Protokoll der Sitzung vom 24.11.2004

Herr Kollege Gotthardt, das, was Sie vorlegen, als „Konzept“ zu bezeichnen, ist etwas übertrieben. Aber Ihr Finanzminister hat uns seine Strategie in einem Interview mit der „FAZ“ vom 6. November mitgeteilt.

(Frank Gotthardt (CDU): Die Bundesregierung kann zurücktreten! Dafür brauchen wir keinen Bundesrat!)

Der Finanzminister sagt – das ist sein Konzept –:

Unternehmensteuern müssen ebenso abgesenkt werden wie Abgaben auf Zinsen, Dividenden und

Veräußerungsgewinne. Steuereinnahmen sind über Arbeitsplätze zu generieren.

Das ist der Originalton Karlheinz Weimar in einem Interview mit der „FAZ“ vom 06.11. Ich möchte das noch einmal feststellen: Die Unternehmensteuern müssen gesenkt werden. Die Steuern auf Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinne müssen ebenfalls gesenkt werden. Steuereinnahmen sind über Arbeitsplätze zu generieren.

Herr Finanzminister, Sie haben bisher immer behauptet, dass die hessische Haushaltskatastrophe etwas mit der Steuerreform im Jahr 2000 zu tun habe. Sie haben immer behauptet, schuld an der hessischen Haushaltskatastrophe sei der Einbruch bei der Körperschaftsteuer. Meine Damen und Herren, was ist denn die Körperschaftsteuer?

(Gottfried Milde (Griesheim) (CDU): Eine Unternehmensteuer!)

Das ist eine Unternehmensteuer. Jetzt muss man wirklich den Begriff „heuchlerisch“ verwenden.Eines von beiden geht nur: Entweder man beklagt die durch ein gesunkenes Steueraufkommen verursachten Einnahmenausfälle, oder man fordert, dass die Unternehmensteuern weiter gesenkt werden.

(Beifall bei der SPD)

Aber so ist Ihr Konzept. So sehen zurzeit in Deutschland alle Konzepte der Union aus.

Weiter: Sie wollen eine Entlastung der Einkünfte aus Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinnen. Sie wollen also eine Entlastung der Kapitaleigentümer.Wer dies ausgleichen soll, haben Sie auch schon gesagt: die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das geschieht also über die Arbeitsplätze. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – so die Union – sollen zugleich länger ohne Lohn arbeiten, auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichten und die Kosten für ihre Krankenkasse selbst tragen. Dies ist, zusammengefasst, das Konzept der Union.

Wir reden jetzt alle über ein vereinfachtes Steuerrecht. Auch ich halte das für notwendig. Das Konzept des Herrn Weimar ist offensichtlich noch einfacher als das des Abgängers Merz, der die Steuererklärung auf einem Bierdeckel unterbringen wollte. Das Konzept des Herrn Weimar lässt sich im Prinzip in zwei Sätzen zusammenfassen: Erstens. Die Finanzämter schreiben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an und stellen ihnen die Frage: Was haben Sie im letzten Jahr verdient? – Zweitens. Dann sagen die Finanzämter: Überweisen Sie uns das bitte.

(Beifall bei der SPD)

So geht das nicht. Wir brauchen angemessene Substanzsteuern, wie die von uns vorgeschlagene Angleichung der immobilen Werte an die mobilen Werte bei der Erbschaftsteuer.

(Zurufe von der CDU)

Wir brauchen einen mutigen Abbau von Subventionen, nicht aber diese Trippelschritte. Ich sage deutlich: Die Subventionen, die wir als überflüssig ansehen, müssen komplett gestrichen werden. Wir brauchen eine weitere Entlastung des Faktors Arbeit. Wir müssen die Lohnnebenkosten in diesem Land weiter senken. Die Lohnnebenkosten wirken teilweise wie eine Strafsteuer auf die Arbeit.

Meine Damen und Herren, jetzt werden Sie wieder schreien. Aber ich glaube, auch in Ihren Reihen ist das mittlerweile relativ klar; das zeigt sich zumindest, wenn

man nicht öffentlich miteinander redet: Erste Strategie. Wir werden nicht umhinkönnen, die Mehrwertsteuer deutlich zu erhöhen und die Lohnnebenkosten deutlich abzusenken. Das sind Schritte, bei denen man darüber diskutieren kann, wie wir dieses Land auf lange Sicht wieder nach vorne bringen können.

Zweite Strategie.Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen Hessen wieder zum wirtschaftsstärksten Land in Deutschland machen. Hierfür brauchen wir eine wirtschaftspolitische Strategie.Wirtschaftspolitische Strategien lehnen Sie aber aus ideologischen Gründen ab. Herr Ministerpräsident, nach Ihrem neoliberalen Weltbild hat sich der Staat schlicht und einfach aus der Wirtschaft herauszuhalten. Es soll genügen, ordentliche Rahmen zu setzen. Der Rest kommt von ganz allein.

