Protokoll der Sitzung vom 07.10.2004

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße Sie alle sehr herzlich mit einem fröhlichen Glückauf am dritten Plenartag und heiße Sie willkommen.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hauses fest.

Ganz besonders herzlich begrüße ich den neuen Studiochef des Hessen-Fernsehens, Herrn Andreas Clarysse, auf der Tribüne. Herzlich willkommen. Wir freuen uns, dass Sie hier sind.

(Allgemeiner Beifall)

Zur Tagesordnung: Noch offen sind die Punkte 6 bis 21, 23 bis 27, 29 bis 36, 40 bis 42, 44 bis 46, 49 bis 50, 52 bis 60, 62 bis 70 und 73 bis 74.

Zum Ablauf der Sitzung: Wir tagen heute bis 18 Uhr bei einer Mittagspause von einer Stunde. Wir beginnen mit den drei Anträgen betreffend eine Aktuelle Stunde, für die jeweils eine Redezeit von fünf Minuten je Fraktion vereinbart ist. Anschließend wird der Dringliche Entschließungsantrag der Fraktion der SPD betreffend CDU gefährdet sozialen Frieden, Drucks. 16/2757, aufgerufen. Eine Aussprache hierzu wird es nicht geben.Danach kommen der Antrag der FDP-Fraktion zum Thema Kultusministerkonferenz mit der Drucks. 16/2733 sowie Tagesordnungspunkt 74, Dringlicher Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 62 auf:

Antrag der Fraktion der CDU betreffend eine Aktuelle Stunde („Europa nicht überfordern – keine Vollmitglied- schaft für die Türkei!“) – Drucks. 16/2747 –

Das Wort hat Herr Kollege Gotthardt.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Um es gleich am Anfang in der notwendigen Deutlichkeit zu sagen: Die Türkei gehört derzeit weder geographisch noch kulturell und auch nicht geistig zu Europa. Ich glaube, die Fairness gebietet es, dass man das offen und deutlich sagt.

(Beifall bei der CDU)

Dies schließt nicht aus, dass man mit einem befreundeten Land – und darum handelt es sich bei der Türkei – eine besondere Partnerschaft pflegt und sich bemüht, die Türkei besonders einzubinden. Dies ist im Rahmen der NATO in den vergangenen Jahren auch stets sehr erfolgreich geschehen.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Irmer gehört geistig auch nicht zu Europa!)

Ich glaube allerdings, dass die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, wie sie gestern in Brüssel beschlossen worden ist, der falsche Weg und das falsche Signal ist. Denn es reicht nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren, insbesondere von der SPD, wenn Herr Verheugen glaubt, sich ein historisches Denkmal in der Türkei setzen zu müssen. Nein, der Beitritt müsste auch funktionieren, und die Zusammenarbeit muss funktionieren. Dort gibt es genügend Bedenken – nicht zuletzt vonseiten des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt,der gesagt hat,ein Scheitern

der EU oder eine Schrumpfung zu einer bloßen Freihandelszone sei nicht mehr undenkbar. Europa ist mehr als eine Freihandelszone.

(Beifall bei der CDU)

Lassen Sie mich anhand von fünf Punkten deutlich machen, warum ich glaube, dass das der falsche Weg ist.

Erstens. Ich glaube, dass mit der Entscheidung von gestern das Vertrauen der Menschen in die Politik einmal mehr geschädigt wurde. Denn für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen – nicht erst für die Aufnahme in die EU – gelten die Kopenhagener Kriterien. Noch im März 2004 hat das Europäische Parlament beschlossen, dass diese Kriterien von der Türkei nicht erfüllt werden. Insofern wundern sich die Bürger zu Recht, dass jetzt trotzdem mit Verhandlungen begonnen wird.

(Beifall bei der CDU)

Wenn das Zeichen von gestern darin besteht, dass solche Kriterien und Zusagen der Politik nichts mehr gelten, dann ist das ein falscher Weg. Damit verhält es sich genauso wie mit der Aufweichung der Stabilitätskriterien des Euro. Hier werden falsche Zeichen gesetzt. Übrigens werden auch in der Türkei falsche Hoffnungen geweckt, die dann vielleicht enttäuscht werden.

(Beifall bei der CDU)

Zweitens. Dieser Punkt betrifft die Wertegemeinschaft. Wer sich anschaut, wie schwer sich die Türkei weiterhin mit Menschenrechten oder mit der Strafrechtsreform tut, wird erkennen, dass die Türkei eben nicht zu Europa gehört. Es reicht aus unserer Sicht nicht, wenn die Türkei feststellt,es würde nicht mehr systematisch gefoltert,wohl aber noch gefoltert. Das kann nicht sein.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Ein Land, das so lange darüber diskutieren muss, ob Ehebruch ein strafrechtlicher Tatbestand ist oder nicht,gehört eben nicht zur Europäischen Union – weder zur Wertegemeinschaft noch zur Rechtsgemeinschaft.

