Protokoll der Sitzung vom 15.12.2004

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Über 60 % der deutschen Schüler fühlen sich von ihren Lehrern und über 40 % der Schüler von ihren Eltern nicht ausreichend unterstützt. Da kann man wirklich nur sagen: Man muss Eltern und Lehrern beibringen, dass man sich um Kinder kümmern muss, damit sie sich selber aktiv engagieren. Wenn Elternhäuser vermitteln, dass Schulen nicht wichtig sind, muss man sich nicht wundern, wenn Kinder das genauso sehen. Deutsche Schüler gehen zwar gern und viel mit dem Computer um; doch für eine sinnvolle Anwendung fehlen ihnen weitgehend die Kenntnisse. Sie spielen zwar viel mit dem Computer, aber meistens allein zu Hause und ohne große pädagogische Anleitung.

Angesichts dieser Erkenntnisse brauchen wir jedoch kein Jammern,keine Hysterie und keine Hektik,sondern Pragmatismus in der Sache. Im Zentrum jeglicher Veränderungen müssen eine frühere Heranführung an die Bildung, eine Verbesserung des Unterrichts und eine stärkere individuelle Förderung stehen. Mit den Patentrezepten von SPD und GRÜNEN kommt Hessen nicht zu mehr individueller Förderung.Beide sehen im dreigliedrigen Schulsystem den Grund allen Übels.Sie proklamieren die Einheitsschule und verharren damit in der Schulstrukturdebatte, ohne auf konkrete umsetzungsfähige Maßnahmen zur Unterrichtsverbesserung einzugehen.

Ich darf Ihnen einen Satz aus dem SPD-Antrag vorlesen: „Daher muss das gegliederte Schulsystem überwunden werden.“ Meine Damen und Herren, das ist Schulkampf pur, wie wir ihn schon Anfang der Siebzigerjahre hatten.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Hugo Klein (Freigericht) (CDU))

Das ist eine Kampfansage an das Markenzeichen Hessens, und Hessen hat als Markenzeichen eine Vielfalt des Schulsystems.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Die FDP hat bei der SPD durchgesetzt, dass es keine Einheitsschule gab, und die FDP hat bei der CDU durchgesetzt, dass es keine komplette Rolle rückwärts ins dreigliedrige Schulsystem gab. Diesem Markenzeichen Hessens wollen Sie mit der Einheitsschule den Kampf ansagen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Gute Ansätze wie die Forderung nach einem verpflichtenden vorschulischen Jahr bei der SPD und den Einsatz anderer Berufsgruppen in der Schule bei den GRÜNEN sehen wir zwar in den Anträgen; aber sie gehen insgesamt unter. Deshalb werden wir beide Anträge ablehnen.

Erwartungsgemäß hat die CDU einen Antrag vorgelegt, der zunächst alles lobt, was sie bisher selbst gemacht hat,

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Da waren Sie aber auch ein bisschen dabei!)

und der Maßnahmen zur freiwilligen Sprachförderung und der Stärkung der Hauptschule begrüßt.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU):Wir sind besser als unser Ruf!)

Diese Maßnahmen unterstützen wir sehr; wir haben sie – Sie haben das völlig richtig gesagt, Herr Irmer – selber mit angestoßen. Es ist aber zu wenig, und es ist zu kurz.

Wie soll sich eine neue Lernkultur und Leistungsbereitschaft an den Schulen breit machen, wenn der Unterricht nicht umgestaltet wird und die personellen Voraussetzungen für die individuelle Förderung nicht vorhanden sind? Da ist in Richtung Schulassistenten überhaupt keine Bewegung bei der CDU zu registrieren.Was bringt denn ein Bildungs- und Erziehungsplan für die Vorschule, wenn er sich an den ausschließlich freiwilligen, teuren Besuch dieser Einrichtungen wendet und sich diese noch in heterogener Trägerschaft befinden? Wir haben heute schon über den Erziehungsplan für Null- bis Zehnjährige gesprochen. Wenn Sie sich auf die Drei- bis Sechsjährigen konzentriert hätten, wäre es schneller gegangen, und man hätte die Richtlinien für die Kindertagesstätten schneller verabschieden können. Wir lehnen deshalb auch diesen Antrag ab. Er bringt keine wirklich zukunftsweisenden Vorschläge.