Meine Damen und Herren, gar nichts kommt von ganz allein. In der globalisierten Welt greifen die Staaten zunehmend an der Seite ihrer Unternehmen in die weltweite Konkurrenz ein.Das jüngste Beispiel bei uns in Hessen ist die Übernahme von Aventis durch die kleinere französische Firma Sanofi. Hier hat der französische Staat eine strategische Entscheidung getroffen. Der französische Staat hat gemeinsam mit der Firma Sanofi entschieden: Wir wollen,dass Frankreich ein wettbewerbfähiger Standort für ein global aktives Unternehmen ist. – Wir haben dem nichts entgegenzusetzen.

(Frank Gotthardt (CDU): Was hat Herr Schröder getan? Was hat die Bundesregierung gemacht? – Weitere Zurufe von der CDU)

Wir brauchen in Deutschland eine Ordnungspolitik für die Wirtschaft. Herr Gotthardt, genau das lehnen Sie immer ab.Wir brauchen Regierungen,auch Landesregierungen, die die Wirtschaftspolitik aktiv mitgestalten, statt zu sagen: Laissez-faire, lassen Sie in der Wirtschaftspolitik alles laufen.

(Beifall bei der SPD – Frank Gotthardt (CDU): Sie erzählen, was die französische Regierung Tolles macht! Was macht die Bundesregierung? – Michael Boddenberg (CDU): Was machen die Sozialdemokraten?)

Wir brauchen ein wirtschaftspolitisches Leitbild. Ein solches fehlt Ihnen,Herr wirtschaftspolitischer Sprecher.Wir müssen in Hessen Sparten definieren, in denen wir mit den hessischen Unternehmen wieder an die Weltspitze kommen können. – Ich sehe, wie erschreckt die Damen und Herren von der Union sind, wenn sie die Aussage hören, dass wir in Hessen wieder an die Spitze wollen, was die Wirtschaftskraft angeht.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU)

Das sind Sätze,die sich kein Unionist mehr zu sagen traut. Aber ich frage Sie: Wer in Deutschland soll das machen, wenn nicht wir in Hessen mit der noch immer vorhandenen Wirtschaftskraft des Rhein-Main-Gebiets? Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir diese Sparten zunächst einmal definieren. Mir fallen die Logistik, Pharma und Chemie, der automative Bereich, die Medizintechnik und der Finanzsektor ein. Jedenfalls muss die Landesregierung in diesen Bereichen gemeinsam mit den Unternehmen handeln.Die Unternehmen haben natürlich Interesse an einer Unterstützung von staatlicher Seite. Wir haben gerade in China erfahren, der Staatsminister ist jetzt nicht da

(Frank Gotthardt (CDU): Da sitzt er doch!)

natürlich ist er da –,dass die Unternehmen sehr wohl ein Interesse daran haben, dass der Staat sie bei ihren Aktivitäten unterstützt. Es ist eine ganze Menge zu tun. Wir müssen gemeinsam mit den hessischen Unternehmen die Ausgangslage in unserem Land verbessern.Wir müssen in unserem Land zu einer Clusterbildung beitragen.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist wirklich erstaunlich. Ich rede über Wirtschaftspolitik. Ich rede über das, was wir tun können, um unsere Wirtschaft wieder nach vorne zu bringen. Ich rede über Forderungen, die aus der Wirtschaft selbst kommen. Das sind die Reaktionen der Mitglieder der CDU-Fraktion: laute Empörung und völliges Entsetzen. Hier redet jemand darüber, was wir tun können, um wirtschaftlich wieder nach vorne zu kommen. Wahrscheinlich haben Sie seit fünf Jahren nicht mehr über dieses Thema geredet. Das ist der Grund, warum es bei uns seit fünf Jahren bergab geht.

(Beifall bei der SPD – Volker Hoff (CDU): Sie haben keine Ahnung! Das ist das Problem! – Weitere Zurufe von der CDU)

Die Clusterbildung habe ich angesprochen. Der letzte Punkt betrifft die Unterstützung der im Ausland tätigen hessischen Unternehmen. Wir haben in unserem Land sehr viele exportorientierte Unternehmen.Wir könnten z. B. mit hessischen Häusern – die Bayern gehen mit gutem Beispiel voran – unseren hessischen Unternehmern in wichtigen Emerging Markets im Ausland, also in den Exportmärkten, zur Seite stehen.

Das ist für mich relativ interessant. Aber von der Union wird es wieder einmal mit schallendem Gelächter quittiert. Bei der Union herrscht Ignoranz vor, wenn hier darüber gesprochen wird, was getan werden könnte – ich sage: was getan werden müsste –, um den Unternehmern in unserem Land zu helfen, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen und damit eine echte Chance zu haben, dass wir aus dieser Misere herauskommen und unser Land wieder nach vorne bringen.

(Beifall bei der SPD)

Aber die Ordnungspolitik ist für diese Landesregierung sowieso ein schwieriges Thema. Die Globalisierung zwingt Sie dazu, zum ordnungspolitischen Geisterfahrer zu werden, Herr Ministerpräsident.