(Beifall bei der CDU – Zuruf der Abg. Petra Fuhr- mann (SPD))

Gerade weil Sie, Frau Kollegin Fuhrmann, sich jetzt so aufregen, möchte ich sagen: Ich bin erstaunt, dass im Hessischen Landtag, genau wie im Bundestag und an anderer Stelle, von Ihnen bei jeder drohenden Abschiebung in die Türkei immer gesagt wird: Um Gottes willen, das geht nicht, denn in der Türkei wird gefoltert. – Aber jetzt wollen Sie dieses Land in die Europäische Union aufnehmen. Das kann nicht sein.

(Beifall bei der CDU)

Drittens. Der Beitritt der Türkei wäre wirtschaftlich nicht zu schultern.Die Fachleute gehen davon aus,dass der Türkei in etwa eine Summe von 45 Milliarden c pro Jahr zustünden. Was das für Deutschland bedeutet, kann sich jeder vorstellen. Selbst wenn die Wirtschaft – die hessische sowie auch die deutsche Wirtschaft – einen Beitritt durchaus begrüßen würde, was ich unter wirtschaftlichen Aspekten verstehen kann, heißt das noch nicht, dass das ein Kriterium ist. Eines ist doch klar: Die Europäische Union ist eben keine Wirtschaftsgemeinschaft mehr. Die Europäische Union ist mehr. Wenn die Begrüßung durch die Wirtschaft ein Aufnahmekriterium wäre, was würden wir dann tun, wenn Russland die Aufnahme begehrt – ein Land, das wirtschaftlich auch auf einem guten Weg ist?

Oder wie wäre es mit Israel oder den nordafrikanischen Ländern? Die Zustimmung der Wirtschaft allein kann also kein Kriterium sein. Die Europäische Union ist mehr als ein Wirtschaftsgebiet.

Viertens. Ich glaube, wir dürfen Europa auch nicht überfordern. Wenn man sieht, in welcher wirtschaftlichen und geistigen Krise sich Deutschland derzeit befindet und wie schwer sich die Bundesregierung und einige Landesregierungen tun, Deutschland wieder auf Vordermann zu bringen, dann muss man feststellen, dass am 1. Mai bereits zehn neue Länder zur Europäischen Union hinzugekommen sind. Wir müssen doch diesen Weg erst einmal bewältigen, bevor wir über die Aufnahme eines Landes mit derzeit 60 Millionen Einwohnern nachdenken können. Deswegen wäre ein Beitritt der Türkei meiner Meinung nach zu viel.Wir müssen auch zusehen,dass die Menschen in Europa den Prozess konstruktiv begleiten und nachvollziehen können.

Herr Kollege Gotthardt, Sie müssen zum Schluss kommen.

Herr Präsident, mit folgendem Punkt komme ich zum Schluss.

Fünftens. Es gibt sinnvolle Alternativen zu einem Beitritt. Das Modell der privilegierten Partnerschaft macht deutlich, dass wir der Türkei helfen können. Wir können sie mit einbeziehen und sie unterstützen. Aber es muss nicht automatisch ein Beitritt sein.

(Beifall bei der CDU)

Jetzt komme ich tatsächlich zum letzten Satz. Ich finde, der Staat sollte sich nicht anders verhalten, als es Privatmenschen tun. Insofern möchte ich ein Beispiel aus dem Privatleben anführen. Man kann Freunde haben – gute Freunde und schlechte Freunde.Aber selbst gute Freunde gehören nicht automatisch zur Familie. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU – Zuruf des Abg. Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Vielen Dank. – Das Wort hat der Kollege von Hunnius, FDP-Fraktion.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union ist auf keiner der beiden Seiten eine Angelegenheit ideologischer Heißsporne. Das gilt sowohl für die Befürworter als auch für die Gegner einer Mitgliedschaft.

(Beifall bei der FDP)

Wir brauchen eine nüchterne Abwägung,bei der wir überlegen, unter welchen Bedingungen beide Partner, sowohl die Türkei als auch die Europäische Union, Vorteile haben. Einen Beitritt kann es nicht geben, wenn nur einer

der beiden Partner, etwa die Türkei, einen Vorteil darin sieht.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Wenn wir dies abwägen, stellen wir fest, dass zurzeit beide Seiten nicht reif für einen Beitritt der Türkei sind.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Die heutige Türkei könnte unter keinen Umständen der heutigen Europäischen Union beitreten.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Sowohl in der Türkei als auch in der Europäischen Union müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Diese Voraussetzungen will ich noch einmal aufzählen.

Erster Punkt. Aufseiten der Türkei sind die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen: im Wesentlichen die Einführung der Marktwirtschaft, eine rechtsstaatliche Demokratie und die Umsetzung des so genannten Acquis communautaire, also des Rechtsbestands der Europäischen Union. Darüber hinaus muss die Türkei die Werte, die die Europäische Union festgeschrieben hat, nicht nur anerkennen, sondern auch in ihrem praktischen Handeln umsetzen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Festgeschrieben sind sie in Art. 1 Abs. 2 des Entwurfs für einen Verfassungsvertrag. Auch diese Werte will ich noch einmal aufzählen: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit – auch für die Kurden –, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte, Pluralismus, Toleranz gegenüber Minderheiten, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung. Diese Werte muss die Türkei anerkennen und umsetzen.Für die wirtschaftlichen Voraussetzungen gilt das ohnehin.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das gilt aber beispielsweise auch für Rumänien!)