Das System ist wenig durchlässig – deswegen wird die Durchlässigkeit im Gesetzentwurf auch gestrichen –, die Zahl der Sitzenbleiber ist zu hoch,
und 10 % der Schülerinnen und Schüler stehen ohne Abschluss da. Was müsste eigentlich die Konsequenz, die Lehre aus diesen Ergebnissen sein?
Wir müssten das System durchlässiger machen, wir müssten die Kinder besser fördern, wir müssten die Qualität der Schulen und die Kompetenzen der Lehrer verbessern. Aber was tut diese Landesregierung?
Die Landesregierung untermauert durch das geplante Gesetz die selektive Wirkung des Bildungssystems, obwohl wir es uns eben nicht leisten können, Kinder zurückzulassen.Wissen Sie, warum die PISA-Siegerländer unter anderem so gut sind? – Weil sie der Meinung sind, dass sie kein Kind zurücklassen dürfen, weil sie die Bildungspotenziale ausschöpfen wollen.
(Ursula Hammann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN):Das ist wichtig! – Dr.Walter Lübcke (CDU): Kuschelpädagogik!)
Das hat mit „Kuschelpädagogik“ überhaupt nichts zu tun, sondern mit dem Glauben daran, dass man ein Schulsystem etablieren kann, das Kinder tatsächlich fördert und aus jedem Kind das Beste herausholt.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Mark Weinmeister (CDU): Warum haben Sie das nicht gemacht? – Weitere Zurufe von der CDU)
Wenn man Kinder nach so genannten Begabungen einkästeln kann, hat man immer die Begründung, dass es an der Begabung fehlt, und man kann damit die Mängel überdecken, die im Schulsystem liegen. Das dürfen und wollen wir nicht mehr zulassen. Wir müssen die Mängel aufdecken und das Schulsystem so gestalten, dass es durchlässig ist und die Kinder tatsächlich die bestmöglichen Abschlüsse erringen können.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf des Abg. Hugo Klein (Freige- richt) (CDU))
Das ist nämlich auch eine Frage der Bildungsgerechtigkeit, weil dann auch die Kinder aus sozial benachteiligten Schichten zum Zuge kommen, deren Eltern nicht permanent zu Hause Unterstützung geben können. Daran mangelt es insbesondere auch in Hessen.
Meine Damen und Herren, die Kultusministerin hat in den letzten vier Jahren immer wieder betont, besonders im letzten Jahr nach der IGLU-Studie, dass wir keine Debatte über Schulstrukturen brauchen.Nein,nur noch über die Qualität der Einzelschule sollten wir reden.
Aber das, was Sie mit diesem Gesetz vorhaben, führt zu einer solchen Zementierung der Schulstruktur, dass es auch auf die Inhalte durchschlägt und gerade die Kinder benachteiligt, deren Eltern ihnen keine ausreichende Unterstützung geben können. Auf diese subtile Art und Weise eröffnet die CDU wieder den Schulkampf.
Sie wollen zu einem Schulsystem zurück, wie es in den Fünfzigerjahren existierte, bei dem klar ist, wer auf die Hauptschule und wer auf die Realschule gehört und wer auf dem Gymnasium den Königsweg zum Abitur beschreiten kann.
(Hugo Klein (Freigericht) (CDU): Das glauben Sie doch selbst nicht! – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Die chaospolitische Sprecherin der GRÜNEN!)
Ich sage Ihnen von dieser Stelle aus ganz klar: Für uns gehören die Verbesserung der Unterrichtsqualität, die Weiterentwicklung der Schulstruktur und die Bildungsgerechtigkeit zusammen. In diesem Sinne werden wir uns auch weiterhin mit aller Energie für die Verbesserung dieser drei Merkmale einer gerechten Bildungspolitik einsetzen. – Danke schön.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mark Weinmeister (CDU): Bildungsgerechtigkeit mit Unterrichtsausfall? 100 Stunden Unterrichtsausfall und dann von Bildungsgerechtigkeit sprechen!)
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Irmer und Herr Weinmeister, zu Ihren Zwischenrufen: Es ist doch klar, dass wir ein unterschiedliches Bild von der Gesellschaft haben. Deshalb sind wir in unterschiedlichen Parteien, und deshalb streiten wir in unterschiedlichen Politikbereichen über unterschiedliche Inhalte. Aber dann muss man auch dazu stehen.
Man soll dann auch nicht, wie beim neuen Hessischen Schulgesetz, versuchen, das zu verschleiern. Darüber wollen wir heute diskutieren.
Ich finde es gut, dass wir heute sozusagen die nullte Lesung des Gesetzentwurfs haben;denn ich glaube,über das, was in diesem Gesetzentwurf steht, kann man gar nicht früh genug diskutieren. Man kann auch nicht früh genug darüber aufklären.Eigentlich könnte man damit die Hoffnung verbinden, dass das eine oder andere gar nicht in Kraft tritt. Angesichts der absoluten Mehrheit der CDU glaube ich aber, dass das eine Illusion ist.
