Protokoll der Sitzung vom 05.11.2003

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Die Landesbediensteten müssen unter Ihrem fehlenden Weitblick leiden. Meine Damen und Herren, vor allem zerstören Sie die soziale Infrastruktur dieses Landes mit Ihrem Haushalt 2004.

(Beifall bei der SPD – Zurufe der Abg. Hans-Jür- gen Irmer und Clemens Reif (CDU))

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo Hessen im Vergleich zu anderen Bundesländern durch ganz hervorragende Arbeit von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, unterstützt in den vergangenen Jahren auch von der grünen Seite, eine ganz hervorragende soziale Infrastruktur geschaffen hat, wird jetzt diese hervorragende Infrastruktur von Ihnen, Herr Ministerpräsident, kaltschnäuzig und herzlos zerschlagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Jürgen Irmer (CDU): „Hemmungslos“ haben Sie vergessen!)

„Brutalstmöglich“, Herr Ministerpräsident, war doch Ihr Lieblingsspruch in der Schwarzgeldaffäre.

(Zurufe von der CDU)

Brutalstmöglich werden nun von der Landesregierung soziale Einrichtungen und Initiativen zerschlagen. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Die gute soziale Infrastruktur dieses Landes,die gerade in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten so dringend notwendig ist, diese wichtige soziale Infrastruktur, die notwendig ist, um gerade in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten auch den sozialen Frieden in diesem Land zu bewahren, wird von Ihnen zerstört. Das ist das Miese an dieser Politik.

(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU)

Das Miese und Fiese ist, dass Sie mit diesem Haushalt 2004 gerade die Schwächsten der Schwachen unserer Gesellschaft treffen – das ist wirklich eine miese Haushaltspolitik –,

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

dass Sie gerade bei den Schwächsten brutalstmöglich hinlangen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wer die Zuschüsse bei den Schuldnerberatungsstellen auf null stellt, ignoriert die wachsende Not. Und er ignoriert Einzelschicksale.

(Zurufe von der CDU)

Ich finde interessant, was Sie dazwischenrufen, wenn wir über Schuldnerberatungsstellen reden. Ich finde interessant, dass Sie so dazwischenrufen. Wir reden doch hier auch über Einzelschicksale. Ich weiß nicht, ob Sie in den vergangenen Tagen einmal mit denjenigen gesprochen haben, die Beratungsleistungen erbringen, oder ob Sie Briefe von Menschen bekommen haben,die in den letzten Monaten gezwungen waren, zu der Schuldnerberatung zu gehen. Ich habe Briefe vorliegen, Ihre Kollegin aus dem Kreis Bergstraße hat Briefe vorliegen, in denen z. B. Frauen geschildert haben, dass sie so in Not waren, dass sie sogar an Selbstmord gedacht haben.

Oft sind es Menschen, die völlig unverschuldet in diese Situation geraten sind, weil z. B. Partnerschaften auseinander gegangen sind und insbesondere der Partner, der diese Not verursacht hat, die Frau und die Kinder auf den Schulden sitzen lässt. Meine Damen und Herren, ich finde das Ungeheuerliche an diesen Kürzungen der Mittel für Schuldnerberatung, dass Sie Menschen, die in schwerer Not sind, im Stich lassen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Meine Damen und Herren, wer bei den Frauenhäusern kürzt, nimmt das Aus dieser Zufluchtstätten für geschlagene Frauen und Kinder in Kauf. Wer die Mittel für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit drastisch reduziert, ignoriert das Schicksal vieler junger Menschen und nimmt ihnen die Hoffnung auf den Einstieg in unsere Gesellschaft.

Wer Behinderte zum Opfer seiner Sparbeschlüsse macht, stellt deren Integration vorsätzlich infrage. Wer bei den Initiativen zum Wiedereinstieg von Frauen nach der Familienphase Mittel kürzt, nimmt bewusst in Kauf, dass diese Frauen keine eigenständige finanzielle Absicherung mehr haben.

(Beifall bei der SPD)

Das ist auch eine sehr kurzsichtige Haushaltspolitik, weil deren Kosten am Ende wieder die Gesellschaft wird tragen müssen. Wer bei Erziehungshilfen in sozialen Brennpunkten und bei Eltern- und Erziehungsberatungsstellen Mittel kürzt, nimmt bewusst in Kauf, dass sich die sozialen Probleme weiter aufschaukeln werden und die gesellschaftlichen Folgekosten von Fehlentwicklungen auf jeden Fall höher sein werden als die Einsparungen, die mit Ihrem Haushaltsplan 2004 verbunden sind. Meine Damen und Herren, wer Mittel für die ambulante Hilfe für Drogenabhängige kürzt,wer bei der Aidshilfe den Rotstift ansetzt, wer bei der Betreuung ausländischer Arbeitnehmer kaltschnäuzig Streichungen durchsetzt, der beeinträchtigt die dringend notwendige Präventionsarbeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, das wird sich alles einmal bitter rächen, weil mehr Kosten auf die Gesellschaft zukommen, als Sie mit den Kürzungen einsparen werden.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wenn man Ihre Streichliste sieht, wird deutlich, dass Sie eine andere Gesellschaft wollen, die nicht mehr mit Solidarität aufgebaut ist, die nicht mehr ein flächendeckendes Netz von sozialen Hilfen für Menschen vorsieht, die – aus welchen Gründen – oftmals unverschuldet in Not geraten. Ihr Gesellschaftsmodell geht davon aus,dass jeder Einzelne sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann und wird.Ich glaube wirklich,dass es Ihr Motto ist:Wenn jeder jeden Tag an sich denkt, ist an jeden jeden Tag gedacht. – Meine Damen und Herren, das ist nicht unser Gesellschaftsmodell.

