Protokoll der Sitzung vom 08.05.2003

Ich kann mich gut erinnern, dass 1996, anlässlich des 50. Jahrestages des In-Kraft-Tretens der Hessischen Verfassung, im Rahmen der Frankfurter Tage der Rechtspolitik ein sehr hochkarätig besetztes Podium über die Frage „Verfassungswirklichkeit und Verfassung des Landes Hessen“ debattiert hat und dort von vielen gesagt worden ist – immer verbunden mit dem Wort „eigentlich“ –: Eigentlich müsste man an eine Gesamtüberarbeitung der Hessischen Verfassung herangehen.

Wir haben in diesem Parlament schon des Öfteren darüber diskutiert, meistens anlässlich von beantragten Einzeländerungen der Hessischen Verfassung, dass wir eine Gesamtüberarbeitung der Hessischen Verfassung ins Auge fassen sollten.

Wir als GRÜNE sind der Meinung, dass wir zwar in den letzten zwölf Jahren öfter in Einzelpunkten über Verfassungsänderungen abgestimmt haben – Stichworte wie Direktwahl, Konnexität, Sport oder auch Verlängerung der Wahlperiode –, dass wir allerdings mit der Gesamtreform der Verfassung nicht ernst gemacht haben, was unserer Meinung nach ein Fehler ist. Deswegen waren wir der Meinung, dass wir gleich zu Beginn der Wahlperiode beantragen sollten, eine Enquetekommission einzusetzen, die diesem Parlament Vorschläge zur Beratung und Beschlussfassung vorlegen soll.

In der letzten Periode haben wir an mehreren Punkten – Stichwort Volksentscheide, Konnexität, Sport und Wahlperiode – über die Frage debattiert, ob die Verfassung angesichts ihrer 55-jährigen Geschichte noch der Realität des Landes Hessen entspricht oder nicht. Manche haben sich mit etwas mehr, manche mit etwas weniger Begeisterung dafür ausgesprochen, dass man an diese Gesamtreform der Verfassung herangehen soll.

Meine Damen und Herren, die Hessische Verfassung hat bei der Entwicklung des Landes Hessen eine sehr positive Rolle gespielt.Wir sind der Meinung – und wir haben den Respekt vor dem historischen Wert der Verfassung –, dass es gerade dieser historische Wert der Verfassung gebietet, dass man an den grundsätzlichen Werteentscheidungen des Verfassungsgebers aus dem Jahre 1946 festhalten kann, die sich in der Verfassungswirklichkeit bewährt haben.

Allerdings gibt es überkommene Regelungen, die verändert werden müssen oder schlicht gestrichen werden sollten,um eine Fortentwicklung auch der Verfassung unseres Bundeslandes zu ermöglichen. Wir als GRÜNE sehen dort vordringliche Aufgaben. Eine der vordringlichen Aufgaben ist es, den Bürgerinnen und Bürgern mehr Mitsprache durch eine Erweiterung der direkten Demokratie zu ermöglichen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In der Hessischen Verfassung ist wie in allen Landesverfassungen die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheiden vorgesehen. Allerdings müssen wir feststellen, dass seit 1946 noch kein einziges Volksbegehren, noch kein einziger Volksentscheid, der aus der Bürgerschaft kam, stattgefunden hat.

(Michael Boddenberg (CDU): Das stimmt nicht! – Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Es gab einmal das Volksbegehren zur Startbahn West, das an formalen Gründen gescheitert ist, Frau Wagner. Es gab allerdings in den Sechzigerjahren – ich habe mich damit sehr eingehend beschäftigt – sogar einen Vorstoß der CDU betreffend Schulpolitik, wo noch nicht einmal eine Volkspartei wie die CDU es geschafft hat, in den Fristen, die die Verfassung gebietet, und mit den Quoren, die die Verfassung setzt, die erforderlichen Mehrheiten zustande zu bringen.Das deutet darauf hin,dass die Quoren,die für Volksbegehren und Volksentscheide vorgesehen sind, dass die Fristen, die vorgesehen sind, schlicht und einfach dazu führen, dass es Instrumente gibt, die in der Realität nicht angewandt werden können. Deswegen gebietet es diese Erfahrung, hier zu Veränderungen zu kommen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren,wir sind der Meinung,dass das Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen in die Hessische Verfassung aufgenommen werden muss, nach

dem es auch auf Bundesebene in der Verfassung verankert worden ist.