Herr Kollege Irmer, in einer Demokratie bedeutet das, allen Menschen Bildung und damit den Erwerb von Wissen zu ermöglichen.Das heißt,einen chancengleichen Zugang zur Bildung zu ermöglichen, unabhängig von der sozialen, der kulturellen oder der regionalen Herkunft.
„Wissen ist Macht“ heißt auch, dass Wissen und der Zugang dazu die Grundlagen dafür sind, die eigene Zukunft selbstbestimmt in die Hand zu nehmen bzw. unseren Kindern dies zu ermöglichen. Es war die sozialdemokratische Bildungspolitik in den Siebzigerjahren, die es Arbeiter
kindern und Kindern aus ländlichen Räumen ermöglicht hat, das Abitur abzulegen und hinterher zu studieren.
Das, was wir bei Ihnen erleben, formuliert meine derzeitige Praktikantin, eine 19-jährige Abiturientin, folgendermaßen. Sie hat für eine Schülerzeitung einen Artikel über die hessische Bildungspolitik geschrieben. Die Überschrift hat sie selbst in die Worte gefasst: „Bildungspolitik in Hessen – back to the Fifties“. Ich kann nur sagen: Das Mädchen hat es kapiert.
Aus den Ergebnissen der PISA-Studie haben nicht alle in diesem Haus gelernt. Die CDU buchstabiert PISA wie folgt: Politik intensiviert soziale Auslese. – Das ist der eigentliche Skandal in Hessen.
Die Landesregierung gibt mit dem neuen Gesetz die Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen auf. Der Begriff Durchlässigkeit wird gestrichen, und Sie, meine Damen und Herren von der CDU, sprechen stattdessen nur noch von der „Anschlussfähigkeit“ der Schulformen. Die Durchlässigkeit ist aber das wesentliche Merkmal der Bildungsgerechtigkeit und des Offenhaltens von Bildungschancen.
Wer die Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen verhindert, verhindert auch, dass junge Menschen aufgrund einer positiven Entwicklung leistungsfähiger werden. Er verhindert, dass Kinder und Jugendliche bessere Schulabschlüsse machen, und er verbaut den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten auch später noch auszuloten und auszuprobieren. Er verbaut ihnen damit, ihre Zukunft selbstbestimmt in die Hand zu nehmen und sich die Entscheidung über ihre Lebenswege lange offen zu halten.
Wer von Leistung sowie von Bildungs- und Wissenschaftsstandorten redet, aber den Weg nach oben verbaut und ein Bildungssystem installiert, das weniger gut ausgebildete Menschen toleriert, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Sie machen in Bezug auf das Bildungssystem Folgendes. Sie schneiden bei der Leiter, die nach oben führt, die Sprossen heraus und schmieren die Rutschbahn nach unten gut ein. Das ist Ihre Maßgabe für die Bildungspolitik.
Meine Damen und Herren von der Union, indem Sie die Schulzeit am Gymnasium um ein Jahr verkürzen, setzen Sie Ihre Politik der sozialen Spaltung fort. Die Gräben zwischen den Schulformen werden weiter vertieft. Sie gefährden integrativ arbeitende Systeme in ihrem Bestand und schwächen den Gedanken der gemeinsamen Förderung.Die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen wird auf den Verbund von Haupt- und Realschule reduziert.
In der Mittelstufe erhöhen Sie den Leistungsdruck auf die Schülerinnen und Schüler. Gerade bei den Elf- bis 15-Jährigen, die mit ihrer Persönlichkeitsentwicklung stark beschäftigt sind, legen Sie noch einen Zahn zu. Dann dürfen
Sie sich nicht wundern, wenn es zu Schulangst und Schulversagen kommt. Querversetzung – das ist der Weg, den Sie beschreiten. Die Querversetzung vom Gymnasium in die Realschule und von der Realschule in die Hauptschule ist Ihre Antwort. Die Abiturquote wird dadurch tendenziell sinken. Das ist doch klar.
(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Nein! – Dr. Walter Lübcke (CDU): Sie müssen mir erst einmal erklären, warum das klar sein soll!)
Der Flexibilität und der Durchlässigkeit wird eine weitere Absage erteilt. Ich gebe zu, über eine Verkürzung der Schulzeit kann auch unter dem Anspruch auf Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit diskutiert werden. Aber eine Verkürzung der Schulzeit muss in die Reform des gesamten Schulsystems eingebettet sein.
Wir Sozialdemokraten haben mit dem Konzept der Ganztagsschule einen Weg vorgeschlagen, den Sie nicht beschreiten wollen. Wenn Sie an den Schulen Nachmittagsunterricht installieren wollen, ohne die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Kinder auch versorgt werden, entspricht das nicht unserem Konzept einer Ganztagsschule. Das wissen Sie genau.
Noch etwas zum Thema Spaltung. Mit Ihrem Gesetz bringen Sie auch die Förderstufen in Gefahr. Sie entziehen ihnen praktisch die Existenzgrundlage.Sie wollen erklärtermaßen keine Förderstufe. So schaffen Sie z. B. den Förderstufenleiter ab. Realistisch gesehen gibt es dann nur noch die Möglichkeit, zwischen Hauptschul- und Realschulniveau zu wechseln.