Protokoll der Sitzung vom 16.10.2003

Ich verstehe ja Ihre Aufregung. Aber das ist gerade der schwierige Abwägungsprozess, in den wir eintreten müssen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der CDU)

In Bremen, wo die CDU mitregiert, wird jetzt ein Gesetz vorbereitet, das regeln soll, dass grundsätzlich religiöse Symbole in der Schule keinen Platz haben – grundsätzlich, meine Damen und Herren.Wir als GRÜNE werden diese Diskussion jedenfalls ernsthaft betreiben – mit gesellschaftlichen Gruppen in diesem Lande, mit Verfassungsrechtlern –, um zu klären, welchen Weg man gehen kann, der vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen kann.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU):Was wollen Sie jetzt?)

Wir werden mit gesellschaftlichen Gruppen die Frage klären: Wollen wir tatsächlich und halten wir in Hessen aus, dass wir alle religiösen Symbole verbannen? Das gilt auch für die christlichen Symbole und nicht nur für die muslimischen oder jüdischen oder andere.

(Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU): Darum geht es gar nicht! Es geht um ein politisches Symbol!)

Frau Kollegin Hinz.

Ich komme zu meinem letzten Satz. – Ich finde, Sie sollten als absolute Mehrheit in der Lage sein, einen Abwägungsprozess hier in Hessen mitzudiskutieren. Ihre absolute Mehrheit heißt nicht, dass Sie tatsächlich auch die Mehrheit der Meinungen in diesem Falle repräsentieren.

(Zurufe von der CDU)

Deswegen sollten Sie das mit uns gemeinsam diskutieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU): 97 %!)

Vielen Dank, Frau Kollegin Hinz. – Nächste Wortmeldung, Frau Kollegin Faeser, SPD-Fraktion.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat am 24.09.2003 entschieden, dass es einer gesetzlichen Grundlage bedarf, wenn einer Lehrerin untersagt werden soll, ein Kopftuch im Unterricht zu tragen. Die Entscheidung lässt zwar eine wünschenswerte Abwägung der einzelnen betroffenen Grundrechte vermissen, dennoch ist sie folgerichtig.

Dem Urteil lag ein Sachverhalt zugrunde, der mehrere verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen berührt. Zum einen wurde durch das Verbot der Einstellung das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern tangiert. Ich betone, dass zwischen der Zulassung zu öffentlichen Ämtern und dem religiösen Bekenntnis kein Zusammenhang besteht. Zum anderen fällt das Tragen eines Kopftuches in der Schule unter den Schutz des Grundrechts der Glaubensfreiheit. Neben den staatlichen Erziehungsauftrag treten die Verfassungsgüter des elterlichen Erziehungsrechts und die negative Glaubensfreiheit der Schulkinder.

Es kollidieren also die Grundrechte der Lehrerinnen und Lehrer und die der Schülerinnen und Schüler. Um zu einer Entscheidung zu kommen, muss in eines der Grundrechte eingegriffen werden. Der Eingriff in die religiöse Freiheit steht unter dem Vorbehalt des Gesetzes. Deshalb ist es auch richtig, dass das Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Eingriffsermächtigung verlangt.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Abwägung der Eingriffe in die Grundrechte leider nicht abschließend vorgenommen. Es hat den Gestaltungsspielraum der Landesparlamente betont und den Parlamenten eine schwierige Aufgabe übertragen. Dieser Verantwortung gilt es nun gerecht zu werden, meine Damen und Herren der CDU.

Die SPD-Fraktion befürwortet eine gesetzliche Regelung, um die staatliche Neutralitätspflicht zu wahren.Grund für dieses Neutralitätsgebot ist unter anderem, dass Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung und des besonderen Abhängigkeitsverhältnisses, in dem sie sich in der Schule befinden, nicht der Gefahr ausgesetzt werden dürfen, einseitig politisch oder religiös geprägt oder beeinflusst zu werden.

Wenn Lehrerinnen auffällige religiöse oder politische Symbole tragen – ich betone:unter anderem das Kopftuch –, kann dies auf Schulkinder Auswirkungen haben. Das gilt umso mehr, je jünger die Schülerinnen und Schüler sind, wie z. B. in der Grundschule. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die Schulkinder, die der Schulpflicht unterliegen, in ihrer negativen Religionsfreiheit tangiert werden.

Der Aussagegehalt des von Muslimen getragenen Kopftuchs wird höchst unterschiedlich wahrgenommen, Herr Kollege Jung. Es kann einerseits ein Zeichen für eine als verpflichtend empfundene religiös fundierte Bekleidungsregel sein. Es kann aber auch ein Ausdruck kultureller Tradition der Herkunftsgesellschaft sein. Und es kann als politisches Symbol gewertet werden.

Für den Beobachter ist dies in aller Regel nicht unterscheidbar, sodass regelmäßig der religiöse Bezug ebenso wie ein politischer Symbolcharakter wegdiskutiert werden kann. Das ist entscheidend, gilt aber für alle Symbole. Die mögliche Einflussnahme auf Schulkinder gilt damit aber, das sage ich ausdrücklich, für alle religiösen und politischen Symbole.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der FDP)

Diese haben in staatlichen Gebäuden und an Bediensteten nichts zu suchen,meine Damen und Herren.Die staatliche Neutralitätspflicht gebietet es, ein solches Gesetz zu erlassen. Allerdings – das sage ich insbesondere im Hinblick auf Sie, Herr Kollege Jung, und auch auf Sie, Herr Kollege Irmer – darf die Debatte über ein solches Gesetz keinen falschen Zungenschlag bekommen. Den hat sie meines Erachtens heute Morgen bekommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hier geht es gerade nicht um eine isolierte Diskussion um islamische Symbole. Herr Irmer, Ihr gestern in der Presse geäußerter Wunsch an Herrn Innenminister Bouffier,prüfen zu lassen, ob auch ein Kopftuchverbot für Schüler in Betracht kommt, geht genau in die falsche Richtung, und Sie schießen weit über das Ziel hinaus.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