Wir sind der Meinung, dass es, gerade wenn man sich die Entwicklung der Bundesländer und des Bundes seit 1946 betrachtet, zur Stärkung des Föderalismus notwendig ist, auch in der Verfassung die Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlamentes auf bundesstaatlicher Ebene neu zu definieren, weil alle Landesregierungen, unabhängig welcher Couleur,im Bundesrat ein Eigenleben entwickeln und die Landesparlamente an diesem Punkt wenig zu sagen haben. Auch da sind wir der Meinung, dass wir überlegen müssen, was sich seit 1946 verändert hat, und die Verfassung an diesem Punkt auf die Höhe der Zeit bringen müssen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, 1946 konnte von der fortschreitenden europäischen Einigung in der Verfassung des Landes Hessen naturgemäß noch keine Rede sein. Wir sind der Meinung, dass wir die Rolle der Regionen in der europäischen Einigung auch in der Verfassung thematisieren sollten, weil die Regionen in einem zusammenwachsenden Europa eine größere Relevanz bekommen müssen und dies auch in der Verfassung des Landes Hessen seinen Niederschlag finden muss.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir glauben, dass sich die Enquetekommission auch mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen seit der Verabschiedung der Verfassung im Jahre 1946 auseinander setzen muss. Eine Regelung wie die Todesstrafe hat in einer modernen Verfassung nichts verloren, auch wenn sie in der Praxis seit 1949 durch das Grundgesetz abgeschafft worden ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch die Tatsache, dass in der Hessischen Verfassung noch steht, dass Angehörige der vor 1918 regierenden Häuser nicht Mitglieder der Hessischen Landesregierung sein können, hat zwar in der Praxis keine Relevanz, wie man an Justizminister von Plottnitz sehen konnte. Allerdings lässt es sich nur noch aus der Weimarer Verfassung erklären, dass so etwas in der Verfassung des Landes Hessen steht. Es ist für jemanden, der sich nicht mit der Verfassungsgeschichte in Deutschland auskennt und die Hessische Verfassung in die Hand nimmt, völlig unverständlich.Auch dies ist unserer Meinung nach in der Hessischen Verfassung entbehrlich, weil durch die Wirklichkeit im Jahre 2003 erledigt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir sind der Meinung – die beiden genannten Beispiele zeigen das ganz deutlich –, dass eine Verfassung mit ihren grundlegenden Werteentscheidungen aus sich selbst heraus für alle Bürgerinnen und Bürger verständlich sein muss, ohne dass Sie das Grundgesetz oder ein dickes Buch mit erklärenden Gerichtsentscheidungen neben diese Verfassung legen müssen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der FDP)

Genau das ist die Aufgabe, die diese Enquetekommission erfüllen muss. Wir müssen überlegen, wie wir in dieser Enquetekommission die Verbesserung der Gleichstellung und der Gleichberechtigung von Frauen und Männern verankern.Wir müssen uns Wege ausdenken und gemeinsam daran arbeiten, dass wir Formulierungen finden, die

die Stärkung der Rechte von Personen, die in familiärer Gemeinschaft Kinder erziehen oder für andere sorgen, berücksichtigen.Wir sind der Meinung, dass auch die Einbeziehung aller auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften in den Schutz der staatlichen Gemeinschaft, die Aufnahme der Kulturförderung als Staatsziel, die Verbesserung der Beteiligung junger Menschen am politischen Prozess und last, but not least die Verankerung des Tierschutzes auch in der Hessischen Verfassung ein Gebot der Stunde sind.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen, dass am Ende der Arbeit dieser Enquetekommission eine Verfassung vorliegt, die mehr Demokratie ermöglicht, die mehr Chancegleichheit bietet, die den Föderalismus stärkt und die auf der Höhe der Zeit ist. Wenn ich „Höhe der Zeit“ sage, dann meine ich nicht etwa „Höhe des Zeitgeistes“.Es ist natürlich klar,dass die Zustimmung zu einer Verfassung eine grundlegende und auf Dauer angelegte Entscheidung ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Herr Präsident, als ich mit meiner Rede begonnen habe, saß auf Ihrem Stuhl noch eine Präsidentin. Deshalb war ich etwas überrascht, als ich jetzt eine männliche Stimme hinter mir hörte.

(Heiterkeit)

Sie sind aber nicht geschockt, oder?

(Heiterkeit – Jörg-Uwe Hahn (FDP): Was soll er denn jetzt sagen?)

Nein, Herr Präsident. – Wir glauben, dass wir in diesem Prozess ein Höchstmaß an Transparenz und Mitwirkungsmöglichkeiten für die hessischen Bürgerinnen und Bürger gewährleisten müssen. Wir dürfen nicht nur Sachverständige einbinden, sondern müssen auch den „von außen“ kommenden Sachverstand zulassen. Wir verstehen unseren Antrag als ein Angebot an die anderen Fraktionen, zu einem gemeinsamen Prozess zu kommen, an dessen Ende hoffentlich eine neue, eine gute, eine bessere

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Modernere!)

und modernere Hessische Verfassung steht, ohne dass wir die grundlegenden und bewährten Werteentscheidungen von 1946 über Bord werfen. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Herr Kollege Al-Wazir, ich danke auch im Namen meiner Vorgängerin für Ihren Beitrag.

