(Boris Rhein (CDU): Ihre Qualität haben Sie uns lange genug vorgeführt! – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Qualität können Sie noch nicht einmal buchstabieren! Armes Hessen!)
Meine Damen und Herren, diese Landesregierung hat bis heute keine ausreichenden Schlüsse aus den internationalen Schuluntersuchungen gezogen und nur bruchstückhaft und von einer konservativen Bildungsideologie geprägt gehandelt. Ein Beispiel ist die Diskussion zur Einführung von Bildungsstandards. Vor der Einigung der Kultusministerkonferenz auf nationale Bildungsstandards – ich betone, wir finden die getroffene Regelung zwar im Hinblick auf einen Einigungsprozess begrüßenswert, bedauern aber, dass es keine gemeinsame Entwicklung von Mindeststandards geben soll – und vor der Beauftragung einer unabhängigen Qualitätsagentur hat sich Hessen mit einigen anderen Bundesländern auf einen Sonderweg begeben und im Schnellgang schulformbezogene Bildungsstandards verabschiedet. So ganz steht die Kultusministerin wohl auch jetzt noch nicht hinter der gemeinsamen Vereinbarung der Kultusminister. Auf der Internetseite des Ministeriums sind diese alten Bildungsstandards nämlich immer noch eingestellt und abrufbar.
Frau Kultusministerin, Sie müssen sich fragen lassen, ob Sie die Vereinbarung der Kultusministerkonferenz tatsächlich umsetzen wollen. Sie müssen sich fragen lassen, ob Ihre Lehrpläne, Ihre vergleichenden Tests und Prüfungen überhaupt mit diesen nationalen Bildungsstandards kompatibel sind.
Sie müssen sich auch fragen lassen, ob die Einführung von Bildungsstandards und starre Lehrpläne, wie Sie sie vorgegeben haben, nicht letztlich unvereinbar sind.
Leidtragende sind die Schulen, die mit widersprüchlichen und unausgegorenen Konzepten zu tun haben. Meine Damen und Herren, die hessischen Schulen und die Schulaufsicht wissen bis heute nicht, wie der Qualitätsentwicklungsprozess auf der Grundlage von Bildungsstandards gesteuert werden soll. Bildungsstandards und Tests sind nämlich lediglich Instrumente für und keine Ergebnisse von Qualitätsentwicklung, wie ich das bei Ihnen immer wieder heraushöre.
Die Qualität von Lehr- und Lernprozessen lässt sich nicht allein aus dem Unterrichtsangebot oder der Durchführung von Tests und Prüfungen ableiten. Qualitätskriterien sind gleichermaßen das didaktische Handeln, das Schulklima, die Betreuung und das pädagogische Klima einer Schule. Deshalb brauchen wir ein Evaluierungssystem, das die Erfassung dieser Bestandteile leisten kann und mit der Umsetzung der Bildungsstandards in Einklang bringt. Wir brauchen eine Neubestimmung der Aufgaben der Schulaufsicht, um über ein geregeltes Inspektionssystem die Entwicklung in den Schulen zu erfassen, aber
Andere Bundesländer sind uns auch hier um eine Nasenlänge voraus. So haben z. B. Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen Ende 2003 ein Modellprojekt zum niederländischen Inspektionssystem bereits abgeschlossen. Frau Ministerin, wir brauchen dazu auch keine neuen bürokratischen Strukturen im Ministerium.Wir brauchen das Zusammenspiel einer unabhängigen Qualitätsagentur, die für die Entwicklung von Verfahren verantwortlich zeichnet, mit der Aufsichtsebene der Staatlichen Schulämter.
Parallel dazu müssen die Schulen ein erweitertes Budgetrecht und eine größere Eigenverantwortung erhalten.Nur so lässt sich sicherstellen, dass sich die Qualitätsentwicklung an den Parametern ausrichtet, die die Situation einer Schule bestimmen. Jede Schule weiß selbst am besten, welche Schüler sie hat und welche Schwerpunkte sie bearbeiten muss, um eine bestmögliche Förderung zu erreichen.