An dieser Stelle verkennen Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.Sie greifen mit einem solche Verbot massiv in die Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler ein, die natürlich nicht zur Neutralität verpflichtet sind – anders als das Lehrpersonal. Zahlreiche Urteile in Frankreich belegen im Übrigen diese Auffassung. Vielleicht sollten Sie sich dort einmal erkundigen. Sie heizen damit eine politische Debatte an, die nicht zur Integration, sondern zur Konfrontation und Ausgrenzung führt.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich wiederhole: Es geht einzig und allein darum, dass staatliche Bedienstete zur Neutralität verpflichtet sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren von der CDU,ich appelliere an Sie, eine solch unredliche Debatte nicht zu führen. Die Aufgabe, die das Bundesverfassungsgericht den Landesgesetzgebern gestellt hat, ist schwierig genug und erfordert großes Fingerspitzengefühl. Deshalb warnen wir auch jetzt schon vor einem überstürzten, nicht zu Ende gedachten Gesetzentwurf.

Wir bedauern sehr, dass sich die Kultusministerkonferenz auf keine einheitliche gesetzliche Regelung einigen konnte. Die Neutralitätsverpflichtung des Staates ist ein übergreifender verfassungsrechtlicher Schutz, der einheitlich gesetzlich normiert sein sollte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Kollegin Faeser, Sie müssten langsam zum Schluss kommen.

Ich komme zu meinem letzten Satz. – Frau Ministerin Wolff, wir werden Ihren Gesetzentwurf sehr genau unter die Lupe nehmen und appellieren an Sie, die Debatte nicht auf einer falschen Ebene zu führen, indem Sie überspitzt einen unausgewogenen Gesetzentwurf vorlegen. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Kollegin Faeser, ich sehe, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Herzlichen Glückwunsch dazu.

(Allgemeiner Beifall)

Nächste Wortmeldung, Frau Kollegin Henzler, FDP-Fraktion.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU):Erste Rede für heute!)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die FDP bedauert sehr,dass sich das Bundesverfassungsgericht in sei

nem Urteil nicht eindeutig geäußert hat. Die Folge davon wird nämlich sein, dass 16 Länder in der Bundesrepublik Deutschland überlegen, wie sie mit diesem Thema umgehen. Es gab schon einige Äußerungen, dass die Hälfte der Länder keine gesetzliche Regelung schaffen und das Tragen des Kopftuches erlauben will, und dass die anderen acht Bundesländer eine gesetzliche Regelung schaffen und das Tragen des Kopftuches untersagen wollen.

Das wird Folgendes bewirken. In den Ländern, wo das Tragen des Kopftuches erlaubt sein wird, wird es Eltern geben, die dagegen klagen. Ich erinnere nur an die Klage eines Vaters gegen das Tischgebet im Kindergarten. Es wird Eltern geben, die sagen: „Meine Kinder werden von einer Lehrerin indoktriniert“, und werden dagegen klagen. In den Ländern, wo per Gesetz das Tragen des Kopftuches verboten wird, wird es genau umgekehrt sein. Da wird es nämlich Lehrerinnen geben – und wenn sie von anderen in diese Richtung beeinflusst werden –, die klagen werden, damit sie das Kopftuch im Unterricht tragen können.

Das heißt,die ganze Geschichte wird,und zwar mit 16 einzelnen Gesetzen, wieder vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Wir werden hoffentlich irgendwann ein eindeutiges Urteil aus Karlsruhe bekommen.

(Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Die FDP als Rechtsstaatspartei ist der Meinung, dass eine ein Kopftuch tragende Lehrerin das Gebot der Neutralitätspflicht an der Schule verletzt.

(Beifall des Abg. Jörg-Uwe Hahn (FDP) und bei Abgeordneten der CDU)

Wir sind also dagegen. Ich sage aber sehr deutlich, dass es in unserer Fraktion auch andere Meinungen gibt. Sie haben eben die Justizministerin aus Baden-Württemberg zitiert.Auch da gibt es andere Meinungen.

Die FDP-Fraktion in Hessen begrüßt die Absicht des Landes, einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen. Aber auch wir sagen, dass wir ihn sehr genau dahin gehend überprüfen werden, ob er in die richtige Richtung geht und ob er sich eben nicht nur gegen eine bestimmte Glaubensrichtung wendet.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Religiös motivierte Kleidung und bewusst zur Schau gestellte religiöse Symbole haben im allgemeinen Unterricht nichts zu suchen. Ich wiederhole: „Bewusst zur Schau gestellte religiöse Symbole haben im allgemeinen Unterricht nichts zu suchen.“ Lehrkräfte als verbeamtete Staatsdiener, die sich mit einem Eid auf die Verfassung zur Neutralität verpflichten – das tun sie, wenn sie auf die Verfassung schwören –, müssen sich an diese Regelung halten und dürfen sie im Unterricht nicht verletzen. Insbesondere Lehrerinnen in der Grundschule haben eindeuig einen Vorbildcharakter für junge Mädchen. Gerade die Mädchen, die zu Hause um Unabhängigkeit kämpfen müssen und die zu Hause vielleicht gerade bewirkt haben, dass sie das Kopftuch nicht tragen müssen, haben es in der Argumentation gegen das Kopftuch und für die eigene Freiheit zu Hause noch deutlich schwerer, wenn sie einer Lehrerin gegenübersitzen, die das Kopftuch als Symbol trägt.

(Beifall bei der FDP, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)