Protokoll der Sitzung vom 18.12.2003

Tatsächlich ist man heute bei der Komplexität vieler Bereiche auf professionelle Hilfe und Beratung angewiesen – vom Anlageberater bis zum Schuldnerberater. Deshalb hat Frau Merkel auch nicht Recht, wenn sie behauptet, der deutsche Sozialstaat sei vor allem deshalb in Problemen, weil die Bürgerinnen und Bürger weniger zur Übernahme von Eigenverantwortung und Eigeninitiative bereit seien. Tatsächlich geht die soziale Arbeit ebenso wie die GRÜNEN seit Jahren von der optimistischen Sichtweise aus – und einige Ihrer Fachkollegen wissen das auch –, dass Menschen insbesondere dadurch geholfen werden kann, dass ihre eigenen Potenziale sowie ihre soziale Integration und gesellschaftliche Partizipation gestärkt werden.

Sichtbare Zeichen dieser Politik waren die Abkehr von übermäßiger Spezialisierung und Konzentrierung, z. B. in Heimen,und die Hinwendung zu Alltagsnähe in Form von Unterstützung durch niedrigschwellige Angebote und durch das Zusammenwirken professioneller Hilfe und ehrenamtlich wirkender Menschen. Der Sozialstaat lässt sich allein deshalb nicht nur durch Bürgerengagement ersetzen, weil die Unterordnung unter die ökonomischen Gesetze die Bürgerinnen und Bürger gleichzeitig in hohem Maße individualisiert hinsichtlich ihrer Mobilität und der Auswirkungen auf ihre Familiensituation, auf Überstunden und auf die Verlängerung der Wochenarbeitszeit, deren Diskussion vor diesem Hintergrund völlig unsinnig erscheint.

Wenn wir den Blick nach Hessen lenken und auf das, was hier gerade vor einer halben Stunde von der Mehrheit des Hauses beschlossen wurde, dann sehen wir die Umsetzung der merkelschen Theorie in der kochschen Variante: die Abkehr von einer nachhaltigen Umweltpolitik, die Rückkehr zu einer sozialen Differenzierung in der Bildungspolitik, den Entzug von sozialer Hilfestellung und die Entsolidarisierung mit den Problemen der Großstädte und Ballungsräume.

Der hessische Kahlschlag macht brutalstmöglich – das kennen wir schon – klar, wie die Zerstörung des Sozialstaats aussehen wird: die Zerschlagung von beratenden Angeboten und Hilfestellungen, z. B. bei der Schuldnerberatung, die Verunsicherung und Austrocknung ethisch motivierter Dienstleistungsanbieter wie der freien Wohlfahrtsverbände – da hat sich unsere Sozialministerin im vergangenen Jahr einiges geleistet –, die Reduzierung der sozialen Arbeit auf symbolische Ehrenamtlichkeit, d. h. warmes Händeschütteln statt vernünftig zusammenwirkender Netzwerke.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Frau Schulz-Asche, Sie haben noch etwas mehr als eine Minute Redezeit.

Danke schön. – Die CDU hat in Leipzig die Abkehr vom gerechten und solidarischen Sozialstaat beschlossen. Heiner Geißler wirft ihr Thatcherismus vor.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Aber der Thatcherismus in Großbritannien hat im Wesentlichen Elend gebracht: geringe Produktivität, entgleiste Eisenbahnen und zusammenstürzende U-BahnSchächte aufgrund der Privatisierungsorgie, dafür eine Steigerung der Zahl der Sozialhilfeempfänger um 60 %. Eine solche Gesellschaft wollen wir GRÜNEN nicht, und ich bin mir sicher, dass die Mehrzahl der Menschen in diesem Lande so etwas auch nicht möchte. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Als nächste Rednerin hat Frau Abg. Oppermann für die CDU-Fraktion das Wort.

Frau Präsidentin,meine Damen und Herren! Frau SchulzAsche, ich finde es gut, dass Sie unseren Bundesparteitag in Leipzig zum Thema hier im Hessischen Landtag machen.

(Zuruf der Abg.Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Die Aussagen in Ihrem Antrag sind zwar vollkommen falsch. Das werde ich Ihnen später auch noch aufzeigen. Aber unser Bundesparteitag hebt sich wohltuend von den Ihrigen ab, besonders von dem der SPD, der wenige Wochen vorher in Bochum stattgefunden hat.

(Beifall bei der CDU – Petra Fuhrmann (SPD):Wir sind stolz darauf, dass wir uns abheben!)