Ein zentraler Baustein von Qualitätsentwicklung bleibt die längst überfällige Reform der Lehrerausbildung, eine Lehrerausbildung,die den neuen Aufgaben der Schule gerecht wird, die didaktische, pädagogische und diagnostische Ausbildungsanteile stärkt und einen höheren Praxisbezug hat. Wir brauchen eine Lehrerausbildung, die sich nicht primär an Schulformen orientiert, sondern die einen ganzheitlichen Berufsansatz vermittelt.
Frau Kultusministerin, an dieser Stelle wird die Außendarstellung dieser Regierung langsam, aber sicher peinlich. Spätestens seit PISA reden Sie von einer Reform der Lehrerausbildung. Vor nunmehr einem Jahr hat Ihre eigene Kommission einen Bericht zur Neuordnung der Lehrerausbildung vorgelegt, und Sie, Frau Ministerin, haben schnelles Handeln zugesagt. Es gab sogar schon Pressekonferenzen, die eine Gesetzesvorlage ankündigten. Inzwischen ist die Ankündigung einer „zeitnahen Vorlage“ der beliebteste Ausdruck dieser Kultusministerin dafür, dass sich nichts tut.
Nun versucht sogar der Ministerpräsident, durch Beschimpfen der Hochschulen vom Scheitern seiner Fachministerin abzulenken.
Lehrerbildung, Evaluation, Inspektion, Beratung, Bereitstellung notwendiger Ressourcen, Eigenverantwortung der Schulen und Umsetzung von Bildungsstandards – um mehr Bildungsqualität zu entwickeln, müssen alle diese Bausteine parallel realisiert werden, denn sie greifen ineinander und stehen nicht isoliert. In Hessen sind allenfalls Fragmente zu erkennen, die, für sich betrachtet, nicht den gewünschten Erfolg haben können.
Dort, wo Sie aktiv geworden sind, Frau Kultusministerin, verhindern Sie erfolgreich, dass unser Bildungssystem von PISA profitiert. Sie wollen mehr Qualität durch eine besondere Förderung von Leistungsspitzen. Wir wollen eine Förderung aller Begabungen in der Breite.
Wir wollen nämlich allen Kindern gleiche Bildungschancen geben. Wir werden durch PISA bestätigt, wenn wir fordern,dass jedes Kind individuell und optimal gefördert werden muss, um eine breite Grundbildung für alle zu erreichen.
Auch Spitzenleistungen werden von einem breiten Sockel aus eher erreicht als durch eine besondere Förderung von schmalen Spitzen. Sie wollen mehr Qualität durch eine möglichst frühzeitige Selektion. Um in allen Schulformen möglichst homogene Lerngruppen zu bilden, hat diese Kultusministerin im Laufe der Jahre differenzierte Selektionsinstrumentarien entwickelt: Querversetzung, schulformbezogene Lehrpläne, Aushöhlung der Förderstufen durch verbindliche, schulformbezogene fünfte Klassen, verbindliche Tests in den Grundschulen vor dem Übergang auf eine weiterführende Schule. Das sind nur einige Stichworte.
Die Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen wird systematisch erschwert und findet verstärkt von oben nach unten statt. In diese Reihe gehört auch das in der Vorbereitung befindliche Modell zur Verkürzung der Gymnasialzeit. Die vorgesehene Verkürzung der Mittelstufe wird die Durchlässigkeit unseres Systems weiter einschränken und Schüler der Realschule durch den früheren Beginn der zweiten Fremdsprache und die Gestaltung der Anforderungen erfolgreich an einem Wechsel in das Gymnasium hindern. Ganz nebenbei wird innerhalb der Regierungspartei wohl immer noch darüber diskutiert, aus einer verstaubten Ideologie heraus die kooperativen Gesamtschulen und die Förderstufen mit dieser so genannten Reform gänzlich zu eliminieren.
