Protokoll der Sitzung vom 08.05.2003

Vielen Dank. – Für die Landesregierung hat Herr Staatsminister Grüttner das Wort.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Das ist seine Jungfernrede!)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich glaube nicht,dass der Herr Präsident mir zu dieser Rede im Sinne einer Jungfernrede gratulieren wird.Aber mit dem Thema Verfassung habe ich mich schon mehrfach auseinander

gesetzt, und es fällt jetzt auch in meinen Zuständigkeitsbereich.

Gestatten Sie mir, damit zu beginnen, dass ich sage: Eine Verfassungsreform braucht Zeit. Vor allen Dingen braucht sie Ihre Zeit.

Deshalb hat es die Landesregierung mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass bereits jetzt, zu Beginn der 16. Legislaturperiode, die Überlegungen zur Reform der Hessischen Verfassung fortgeführt werden, die in Teilen bereits in der letzten Legislaturperiode begonnen haben. Mit ihren sehr materialreich unterlegten Empfehlungen hat die Enquetekommission „Künftige Aufgaben des Hessischen Landtags an der Wende zum 21.Jahrhundert“, die in den letzten beiden Legislaturperioden immerhin sechs Jahre lang gearbeitet hat, bereits wichtige Teilergebnisse formuliert.Ich darf in Erinnerung rufen,dass mit der Verlängerung der Wahlperiode und der Aufnahme des Konnexitätsprinzips und des Sports als Staatsziel in die Hessische Verfassung diese Arbeiten bereits ihren ersten Niederschlag gefunden haben.

Wenn ich aber eben gesagt habe, dass eine Verfassungsreform auch Ihre Zeit braucht,stellt sich natürlich die Frage, ob momentan die Zeit für eine Verfassungsreform da ist. Dazu vier grundsätzliche Bemerkungen aus der Sicht der Landesregierung.

Die bisherige Verfassungsentwicklung in Hessen ist durch eine große Beständigkeit des Verfassungstextes geprägt. Als älteste heute noch in Kraft befindliche Landesverfassung ist die Hessische Verfassung auch die am seltensten geänderte Landesverfassung. Wegen dieser Tatsache wurde in den Diskussionen immer wieder die Frage gestellt, ob es denn nicht einzelne Artikel und Bestimmungen gibt, die obsolet sind, die schlicht und einfach gestrichen werden müssen. Natürlich ist auch Kritik an einzelnen Punkten geübt worden, zuletzt auf der Tagung 1996, die Herr Al-Wazir in seinem Begründungszusammenhang ebenfalls genannt hat.

Auch wenn es uns bekannt ist,dass in der Tat manche Vorschrift in der Hessischen Verfassung obsolet, überholt oder aber durch Bundesrecht gebrochen ist, so kann man doch fragen, wie man einen solchen Vorgang bewertet. In der Literatur ist hier vereinzelt die Rede von einer „überholten“ oder gar „verstummenden“ Verfassung. Solchen Bewertungen treten wir – ich denke, das ist unabhängig davon, ob als Abgeordnete oder als Regierungsmitglieder –, die wir seit Jahren und Jahrzehnten tagtäglich auf der Grundlage dieser Verfassung arbeiten – wie ich meine: nachdrücklich – entgegen. Kollege Quanz hat das ebenfalls sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.

Die Hessische Verfassung hat sich in den fünf Jahrzehnten ihres Bestehens praktisch bewährt. Sie ist nicht nur eine verlässliche Rahmenordnung und ein funktionierendes und leistungsfähiges Organisationsstatut des politischen Gemeinwesens, sondern auch eine von den Bürgerinnen und Bürgern geachtete und beachtete Grundlage der politischen Kultur unseres Lebens, auch bei den manchmal kontrovers geführten Diskussionen mit Bürgerinnen und Bürgern.

Ich denke, das muss man immer in Erinnerung rufen: Insoweit haben die Verfassungsväter und -mütter von 1946 die Grundfesten und tragenden Elemente der Verfassung solide und belastungsfähig zusammengefügt. Mit den Verfassungsänderungen in den Jahren 1950, 1970, 1991 und 2002 sind behutsame, aber wirkungsvolle Teilrenovierungen vorgenommen worden.

Damit komme ich zu meiner zweiten Bemerkung. Gleichwohl können auch Verfassungen altern. Sie sind Kinder ihrer Zeit, und ihre Schöpfer können sich dem Zeitgeist nur begrenzt entziehen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit, auf welche sich ihre Regelungen beziehen, unterliegen dem Druck sozialer und technischer Veränderungen. Dieser Wandel lässt die Verfassungsinhalte nicht unberührt.

