Die Hessische Verfassung trat drei Jahre vor dem Grundgesetz in Kraft. Deshalb enthält sie einen umfangreichen, 63 Artikel umfassenden Teil, der sich ausschließlich mit den Grundrechten beschäftigt. Sie stellt damit in besonderer Weise, immer aus der damaligen Sicht zu verstehen, den Menschen und nicht den Staat in den Mittelpunkt der Verfassung.
Nach dem In-Kraft-Treten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 wurden viele der hessischen Regelungen überlagert. Praktische Bedeutung hat dieser Teil unserer Hessischen Verfassung nur noch durch die so genannte Doppelbeschwerde, nämlich die Anrufung des Staatsgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts im Falle der Verletzung von in unserer Verfassung garantierten Grundrechten. Nicht überlagernd und damit prägend sind die Regelungen unserer Verfassung im Wege des Schul- und Hochschulrechts, der Landschafts- und der Denkmalpflege und schließlich auch des Staatskirchenrechts. Natürlich sind einige Regelungen unserer Verfassung – ich füge hinzu: Gott sei Dank – spätestens durch das In-Kraft-Treten des Grundgesetzes unwirksam geworden. Papierform haben, wie bekannt,Art. 21 Abs. 1 Satz 3, die Todesstrafe,Art. 29 Abs. 5, das Verbot der Aussperrung, oder gar Art. 41, die normierte Sozialisierung von Banken und der Bergbauund Stahlindustrie.
Diese Artikel sind seit der Einführung des Grundgesetzes mit seinem generellen Vorrang gegenüber den Landesverfassungen nur noch hessische Geschichte.
Aktuell wie eh und je ist aber der Art. 65 unserer Verfassung. Hier wird die republikanische Staatsform als das grundlegende Prinzip einer Gemeinschaft gleicher und freier Menschen und zum Schutz der Menschenwürde definiert.Art. 65 – der Hinweis sei mir erlaubt – ist selbst bei einer grundlegenden Änderung unserer Verfassung juristisch unantastbar. Die Verfassungsväter und -mütter haben sich klar für die vom Volk ausgehende Staatsgewalt in Form einer repräsentativen Demokratie, also für uns, den Landtag, als gesetzgebendes Organ ausgesprochen.
Dabei – das betone ich ganz besonders auch hinsichtlich der Ausführungen meines Vorredners – haben die damaligen Architekten unserer Verfassung trotz der damals noch frischen Erfahrung der Massenmanipulation das Prinzip der repräsentativen Demokratie durchbrochen. Unsere Verfassung kennt – anders als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland – immerhin plebiszitäre Elemente. Die mögen manchem nicht weit genug gehen, aber die Art. 123 und 124 regeln z. B. die Mitwirkung des Volkes bei Verfassungsänderungen.
Das Volk beschließt endgültig über Änderungen der Verfassung. Art. 124 regelt die so genannte Volksgesetzgebung. Danach können 3 % der stimmberechtigten Bürger uns, den Hessischen Landtag, durch ein Volksbegehren auffordern,ein Gesetz zu erlassen,zu ändern oder gar aufzuheben. Würden wir dem nicht nachkommen, eröffnet unsere Verfassung bereits heute die Möglichkeit eines Volksentscheids. Natürlich werden wir in der Diskussion die Frage beantworten müssen, mit welchen Quoren ein möglicher Volksentscheid zum Erfolg geführt werden könnte. Den einen erscheint unser nun über 56 Jahre gültige Quorum als zu hoch, den anderen z. B. das Quorum in der Bayerischen Verfassung als zu niedrig.
Auch unsere Verfassung ist im Laufe der Zeit nicht unverändert geblieben. Sie wurde viermal geändert und zweimal ergänzt.
Aber – auch diese Frage wird sich uns stellen – trauen wir uns zu, das zu machen, was unsere Kolleginnen und Kollegen seit mehr als 50 Jahren nicht getan haben oder nicht tun wollten? Trauen wir uns zu, zu bewerten, welche von uns nicht zu steuernden Ereignisse Einfluss auf die letztlich verfassunggebende Entscheidung der Menschen haben können?