Wir haben uns dagegen in unserem Antrag auf die Kernfragen der Unterrichtsverbesserung konzentriert.Sie wird mit drei Maßnahmen erreicht:

Erstens.Alle Kinder werden besser auf den Unterricht in der Schule vorbereitet, sodass sie wirklich vom ersten Tag an folgen können.

(Beifall bei der FDP)

Dazu sage ich nur ein Wort: verpflichtende Kinderschule.

Zweitens.Die Qualität des Unterrichts und damit die Wissensvermittlung im Unterricht müssen gesteigert werden. Das tut man auch mit der Lehrerbildung – da lobe ich das Lehrerbildungsgesetz ausdrücklich –;aber das ist in einem Unterricht, der schwerpunktmäßig immer noch als Frontalunterricht mit nur einer Lehrkraft gehalten wird, einfach nicht zu leisten.Deshalb ist es ganz dringend,dass wir Hilfspersonal in der Form von Schulassistenten an die Schulen bekommen, um kleinere Gruppen bilden und so viel mehr Wissensvermittlung leisten zu können.

Drittens. Zusätzlich zum Unterricht muss ein vielfältiges Zusatzangebot nach Neigung und Begabung ermöglicht

werden, um nachhaltig die Freude am Lernen bei allen Schülern und Lernerfolge auch bei den Schwächeren zu sichern. Ich habe vorhin schon gesagt: Das Tempo bei den Ganztagsangeboten muss deutlich erhöht werden.

Die Bildung muss früher beginnen. Dazu sagt Finnland sehr deutlich: Der Anfang ist entscheidend. Da muss investiert werden. Die Freiwilligkeit ist dabei nicht ausreichend. In Schweden z. B. muss jedes so genannte Risikokind,jedes ausländische Kind vor der Schule ab dem zweiten Lebensjahr verpflichtend einen Kindergarten besuchen. Sonst wird das Kind nicht eingeschult. Selbstverständlich ist der Kindergarten in Schweden allerdings für die Eltern kostenfrei. Damit sind die Kinder sehr früh in den Kindergärten, und dort können sie sehr früh auf die Schule vorbereitet werden.

Um jedes Migrantenkind – Sie haben vorher gehört, wie schlecht die Situation bei ihnen ist – erreichen zu können, braucht Hessen ein verpflichtendes Vorschuljahr für die bestmögliche Vorbereitung aller Kinder auf die Schule. Ich kann nach wie vor nicht nachvollziehen, warum sich die Landesregierung gegen ein solches verpflichtendes Vorschuljahr sträubt. Die Vielfalt der freiwilligen Förderangebote im Kindergartenbereich verschlingt mittlerweile 2 Millionen c. Dazu kommen Maßnahmen der allgemeinen Integrationspolitik und der Sprachförderung, die Vorschulen für schulpflichtige Kinder, die noch nicht schulreif sind, die Eingangsstufenversuche und der mittlerweile flexible Eingang in die Grundschule.All das kann man zusammenfassen, indem man ein verpflichtendes vorschulisches Jahr einführt. Dann braucht man keine Rückstellungen und auch sonst nichts mehr. Gleichzeitig erreicht man damit eine deutliche Entlastung der kommunalen Haushalte um ein gesamtes Kindergartenjahr, was den Kommunen die Möglichkeit gibt, die Mittel an Kinder unter drei Jahren weiterzugeben und mehr Bildungsangebote in den Kindergärten zu schaffen.

Alles zusammen gesehen, muss die Bildungsfinanzierung vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Wir müssen weiter unten beginnen und das Geld am Anfang und nicht erst später in den teuren Oberstufen ausgeben.

(Beifall bei der FDP)

Wir fordern Schulassistenten. Eine individuelle Förderung funktioniert nur mit mehr als einer Person in der Klasse. Wir müssen uns endlich von der Vorstellung verabschieden, dass an der Schule nur Lehrer und im Kindergarten nur Erzieherinnen sein dürfen. Früher waren im Krankenhaus auch nur Schwestern, die sogar das Essen ans Bett gebracht haben. Mittlerweile ist man der Meinung, das könnten auch andere tun; das müsste nicht die ausgebildete Krankenschwester machen.