Zwar sind Verfassungen der Idee nach auf unbegrenzte Dauer angelegte Fundamente des politischen Gemeinwesens. Deshalb sollten sie eben nicht mit Forderungen der aktuellen Tagespolitik befrachtet werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Gleichwohl können langfristige gesellschaftliche und politische Veränderungen dazu führen, dass Verfassungsregelungen, die einmal ihren guten Sinn hatten und vom allgemeinen Konsens getragen waren, überflüssig oder gar zum Hemmnis der politischen Entwicklung werden. Deshalb können natürlich auch auf Dauer angelegte Verfassungen den geänderten Verhältnissen angepasst werden.

Ich komme zu meiner dritten Bemerkung. Dennoch lässt sich diesen Verzögerungen im Hinblick auf künftige Debatten und Verfassungsänderungen etwas Positives abgewinnen. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands hat es im Rahmen der Verfassungsgesetzgebung in den neuen Ländern – auf manche Beispiele muss man einfach schauen –, aber auch in einer Reihe von alten Bundesländern eine bewegte Diskussion darüber gegeben, was Inhalt und Gegenstand einer Verfassung sein müsse. Insbesondere in einigen neuen Ländern gab es eine starke Tendenz zur verfassungspolitischen Innovation. Zuhauf wurden neue Staatsziele formuliert, vielfach wurden das Wünschbare und die Aktualitäten des Zeitgeistes zum Verfassungsinhalt.

Nachdem dieser Schub von Verfassungsreformbewegungen abgeschlossen und in der Zwischenzeit über ein Jahrzehnt vergangen ist, in dem Erfahrungen mit der neuen Verfassungsgebung gesammelt werden konnten, liegt darin für die hessische Diskussion die Chance, aus diesen Erfahrungen zu lernen und Lehren für die eigenen Vorschläge zu ziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP)

Mit dem Abstand dieses Jahrzehnts lässt sich das Zeitbedingte von dem Bleibenden unterscheiden. Wo einmal Verfassungslyrik war, lichten sich die Nebel. Das Wünschbare stößt jetzt auf den harten Boden der gesellschaftlichen Tatsachen. Solche Erfahrungen können auch die hessischen Reformdiskussionen befruchten. Ich habe zumindest die optimistische Annahme, dass sie disziplinierend wirken.

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt. Eine Verfassungsreform kann eine Totalreform oder -revision, eine Partialrevision oder Einzelrevision sein. Eine Totalrevision, nämlich eine komplett neu gefasste Verfassung, dürfte in diesem Hause keiner wollen. Das war den Redebeiträgen der Vorredner zu entnehmen. Die Absicht einer Totalrevision kann ich auch dem Antrag, der Grundlage für die Debatte ist, nicht entnehmen.

Ergebnis der Prüfung könnte demnach nur eine Teilrevision sein, die neben einer Entrümpelung obsoleter Vorschriften und der textlichen Verbesserung unklarer Regelungen vor allen Dingen darauf gerichtet ist, mit Augenmaß und historischem Sinn Defizite im Bereich der

Staatsorganisation und der Staatszielbestimmungen zu identifizieren und zu beheben.

Hierzu hat im staatsorganisatorischen Bereich die Enquetekommission in der vergangenen Legislaturperiode bereits einige Vorschläge formuliert. An diese Vorschläge kann man anknüpfen und entscheiden, welchen Vorschlägen gefolgt werden kann, soll und schließlich wird.

Obwohl es nicht die Stunde ist, über die Inhalte einer Verfassungsreform zu diskutieren, so ist es doch gestattet, auf die Beispiele des vorliegenden Antrags, der zu dieser Diskussion geführt hat, zumindest mit einigen Bemerkungen einzugehen. Denn die in dem Antrag der GRÜNENFraktion angeführten Beispiele sind nach unserer Auffassung überwiegend nicht geeignet, die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung zu begründen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Man kann unterschiedlicher Meinung darüber sein,ob die Zulassungsvoraussetzungen für Volksbegehren und Volksentscheide erleichtert werden sollten. Dass dies aber die „vordringlichste Aufgabe der Reform der Verfassung“ ist – damit habe ich wörtlich aus der Begründung des Antrags zitiert –, das vermag ich in der Tat nicht zu erkennen.

Das Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderung ist durch Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes statuiert. Es hat damit unbeschränkte Geltung auch für Hessen. Man kann deshalb nicht ernstlich behaupten, dass eine Aufnahme in die Hessische Verfassung überfällig sei, wie es ebenfalls in der Begründung heißt.

Was die Rolle des Hessischen Landtags im Rahmen der Rechtsetzungs- und Entscheidungsverfahren in der Europäischen Union angeht, so werden die Ingerenzrechte der Länder in erster Linie durch die Bundesverfassung determiniert.