Frau Kultusministerin, es ist ohnehin fragwürdig, die Verkürzung der Gymnasialzeit isoliert herauszugreifen, ohne einen grundsätzlichen Gedanken an das gesamte System der elementaren Bildung – von den Kindergärten bis zum Ende der Schulzeit – zu verschwenden.Wer über eine Verkürzung der Schulzeit redet, muss auch Antworten geben, wie die frühkindliche Bildung ausgebaut und aufgewertet werden kann, wie der Übergang auf die Grundschule besser zu organisieren ist, welche Rolle die Ganztagsschule übernehmen kann und wie negative Bildungskarrieren von Kindern vermieden werden können.
Die Schulzeit zu verkürzen und all dies nicht zu berücksichtigen führt nicht zu höherer Qualität,sondern zu mehr Selektion. Mehr Selektion und fehlende Durchlässigkeit des Systems werden nicht dazu führen, Kindern bessere Bildungschancen zu geben. Auch hier sind Sie auf dem Holzweg – Sie, Herr Irmer, ganz besonders –, der aber in diesem Fall für die junge Generation leider zur Sackgasse wird.
Meine Damen und Herren, wir wollen Selektion abbauen und ein frühzeitiges Festlegen auf eine Schulform verhindern. Der Traum, über Bewertung, Noten und Tests Kinder im Alter von zehn Jahren auf einen bestimmten Bildungsabschluss festzulegen, ist spätestens seit der PISA
Untersuchung ausgeträumt. Die Vorstellung, homogene Lerngruppen seien leistungsfähiger, ist von der Realität und den PISA-Ergebnissen widerlegt. Der Weg zu mehr Qualität und besseren Bildungschancen geht nur über eine totale Entrümpelung unseres Schulsystems.
Ich komme bald zum Schluss. – Kinder brauchen mehr Förderung an unseren Schulen und mehr Chancen, ihre Leistungsfähigkeit gemeinsam zu entwickeln.Wir wollen, dass die Chancen eines nicht gegliederten Schulsystems ausgelotet werden und die Phase des gemeinsamen Lernens ausgedehnt wird.
Frau Ministerin, Ihre Schulpolitik ist in der Frage von Qualität und Unterrichtsversorgung durch die Anordnung des Ministerpräsidenten konterkariert worden. In der Frage der Qualität haben Sie selbst dafür gesorgt,dass fehlende Aktivität und konservative Bildungsideologie eine dringend notwendige Qualitätssteigerung unseres Bildungssystems verhindern. Ihr Begriff „Qualitätsgarantie“ hat gute Chancen, in die Vorschlagsliste für das Unwort 2004 aufgenommen zu werden. Eine aus purer Not gestrickte Regierungserklärung wird daran nichts ändern.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Gerade zum jetzigen Zeitpunkt, zu dem sämtliche Schulen und Schulämter in Hessen bis über beide Ohren damit beschäftigt sind, den Halbjahreswechsel am kommenden Montag vorzubereiten, verkündet die Kultusministerin uns den „sicheren Kurs ins zweite Halbjahr“.
Das Datum dieser Regierungserklärung – wir schreiben erst den 27. Januar – und ihr Titel zeugen von einer Missachtung der riesengroßen Arbeitsleistung – und das ist es wirklich – von Schulämtern und Schulen gerade in dieser Woche.
Auch die Ablenkung auf die Ergebnisse von IGLU täuscht darüber nicht hinweg. Die Darstellung der Erfolgsgeschichte der vierjährigen Regierungszeit aus CDU und FDP, in der alle diese Dinge – die Sie zu Recht als
Qualität bezeichnet haben – angefangen und angestoßen worden sind, täuschten nicht über das heutige Datum hinweg.