Mit einem Federstrich hätte in den vergangenen Jahrzehnten die Streichung des Art. 21 über die Todesstrafe, der nur noch auf dem Papier steht, vollzogen werden können. Warum hat man das nicht gemacht? Sind wir bereit und willens, eine gänzlich neue, schlanke, moderne Verfassung mit einem ehrlichen und daher dicken Verweis auf das Grundgesetz zu machen? Bleibt es bei dem,was in unserem Land seit 56 Jahren galt und mit dem wir ausgekommen sind, oder trennen wir uns partiell von dem Alten und Überholten in unserer Verfassung und ergänzen sie, angepasst an die Verfassungs- oder Lebenswirklichkeit? In letzterem Fall wird sich sogar die Frage stellen: Machen wir das en bloc oder, wie es einige bei der letzten Verfassungsänderung im vergangenen Jahr gefordert haben, in einer Multiple-Choice-ähnlichen Einzelabstimmung?
Meine Damen und Herren, wir alle sind uns in der letzten Legislaturperiode darin einig gewesen,dass wir uns mit all diesen Fragen beschäftigen wollen. Ich habe aus Zeitgründen nur einige wenige aufgeworfen. Das sind Fragen über Fragen, die nach Auffassung der CDU-Fraktion keinesfalls im Parteigezänk untergehen oder gar durch Klientelbefriedigung beantwortet werden sollten.
Dazu – das sage ich sehr bewusst – ist unsere alte, historische, aber nicht, wie sie vor kurzem bezeichnet wurde, antiquierte Verfassung viel zu wertvoll.
Genau deswegen beantragt die CDU-Fraktion, diesen Antrag an den Hauptausschuss des Hessischen Landtags zu überweisen mit der Bitte, einen gemeinsamen parteiübergreifenden Beschlussvorschlag für das Plenum zu erarbeiten. Im Einzelnen soll dem Hauptausschuss die Aufgabe zufallen, sich über das gemeinsame Vorgehen zu verständigen und einen fraktionsübergreifenden Antrag auf Einsetzung einer Enquetekommission zu formulieren,der den Arbeitsauftrag, die Besetzung und einen überschaubaren Zeitrahmen definiert. Wir von der CDU-Fraktion meinen, dies ist der einzig richtige, unserer Verfassung angemessene Weg, sich mit diesem für unser Land so einzigartigen Thema auseinander zu setzen.
Eine Verfassung kann nur in einem großen Konsens geändert werden. Sie darf nicht zwischen Zeitgeist und parteitaktischen Überlegungen aufgerieben werden.
Wir von der CDU-Fraktion werden uns in unserem Handeln an dieser Maßgabe orientieren. – Ich danke Ihnen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Vorab: Wir stimmen der Überweisung des Antrags zu. Wir stimmen auch zu, dass eine Enquetekommission eingesetzt werden soll, und, Herr Wintermeyer, ich glaube, es macht sehr viel Sinn, dass das parteiübergreifend in einem Konsens erreicht wird.
Eine Prämisse der nun in Gang gesetzten Diskussion muss allerdings für alle Beteiligten gelten: Unsere Verfassung hat sich bewährt.
Sie ist in ihren wesentlichen Grundsätzen und Überzeugungen zu schützen und zu erhalten. Dies muss weiterhin die vornehmste Pflicht und die Aufgabe aller Staatsorgane, der Parteien und aller gesellschaftlichen Interessengruppen bleiben.Wir Hessen dürfen auf diese Verfassung und auf die Geschichte stolz sein, die unser Land seit 1946 auf der Grundlage dieser Verfassung erlebt hat. Nie zuvor in der Geschichte dieses Landes waren die Menschenrechte über einen so langen Zeitraum geschützt. Nie zuvor waren Freiheit, Gerechtigkeit, demokratische Mitwirkung und Rechtsstaatlichkeit die Grundlage menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens.Deshalb gilt es, dafür zu sorgen, dass diese Erfahrungen auch weiterhin die Grundlage bleiben.
Herr Wintermeyer hat zu Recht auf die Genese und den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Verfassung hingewiesen. Sie war eine Antwort auf die leidvollen Erfahrungen mit dem Naziterror. Die Unmenschlichkeit eines autoritären Herrschaftssystems hat die Grundüberzeugungen der Männer und Frauen geprägt, die unsere Verfassung in die bis heute geltende Form gegossen haben.
Bei aller Möglichkeit, aber auch Notwendigkeit,Teile der Verfassung zu reformieren, darf niemand – ich gehe davon aus, es wird auch niemand – an den Grundlagen und an den geistigen Grundsätzen dieser Verfassung rütteln. Die Erfahrungen des letzten Jahrhunderts müssen Geschichte bleiben. Sie dürfen sich nicht wiederholen. Die Verfassung ist dabei das kostbarste Gut, das wir haben.
Als Grundlage gehören dazu das Menschenbild, das den Grundsätzen zugrunde liegt, sowie das Verständnis von staatlicher Macht und deren Kontrolle. Ich ergänze – auch das wird spannend bleiben –: Es geht nicht nur um staatliche Macht, sondern auch um wirtschaftliche Macht sowie um deren Konzentration und Kontrolle.
