein ganz wichtiger Punkt, der genau diese Interessen und Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger aufnimmt.
Ich freue mich besonders über den Antrag, weil er nicht nur eine allgemeine Aussage hat, sondern in genau neun Punkten sehr konkret bezeichnet, was eine soziale Säule und was ein soziales Europa eigentlich beinhalten. An vielen Stellen in den Debatten wurde in Details darauf hingewiesen, wie wichtig die Dinge sind, die wir dort haben, ob es um die Arbeitnehmerentsenderichtlinie geht, um eine europäische Arbeitsbehörde, oder aber auch um die Frage von Vergütung und Unternehmenssteuern.
Ich werde jetzt nicht auf neun Punkte eingehen, aber einige Akzente noch einmal verstärken. Die Schaffung der sozialen Säule, der Europäischen Säule der sozialen Rechte ist ein großer Erfolg und ein wichtiger Beitrag zur Schaffung eines sozialen Europas. Sie sollte aber nicht nur als unverbindliche Richtschnur dienen, sondern rechtlich bindend sein, damit die Schaffung eines sozialen Europas wirklich eine Verpflichtung wird. Da werden die Wahlen am 26. Mai entscheidend sein, weil natürlich am Ende auch das Europäische Parlament darüber entscheiden wird, wie es sich weiterentwickelt.
Vier Aspekte von den neun möchte ich etwas näher darstellen. Es geht zum einen um die Entsenderichtlinie. Bei der Reform der Arbeitnehmerentsenderichtlinie, wie von Frau Grotheer angesprochen, haben sich die Befürworter eines sozialen Europas durchgesetzt. Die Einigung ist ein Meilenstein auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit.
Gleicher Lohn für gleiche Tätigkeit am gleichen Ort, darum geht es, ist Ausdruck sozialer Gerechtigkeit, und Herr Dr. Buhlert, es geht nicht darum, dass alle das Gleiche überall verdienen, sondern dass genau geschaut wird, was an einem Ort der Standard ist, und wie die Tätigkeiten dort bezahlt werden. Das ist auch im Interesse der bremischen Wirtschaft, möchte ich hier deutlich sagen, die zukünftig keinen unfairen Wettbewerb aus Niedriglohnländern fürchten muss
und deswegen auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Ausbeutung schützt, die eine Abwärtsspirale bei Löhnen und Sozialschutz mit sich bringt. Das ist im großen Interesse auch für Bremen und Bremerhaven. Der zweite Aspekt ist der Zugang von Arbeitnehmern und Selbstständigen zu allen Zweigen der sozialen Sicherungssysteme. Ich war gerade sehr irritiert, als dargestellt worden ist, wie das Sozialsystem in der Bundesrepublik Deutschland angeblich sein soll. Ich glaube nach wie vor, dass wir einen sehr guten Standard haben. Das Problem, was wir haben, ist, dass 39 Prozent der Beschäftigten in Europa in atypischer Beschäftigung oder Selbstständige sind und in Bremen der Anteil bei fast 41 Prozent liegt.
Das bedeutet, sie haben keinen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen, und dort muss sich natürlich etwas verändern, weil die Absicherung gerade in den Beschäftigungsbereichen sehr, sehr wichtig ist.