Um die Schwächen und Stärken jedes einzelnen Kindes genau zu erkennen und eine Binnendifferenzierung unabhängig von der Schulform zu ermöglichen, sind Schulassistenten dringend notwendig. Sie können besonders gute und besonders schwache Schüler in kleinen Gruppen beschäftigen. In Finnland gibt es sehr kleine Gruppen, in denen nur vier Kinder gemeinsam gefördert werden.

Bei den Hauptschulen unterstützen wir ausdrücklich die Maßnahmen der Landesregierung. Praxisprojekte, Netzwerke zwischen Schule und Wirtschaft und die Einrichtung von Schubklassen ermöglichen eine praxisnahe Ausbildung, die den Schülern die Arbeitswelt näher bringen und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen. Hauptschüler benötigen diese besondere Art der Förderung, da sich, wie Prof. Duncker nachgewiesen hat, die heutige

Schule viel zu sehr am gymnasialen Bildungsgang orientiert und Schüler auf Hauptschulniveau dabei vernachlässigt werden. Ich empfehle Ihnen sehr den Artikel „Anstöße zur Weiterentwicklung des Bildungsganges Hauptschule“ von Prof. Duncker. Dort können Sie alles genau nachlesen.

Auch ein weiterer Ausbau von Ganztagsangeboten an Hauptschulen wäre sehr wichtig. Hier sollte man sich mit den Jugendhilfeträgern zusammentun. In die Jugendhilfe wird so viel Geld gesteckt. Wenn man es vorher in die Hauptschule stecken würde, hätte man ein sehr viel besseres und effektiveres System.

(Beifall bei der FDP)

Mein Fazit: PISA I hat die Bildungspolitik wachgerüttelt. PISA II hat deutlich gemacht, dass für eine bessere Bildung an deutschen und hessischen Schulen die zentralen Weichen noch nicht in die richtige Richtung gestellt sind.

Dabei ist klar erkennbar, dass Systemfragen unsinnig sind, dass mit Bildung viel früher begonnen werden muss, dass Kinder individueller gefördert werden müssen und dass deutlich schneller mehr Ganztagsangebote geschaffen werden müssen.

Auf diesem Weg ist es unheimlich wichtig, die Selbstständigkeit der Schulen zu fördern und zu unterstützen. In dieser Zielrichtung sind wir uns alle relativ einig.

(Beifall bei der FDP)

Aber auch dieser Weg muss sehr viel schneller angegangen werden.

Im Herbst 2005 werden die Länderergebnisse von PISA II veröffentlicht.

Frau Kollegin Henzler, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ich hoffe, dann gibt es einen weniger aufgeregten Umgang mit den Ergebnissen. Hoffentlich haben wir den Schulkampf um die Schulform bis dahin endlich überwunden.

(Beifall bei der FDP)

Vielen Dank.– Das Wort hat Frau Kollegin Hinz,Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die gespannt erwartete PISA-Studie 2003 wurde vor gut einer Woche veröffentlicht. Danach befindet sich Deutschland in Mathematik und in den Naturwissenschaften leicht verbessert im Mittelfeld; bei der Lesekompetenz hat sich eigentlich nichts Wesentliches verändert, dort stagnieren wir.

Daraufhin erklärt Staatssekretär Jacobi des Hessischen Kultusministeriums in Fulda, ausweislich der „Fuldaer Zeitung“ vom 09.12.2004:

„Deutschland ist in allen Bereichen besser geworden.“... Die negative Auslegung könne er nicht nachvollziehen.

(Zuruf der Ministerin Karin Wolff)

„Recht hat er“,sagt die Kultusministerin.Das zeigt doch einmal wieder,dass die Landesregierung,wie so oft,die eigentlichen Probleme nicht sehen will und auch die Differenzierungen der Studie nicht wahrnehmen will.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sonst müssten Sie vielleicht Ihre Politik ändern, denn dann müssten Sie andere Maßstäbe an Ihr politisches Handeln anlegen.

Es ist gut, dass sich nach TIMSS der Unterricht in Mathematik und in den Naturwissenschaften anscheinend verändert hat. Das hängt eng mit dem BLK-Programm SINUS zusammen.