Da wir aber auch wissen, dass Verfassungsnormen und Verfassungswirklichkeit nicht allzu sehr auseinander klaffen dürfen – geschichtliche Prozesse haben nun einmal wesentliche Veränderungen gebracht –, wird sich die SPD einem Diskussionsprozess stellen. Zu einer lebendigen Demokratie gehört eine gelebte Verfassung, und die Diskussion in einer solchen Enquetekommission kann gerade dazu beitragen, den Wert der Grundsätze unserer Verfassung erneut in die Köpfe und Herzen vieler unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger zu tragen. Die Mitwirkung an der Diskussion um diese Reform ist ausdrücklich erwünscht. Sie entspricht dem Geiste dieser Verfassung.
Ich möchte auf einige wenige Reformnotwendigkeiten zu sprechen kommen, die die Enquetekommission der letzten Legislaturperiode herausgearbeitet und uns – wenn man so will – für die neue Legislaturperiode als Aufgabe gestellt hat.
Erstens. Wir brauchen eine Stärkung des Landesparlaments.Im Laufe unserer hessischen Geschichte – auch der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland insgesamt – haben sich die Machtverhältnisse zwischen Parlament und Regierung immer mehr zugunsten der Exekutive und auf Kosten der Legislative verschoben.
Wir müssen gemeinsam darüber nachdenken, wie wir die Mitwirkung des Landtags bei der Willensbildung auf der europäischen Ebene und damit auch auf der Bundesebene rechtlich neu gestalten und praktisch organisieren.
Ein vereinigtes Europa war 1946 möglicherweise eine großartige Vision der Männer und Frauen des Grundgesetzes, die aber keinen Niederschlag in der Verfassung finden konnte. Dies ist sicherlich nachzuholen.Andere Länder – ich verweise auf Baden-Württemberg – sind weiter gegangen und haben entsprechende Formen der Mitwirkung in die Verfassung geschrieben.
Das Gleiche betrifft die Willensbildung im Bundesrat. Auch hier ist Reformbedarf angesagt. Auch hier sind die Rechte des Parlaments zu stärken.Das Gleiche gilt für die Beteiligung des Landtags bei Staatsverträgen, bei Verwaltungsabkommen, bei den Beratungen der Ergebnisse der Bund-Länder-Kommission, bei Fachministerkonferenzen und bei vielem mehr.
Ich plädiere sehr dafür, die Zuständigkeiten der europäischen Ebene, des Bundes und der Länder klarer zu definieren.In den Zusammenhang gehört auch,darüber nachzudenken, ob eine Steuergesetzgebungskompetenz Sinn macht. Ich glaube, sie macht Sinn, um klare Zuständigkeiten zu definieren, Verantwortlichkeiten zu regeln und
Das wesentliche Merkmal der parlamentarischen Demokratie ist die Rolle der Opposition. Die parlamentarische Demokratie lebt gewissermaßen von diesem wesentlichen Verfassungsorgan, weil Regierungsbildung und Regierungshandeln durch das Parlament ergänzt werden. Deshalb ist auch die besondere Qualität der Opposition als wesentliches Merkmal in der Verfassung zu definieren.
Herr Dr. Jung, das lässt sich aus der Opposition heraus natürlich viel flotter formulieren als aus der Regierungsverantwortung heraus.
Aber – dafür plädiere ich sehr – hier ist das Parlament gefragt, und erst in letzter Linie geht es um das Denken an ein gemeinsames Regierungshandeln. Hier geht es um wesentliche Merkmale der parlamentarischen Demokratie. Sie ist das Herzstück dieser Verfassung.
Herr Al-Wazir, ich gehe nicht auf die von Ihnen genannten Reformaspekte ein, meine allerdings, dass sich diese Themen im Verlaufe einer Diskussion entwickeln müssen und dass man mit einem solchen Katalog sehr sensibel umgehen muss.
Eine Verfassung regelt Grundsätzliches. Sie darf nicht eine Geschäftsordnung von gewissermaßen besonderer Qualität sein. Das wäre zu wenig.
Ich freue mich auf spannende Diskussionen. Ich denke, dass wir im Bereich der Wirtschaftsdemokratie einiges miteinander diskutieren müssen. Die Verfassung formuliert nicht nur die Kontrolle politischer Macht,sondern sie formuliert auch, dass wirtschaftliche Macht und Konzentration kontrolliert und demokratisch gestaltet werden.