(Beifall bei der SPD)

Ihr Gesellschaftsmodell ist eigentlich ein Gesellschaftsmodell der Neandertaler, wo jeder für sich selbst kämpft und den anderen mit den Ellenbogen beiseite boxt. Und wenn es nicht reicht,greift er zur großen Keule.Das ist ein Gesellschaftsbild, das wir nicht haben, das Sie aber mit den Haushaltskürzungen für das Jahr 2004 – insbesondere im sozialen Bereich – durchsetzen wollen.

Meine Damen und Herren, Sie – vor allem die Sozialministerin – sprechen immer davon, dass Sie mehr Selbstverantwortung wollen. Wer mehr Selbstverantwortung will,der muss doch Menschen in schwierigen Lebenslagen auch Beratungshilfe an die Hand geben, damit sie wieder selbst aus der Notlage herauskommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu sind doch gerade Betreuungseinrichtungen notwendig. Wer das Gesellschaftsbild hat, dass jeder selbst auch ein bisschen seines Glückes Schmied ist, der muss doch Beratungsleistungen zur Verfügung stellen, damit die Leute wieder auf eigenen Füßen stehen. Der darf gerade nicht an dieser Stelle einsparen, denn am Ende wird das kommen, was wir nicht haben wollen, dass die Leute auf Sozialhilfe und soziale Leistungen angewiesen sind.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, deswegen glaube ich, dass diese Streichungen die soziale Infrastruktur in unserem Lande zerschlagen werden. Sie werden am Ende dazu führen, dass wir einen Staat haben, der wieder zu dem alten Fürsorgestaat wird, der nicht auf Selbstinitiative, nicht auf Selbstverwirklichung setzt und auch nicht die notwendige Selbstverantwortung in der Gesellschaft einfordert

bzw.die Möglichkeit gibt,dass Selbstverantwortung in der Gesellschaft geleistet werden kann.

Meine Damen und Herren, das Schlimme ist, dass mit der Streichliste, die durch die Landesregierung vorgelegt wird, auch das Ehrenamt geschädigt wird. Die Streichliste zerstört Hilfssysteme, die oftmals – neben den Hauptamtlichen – von ehrenamtlichen Mitarbeitern getragen werden, manchmal sogar wesentlich. Mit den Streichungen wird vielen ehrenamtlich Tätigen nun der Boden unter den Füßen entzogen, die Unterstützung entzogen. Meine Damen und Herren, die Tatsache, dass auch die mit großem publizistischen Aufwand gegründete Ehrenamtskampagne unter die Räder kommt, auch Streichungen erfahren muss, macht den Stellenwert deutlich, den Sie dem Ehrenamt in Hessen mittlerweile einräumen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Michael Sie- bel (SPD))

Das war vor der Wahl. Herr Kollege Siebel hat Recht. Die große Verkündung der Ehrenamtskampagne war vor der Landtagswahl. Damals wollte man die Hilfen ins Schaufenster stellen. Man wollte die Wahl gewinnen. Jetzt wird an dieser Stelle wieder gestrichen. Ich sage Ihnen: Ein lauwarmer Händedruck von wem auch immer ersetzt nicht die notwendigen Hilfen für das Ehrenamt in Hessen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Michael Sie- bel (SPD))

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, wir wissen, dass Sie ein anderes Hessen wollen, als es sich historisch entwickelt hat. Bis weit in die Neunzigerjahre hinein war Hessen davon geprägt, dass es sozialpolitisch, ökologisch und wirtschaftlich eine Vorreiterrolle in Deutschland hatte. Die selbst verschuldete Finanzkrise – ich komme darauf noch zurück – ist für Sie aber anscheinend jetzt willkommener Anlass,mit dem traditionellen Hessen aufzuräumen. Sie legen nicht nur die Axt an die Sozialpolitik, sondern Sie werfen flächendeckend die Motorsäge an. Der Umweltminister kennt sich da gut aus.

Meine Damen und Herren, es wird aber nicht nur im sozialpolitischen Bereich gestrichen. Ihre Streichungen z. B. beim Sigmund-Freud-Institut, bei den Mütterzentren und bei pro familia zeigen doch, dass Sie jetzt versuchen, Ihre rückwärts gewandte Ideologie in diesem Lande auch durchzusetzen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wer bei pro familia, bei der Schuldnerberatung, bei den Mütterzentren und bei dem Sigmund-Freud-Institut kürzt,

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

aber gleichzeitig die Vertriebenenverbände in diesem Lande fast ungeschoren davonkommen lässt, zeigt doch, wessen Geistes Kind er ist – um an die Hohmann-Debatte von gestern anzuknüpfen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Frank Gotthardt (CDU): Hast du gestern auch versenkt! – Zurufe der Abg. Michael Siebel (SPD) und Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Herr Irmer, ein Einschub, weil Sie jetzt so darauf reagieren: Ich empfand es wirklich als einen unglaublichen Vorgang, dass der Ministerpräsident bis zum heutigen Tage auf die schlimmen Äußerungen von Herrn Hohmann noch nicht reagiert hat und gestern auch nicht die

Gelegenheit in diesem Hause genutzt hat, dazu klare Worte zu finden.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lebhafte Zu- rufe des Abg. Horst Klee (CDU))

Meine Damen und Herren, Hessen soll zu einem Land des Südens werden.Es ist aber ein Land der Mitte,zu dem Offenheit, soziale Gerechtigkeit und Toleranz gehören. Dafür werden wir weiter kämpfen.