Bei den übrigen in der Begründung angegebenen Themen bleibt überwiegend unklar, welche inhaltlichen Regelungen angestrebt werden und welchen Rechtsstatus die Regelungen haben sollen. Möglicherweise kann die Diskussion im Hauptausschuss entsprechende Klarheit bringen. Insbesondere fehlt jeglicher Hinweis, wie sich die Inhalte zu den geltenden bundesrechtlichen Regelungen verhalten. Das gilt etwa für die Stärkung der Rechte von Personen, die in familiärer Gemeinschaft Kinder erziehen oder für andere sorgen, die Berücksichtigung der Notwendigkeit der gewaltfreien Erziehung von Kindern oder die Einbeziehung der persönlichen Lebensbereiche aller auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften in den Schutz der staatlichen Gemeinschaften, wie in dem Antrag angesprochen.

Wenn man diesen Antrag liest, ist auffallend, dass Forderungen, mit denen in den vergangenen Jahren die Notwendigkeit einer Verfassungsreform begründet wurde, nicht mehr aufkommen. Sie wurden in Teilen von anderen Rednern dargestellt. Ich erwähne beispielsweise den Schutz der informationellen Selbstbestimmung oder Regelungen zum Haushaltswesen. Das ist mit keinem Wort erwähnt.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn wir alles schon wüssten, bräuchten wir keine Enquetekommission!)

Nein, nein, Herr Kollege Al-Wazir, ich meine, Sie müssen sich immer damit auseinander setzen, was Sie aus Ihrer Rolle heraus in der Vergangenheit immer wieder dar

gelegt haben. Dann gestatten Sie, dass wir uns daran erinnern, was Sie hier alles gesagt haben.

Genau dies belegt die angeführten Bedenken, dass die Akteure einer Verfassungsreform immer bedenken sollten, ob sie den Wechselwinden des Zeitgeistes aufgesessen sind oder ob sie eine Forderung erheben, die es wert ist, über den Tag hinaus die Gestalt des politischen Gemeinwesens zu bestimmen.

Herr Minister, früher hätten Sie jetzt aufhören müssen, jetzt dürfen Sie weiterreden. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass es so ist.

Herr Präsident, auch in dieser Rolle versuche ich, mich an die Redezeiten zu halten. Deswegen nur noch zwei Sätze.

Insofern haben die Väter und Mütter unserer Verfassung ein Beispiel gegeben. Es ist ein großes Beispiel, an dem man sich messen lassen muss. Ich hoffe, wenn es zu einer gemeinsamen Empfehlung durch den Hauptausschuss kommen wird, eine entsprechende Enquetekommission einzurichten, dass man sich dieser Verpflichtung bewusst ist und in der Formulierung eines solchen Auftrags Maß und Ziel bestimmt. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.

Der Antrag Drucks. 16/42 soll an den Hauptausschuss überwiesen werden. Widerspricht dem jemand? – Das ist nicht der Fall. Damit ist das so erfolgt.

Die Fraktionen haben sich geeinigt, dass der Tagesordnungspunkt 15, Antrag der Fraktion der SPD betreffend erstmaliger Kriminalitätsanstieg seit 1993 in Hessen, Drucks. 16/44, und Tagesordnungspunkt 44, Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktion der CDU betreffend Kriminalitätsentwicklung in Hessen, Drucks. 16/98, in das nächste Plenum geschoben werden.

Damit rufe ich Tagesordnungspunkt 16:

Antrag der Fraktion der SPD betreffend Neufassung kommunalrechtlicher Vorschriften – Drucks. 16/45 –

und Tagesordnungspunkt 17 auf:

Antrag der Fraktion der SPD betreffend Einflussnahme in das Ermittlungsverfahren gegen die Hanauer Oberbürgermeisterin Härtel – Drucks. 16/46 –

Redezeit: zehn Minuten je Fraktion. Das Wort hat Herr Kollege Rudolph von der SPD-Fraktion.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das waren noch schöne Zeiten, als der Ministerpräsident zu Füßen der Oberbürgermeisterin Härtel ihr Blumen pflückte, wie heute im „Wiesbadener Kurier“ zu sehen ist. Da war Frau Härtel noch eine wohlgelittene Parteigängerin.

Meine Damen und Herren, so ist das im Leben. Man sieht sich immer zweimal.

(Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU): Daran denken Sie bitte auch! – Clemens Reif (CDU): Mal sehen, was Ihnen noch alles bevorsteht!)

Herr Reif, deswegen sehe ich das alles sehr gelassen. – Allerdings sehen wir das, was in und um Hanau und um Frau Härtel passiert, nicht sehr gelassen. Frau Härtel wird sich demnächst vor dem Landgericht Hanau wegen Untreue und Betrugs zu verantworten haben.Warum? – Weil sie Budgetüberschreitungen von über 700.000 c zu verantworten hat, falsch deklarierte Essensbelege ausgestellt hat, Fahrten mit dem Dienstwagen, z. B. nach Warschau, zum Urlaubsbeginn und zum Urlaubsende,sowie viele andere Dinge zu verantworten hat.

(Zuruf des Abg. Clemens Reif (CDU))