Mutig, verantwortungsbewusst und zukunftsweisend – das ist das Signal, das von Leipzig ausgeht.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Das sind Attribute, von denen Sie, SPD und GRÜNE, doch nur träumen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Sie versuchen, mit den Rezepten aus dem letzten Jahrhundert das 21. Jahrhundert zu gestalten:

(Widerspruch bei der SPD)

Ausbildungsplatzabgabe, höhere Erbschaftsteuer,Vermögensteuer, erweiterte Kapitalertragsteuer, Blockade betrieblicher Bündnisse für Arbeit und eine Einheitskasse in der Krankenversicherung.

(Demonstrativer Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wann begreifen Sie endlich, dass mehr Staat weniger Wachstum und weniger Arbeit bedeutet?

(Beifall bei der CDU)

Sie schreiben in Ihrem Antrag von der „Abkehr von der bisherigen Position zur sozialen Marktwirtschaft“.

(Petra Fuhrmann (SPD): Ja, so ist es!)

Meine Damen und Herren, wir wollen auch in Zukunft soziale Sicherheit für alle. Deswegen wollen wir eine Sozialpolitik, die soziale Ordnungspolitik ist. Durch soziale Ordnungspolitik wollen wir die dauerhafte Absicherung großer Lebensrisiken gewährleisten. Wir wollen Eigenverantwortung und Eigenvorsorge stärken.Wir haben uns nicht von der sozialen Marktwirtschaft getrennt.

(Petra Fuhrmann (SPD): Doch!)

Wir sind stolz auf dieses Modell,

(Dr.Thomas Spies (SPD): Sie wissen doch gar nicht mehr, was das heißt!)

das vor über 50 Jahren von Ludwig Erhard eingeführt wurde, übrigens gegen heftigen Widerstand.

(Beifall des Abg. Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU))

Jetzt geht es daran, die soziale Marktwirtschaft zu erneuern und ihren Geist zu bewahren.Was war damals die Botschaft von der sozialen Marktwirtschaft? Das waren Arbeit und Wohlstand für alle. In den letzten fünf Jahren haben wir uns durch Ihre Politik in Berlin ziemlich weit davon entfernt.

(Beifall des Abg. Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU) – Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Das ist Geschichtsklitterung!)

Fünf Jahre Rot-Grün in Berlin bedeuten drei Jahre fast kein Wachstum, eine anhaltend hohe Arbeitslosenzahl.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Reden Sie einmal über Ihre Sozialpolitik!)

Darüber rede ich auch noch, Herr Kollege Frömmrich. Geduld, es kommt alles dran. – Fünf Jahre Rot-Grün in Berlin bedeuten wegbrechende Steuereinnahmen.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hört doch einmal auf mit diesen Textbausteinen!)

Und da kommen Sie her und sagen, wir würden uns von einer sozialen Gesellschaftspolitik abkehren?

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Na klar!)

Was sagen Sie den 4,5 Millionen Arbeitslosen mit ihren Familien? Wo ist da Ihre soziale Gesellschaftspolitik?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Arbeitsmarktpolitik ist in hohem Maße Gesellschaftspolitik. Arbeit zu haben bedeutet mehr als bloßes Geldverdienen. Klar, man muss seinen Lebensunterhalt davon bestreiten. Man will sich auch einmal etwas extra gönnen, in den Urlaub fahren und vieles mehr. Aber es bedeutet auch: Ich werde gebraucht. Es bedeutet Selbstwertgefühl, Teilhabe an der Gesellschaft.

Herr Kollege Spies, weil Sie gerade so lachen, sage ich Ihnen: Da sind wir mitten im Thema soziale Gesellschaftspolitik. Was sagen Sie denn den Millionen Rentnerinnen und Rentnern, die im nächsten Jahr zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine nominale Rentenkürzung hinnehmen müssen?

(Beifall des Abg. Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU) – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch falsch! Als die Pflegeversicherung eingeführt wurde,haben sie auch den halben Beitrag zahlen müssen!)

Ich rechne Ihnen das vor. Im nächsten Jahr hätten die Renten um 0,6 % angehoben werden müssen. Zusammen mit der Erhöhung des Beitragssatzes zur Pflegesicherung um 0,85 Prozentpunkte ergibt sich damit eine Rentenkürzung um 1,6 % bzw. rund 20 c monatlich.Wenn wir dann noch von einer prognostizierten Inflationsrate von 1,5 % ausgehen, entspricht dies einer realen Minusrunde in Höhe von ca. 3 %.

(Dr.Thomas Spies (SPD): Das habt ihr alles in Berlin beschlossen?)

Meine Damen und Herren, nach dem Eingriff in das Rentenanpassungsverfahren im Jahre 2000, bei dem den Rentnerinnen und Rentnern nicht einmal ein Kaufkraftausgleich gewährt wurde, werden die Renten damit endgültig von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt.

(Beifall des Abg. Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU))

Die gesetzliche Rente verkommt damit unter Rot-Grün mehr und mehr zu einer Leistung, die je nach Kassenlage des Bundeshaushalts gewährt wird.