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Zu der wirtschaftlichen Betätigung der Kommunen. Sie wollen den Kommunen die wirtschaftliche Betätigung überall dort untersagen,wo Private es besser machen können. Nach der Anhörung haben Sie diese Aussage eingeschränkt: Alles, was zur Daseinsvorsorge gehört, darf von den Kommunen erledigt werden.

Also keine Tätigkeit der Kommunen, wenn die Privatwirtschaft es besser kann. Nur, meine sehr geehrten Damen und Herren, wie sieht es denn mit den Staatsweingütern aus? Bei den Staatsweingütern ist das Land Hessen offensichtlich der Auffassung, hier könnten es Private nicht. Man kann doch nicht auf der einen Seite sagen: „Kommunen, ihr dürft nicht wirtschaftlich tätig sein“, aber auf der anderen Seite als Land Hessen einen Weinkeller betreiben. Wer solche wirtschaftspolitischen Grundlinien betreibt,der hat offensichtlich zu viel Zeit im Weinkeller verbracht und zu viel Wein in diesem Keller genossen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass dies beides nicht zusammenpasst, ist augenfällig. Ich würde gern noch weiter über Strategien der Wirtschaftspolitik reden, aber nur noch einen Bereich mit einem langfristigen Ansatz ansprechen, etwas, wo man möglicherweise von Ihnen nicht nur Empörung bekommt. Zur Wahrheit in der Debatte gehört, dass unsere Genehmigungsdauern immer noch zu lange und unsere Genehmigungsverfahren immer noch weitaus zu kompliziert sind.

Wenn ich mir das Verfahren um die Genehmigung der Verlängerung der Startbahn in dem Airbuswerk in Hamburg anschaue, glaube ich, dass im Ausland sehr viele über das,was wir hier tun,lachen.Kurz gesagt:Für ein paar Apfelbäume stehen 1.000 Arbeitsplätze in Gefahr. – Meine Damen und Herren, für solche Projekte, die von übergeordnetem öffentlichen Interesse sind, brauchen wir ein Verfahrensbeschleunigungsgesetz, wo solche Projekte schneller umgesetzt werden können – gerichtlich überprüft, aber dann muss auch gebaut werden.

(Beifall bei der SPD – Gottfried Milde (Griesheim) (CDU): Bravo!)

Nächster und letzter Bereich, bei dem ich über Strategie rede, ist die Bildungspolitik – sicherlich einer der ganz zentralen Bereiche. Frau Wolff, ich muss einmal auf die Debatte von gestern eingehen. Sie haben vertreten, was Sie immer vertreten. Das war nicht sonderlich überraschend.Aber eine Ihrer Aussagen fand ich ausgesprochen interessant.Als Sie über den Herrn Schleicher gesprochen haben – Frau Wolff ist nicht im Raum –, haben Sie in einem Halbsatz gesagt: „Herr Schleicher, der Ideologe“. Ich glaube, das macht sehr deutlich, von welchen Grundüberlegungen sich diese Landesregierung leiten lässt, weil – liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union – es nicht der Herr Schleicher ist.

Die PISA-Studie wird von einer relativ großen Gruppe von weltweit anerkannten Wissenschaftlern nicht nur in Deutschland, sondern in 32 Staaten der OECD durchgeführt. In wissenschaftlich wohl relativ gut nachvollziehbaren Untersuchungen wird überprüft, welches Land zu welchen Bildungsergebnissen kommt. Das ist erst einmal die Aussage. In diesen Untersuchungen kommt zum zweiten Mal heraus, dass wir in Deutschland Probleme haben. Wir haben in Deutschland zwei Probleme. Zum einen ist es die mangelnde Leistungsfähigkeit. Zum Zweiten ist es so, dass in Deutschland die Chance für Kinder aus ökonomisch schwachen Familien, zu Bildungsgewinnern zu werden, so gering ist wie in keinem anderen Land.

Herr Ministerpräsident, die Antwort auf diese objektive Feststellung – das ist keine politische Aussage, sondern Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung – wird von Ihrer Kultusministerin mit den Worten „der Ideologe“ beantwortet. Sehen Sie, Sie haben Karin Wolff und nicht PISA. Das ist die Politik dieser Landesregierung, zu sagen:Das,was ich in meinem Stübchen in Darmstadt entwickle, hat weitaus größere Wirkung als das, was Wissenschaftler in 32 OECD-Staaten machen.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Aber nichts gegen Darmstadt!)

Das ist unglaublich.

(Beifall bei der SPD)

Wir reden in der Wirtschaftspolitik über Benchmarking. Wir reden darüber, dass wir sehen müssen, wer besser ist,

wie wir uns angleichen können. Das Gleiche gilt in der Bildungspolitik. Da sind Länder, die bessere Ergebnisse haben.Statt zu überlegen,was die machen – man muss das nicht alles machen,vielleicht gibt es Gründe,warum es bei denen funktioniert –, aber die Antwort: Das sind alles nur Ideologen, die das machen; das brauchen wir alles gar nicht. – Das ist doch Wahnsinn, wenn eine Kultusministerin sagt:All dies ficht mich überhaupt nicht an.