(Heiterkeit)

Jetzt hat Herr Abg. Wintermeyer für die CDU-Fraktion das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Was haben wir gerade vom Kollegen Al-Wazir gehört? Wir haben von Themen gehört, über die wir alle – damit meine ich alle im Hessischen Landtag vertretenen Fraktionen – schon seit Jahren in regelmäßigen Abständen diskutieren. Wir haben gehört, dass unsere Verfassung nicht mehr in allen Teilen aktuell ist.Wir haben gehört,dass einiges verändert werden soll und verändert werden muss. Wir haben gehört, dass hier Teile des grünen Wahlprogramms abgearbeitet worden sind.

(Beifall bei der CDU)

Herr Al-Wazir, wir haben von Ihnen gehört, dass es keine Vorfestlegungen geben soll. Andererseits haben Sie zur Begründung Ihres Antrags eine Fülle von konkreten politischen Forderungen und Festlegungen in den Raum gestellt.Das ist Ihr gutes Recht,aber erlauben Sie mir durchaus die kritische Bemerkung:Verdient es das Thema Verfassung des Landes Hessen, dass hier und heute ein Wettlauf der Parteien inszeniert werden soll, ein Wettlauf, wer zuerst das Thema, dass uns alle angeht und uns seit vielen Jahren intensiv bewegt, in den Hessischen Landtag einbringt? Musste es sein, dass eine Fraktion sich zum parlamentarischen Vorreiter aufgespielt hat? Ist es nicht auch im Hinblick auf unsere Verfassung, um deren Bestand, deren Aussagefähigkeit und deren Aktualität es schließlich geht, eine der vornehmsten Aufgaben aller Fraktionen in diesem Parlament, diese Diskussion gemeinsam anzustoßen?

(Beifall bei der CDU)

Wäre es nicht besser gewesen, wenn man die für mich selbstverständliche Großmütigkeit gehabt hätte, in fraktionsübergreifendem Konsens die Initiative zur Bildung einer Enquetekommission zu starten? Ich meine: Ja. Meine Fraktion hofft, dass wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes wieder zu diesem fraktionsübergreifenden Konsens zur gemeinsamen Einsetzung einer Enquetekommission kommen. Es geht um eine sachliche und ergebnisoffene Diskussion, wie wir mit dem Thema in der Enquete umgehen.

Lassen Sie mich – vielleicht auch ein wenig zum Nachdenken für jeden hier im Saal – für ein paar Minuten mit der Frage auseinander setzen:Was wollen wir ändern? An was wagen wir uns heran? Deshalb sollten wir uns ein wenig mit der Geschichte unserer Verfassung beschäftigen.

Die Verfassung des Landes Hessen trat nach einem Volksentscheid am 1. Dezember 1946 in Kraft und wurde am 11. Dezember 1946 durch den damaligen ersten Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Herrn Prof. Dr. Karl Seiler, verkündet. Sie ist damit die älteste Verfassung in der Bundesrepublik Deutschland, die noch heute in Kraft ist.

Wenn man unsere Hessische Verfassung in ihrer Komplexität, aber auch in ihrer zeitbezogenen Statik und teilweise heute auch inaktuellen Festlegung verstehen will, muss man sich in den historischen Zusammenhang ihrer Entstehung versetzen. Die Erinnerung an einen von Deutschen begonnen Krieg, der 30 Millionen Menschen das Leben kostete, die Erinnerung an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, die über 6 Millionen Juden ermordete, ein zerbombtes Land, allgegenwärtige Kriegsfolgen und eine unklare wirtschaftliche wie politische

Entwicklung, aber auch der Wille zum demokratischen Neuanfang bildeten damals die politische Wirklichkeit. Unsere Verfassung ist schon allein deswegen – bei allen Unzulänglichkeiten, über die wir aktuell diskutieren – noch heute ein lebendiges Beispiel deutscher und demokratischer Geschichte.

Vorarbeiten zu unserer Verfassung wurden bereits 1945 getroffen, nach der Proklamierung des Landes Groß-Hessen durch die alliierten Truppen. Der Verfassungsentwurf wurde am 29. Oktober 1946 von der Militärregierung grundsätzlich genehmigt, von der Landesversammlung in namentlicher Abstimmung mit großer Mehrheit beschlossen und am 1. Dezember 1946, am Tag der ersten Landtagswahlen, mit 77 % der Stimmen der Menschen in Hessen angenommen.

Die Hessische Verfassung trat drei Jahre vor dem Grundgesetz in Kraft. Deshalb enthält sie einen umfangreichen, 63 Artikel umfassenden Teil, der sich ausschließlich mit den Grundrechten beschäftigt. Sie stellt damit in besonderer Weise, immer aus der damaligen Sicht zu verstehen, den Menschen und nicht den Staat in den Mittelpunkt der Verfassung.