Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Folgendes möchte ich an den Anfang stellen, weil ich es leider häufig vergesse: Auch ich möchte mich bei den Mitarbeitern besonders bedanken. Frau Reitzmann und Herr Zinßer sind bereits genannt worden. Es war eine unglaubliche Leistung, in diesen fast zwei Jahren all das aufzunehmen, was nach meiner Auffassung zu einem tragfähigen Kompromiss geführt hat.
Ich bedanke mich auch für die Diskussionen, die in der Enquetekommission stattgefunden haben. An dieser Stelle bedanke ich mich besonders für die Diskussionen, die wir mit der Obfrau der SPD-Fraktion bis zu einem bestimmten Zeitpunkt geführt haben. Diese Diskussionen haben mich und andere immer wieder veranlasst, anzunehmen, dass wir zu einem Kompromiss kommen.
Ich bedauere außerordentlich, dass Herr Fraktionsvorsitzender Walter heute einen Ton in die Auseinandersetzung gebracht hat, der der Diskussion innerhalb der Enquetekommission nicht gerecht geworden ist.
Bei allem Verständnis, das ich für die Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion in dieser Enquetekommission hatte und habe, halte ich es nicht für angemessen, in diesem Zusammenhang von der Enquetekommission als von einem „türkischen Teppichmarkt“ zu sprechen.
Herr Walter, nach dem, was Sie hier gesagt haben, frage ich mich, ob Sie sich zu Beginn der Diskussion über die Novellierung der Hessischen Verfassung ernsthaft Gedanken über das gemacht haben, was auf Sie zukommt. Nach dem, was Sie heute gesagt haben, hätten Sie dem Einsetzungsbeschluss damals überhaupt nicht zustimmen dürfen.
Es war klar, dass die Bestimmungen über die Wirtschaftsverfassung der neuralgische Punkt sind. Herr Walter, es war völlig klar,dass wir uns relativ schnell über die Punkte einigen konnten, die Sie heute genannt haben, z. B. Tierschutz und die Übernahme von Staatszielen aus dem Grundgesetz. Dass die Wirtschaftsverfassung den neuralgischen Punkt darstellte, war, zumindest für die FDPFraktion, von Anfang an klar.
Da Sie eben von einer liberalen Verfassung gesprochen haben, kann ich Ihnen nur sagen: In manchen Teilen war sie das eben nicht. Das hat damals dazu geführt, dass die Liberalen als einzige Fraktion im Hessischen Landtag der Verfassung nicht zugestimmt haben.
Wenn Sie sich mit der Verfassung und dem Zustandekommen der Verfassung auseinander setzen, machen Sie es bitte gründlich. Deswegen will ich auf diese Bestimmungen noch einmal zu sprechen kommen und auf das eingehen, was sich in der Enquetekommission abgespielt hat. Ich möchte vorlesen, wie der Kommissionsvorschlag für eine Neuformulierung des Art. 29 der Hessischen Verfassung lautet:
(1) Im Rahmen der für Angestellte, Arbeiter und Beamte geltenden Rechtsvorschriften können Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien, den betrieblichen Arbeitnehmervertretungen und den Arbeitgebern abgeschlossen werden. Sie schaffen verbindliches Recht, das grundsätzlich nur zugunsten des Arbeitnehmers im Einzelfall abbedungen werden kann. (2) Das Schlichtungswesen wird gesetzlich geregelt.
(3) Das Streikrecht wird anerkannt, wenn die Gewerkschaften den Streik erklären. (4) Unverhältnismäßige Aussperrungen sind rechtswidrig.
Über diese Fragen haben wir intensiv diskutiert. Das Thema „Unverhältnismäßige Aussperrungen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts“ ist auf den Wunsch der Sozialdemokraten in die Formulierung dieses Artikels eingegangen.
Herr Kollege Walter, das war der Beginn der Kompromissfindung. Dann sind Sie auf einmal ausgeschert und haben gesagt:Wir machen nicht mehr mit.
Glauben Sie mir eines: Sich in diesen Fragen über eine Formulierung zu einigen und die Akzeptanz der FDP
Fraktion herbeizuführen war nicht ganz einfach. Ich habe mit einigem Stolz zu meiner Fraktion gesagt:Wir sind auf einem guten Weg, auch und sogar mit den Sozialdemokraten.– Ich weiß nämlich,wie schwierig diese Diskussion für Sie ist.
Sie haben das Thema Betriebsvereinbarungen angesprochen.Wissen Sie, ich kann das nicht mehr hören.Wenn die Sozialdemokraten – genauso wie die Christdemokraten, die GRÜNEN und wir – in den Betrieben sind, wird voller Stolz erzählt, was für Standortsicherungsvereinbarungen dort getroffen werden. Dann sagen wir alle: „Ja, das muss sein“, weil wir wissen, dass Betriebsvereinbarungen heute zu Flächentarifverträgen hinzukommen müssen, um die Arbeitsplätze in diesem Land zu sichern. Nichts anderes bedeuten diese Formulierungen.
Wir wissen genau, dass wir hiermit kein materielles Recht begründen. Das wissen wir; denn es wird durch das Grundgesetz und bundesrechtliche Bestimmungen überlagert. Herr Kollege Dr. Jürgens ist bereits darauf eingegangen. Gleichwohl sagen wir, dass die Diskussion über die Bestimmungen der Hessischen Verfassung eine Diskussion über die Werte ist.
Wenn sich die Werte bzw. die Einstellung zu den Werten verändert haben und wir heute, nach 60 Jahren, feststellen, dass wir mehr Flexibilität und mehr betriebliche Vereinbarungen benötigen,ist das keine Demütigung der Gewerkschaften, sondern es ist etwas, was gemeinsam mit den Gewerkschaften, den Betriebsräten und den Mitarbeitern in den Unternehmen gemacht wird.
Frau Ypsilanti, deswegen ist es falsch, wenn Sie den übrigen drei Fraktionen hier vorwerfen, das, was sie wollten, sei keine soziale Marktwirtschaft. Das, was Sie wollen, ist heute nicht mehr akzeptabel.
Ich komme zu Art. 38 der Hessischen Verfassung, über den wir lange diskutiert haben. Wir haben über die Frage gesprochen, ob es vertretbar sei, die Reihenfolge der Absätze umzukehren. Ist es vertretbar, zunächst zu schreiben: „Die wirtschaftliche Betätigung ist frei“? Das ist aus dem individuellen Recht, frei zu sein, ableitbar. Für die Wirtschaft gilt das ebenso. Dieses Recht wird unter sozialen Aspekten natürlich eingeschränkt.
Wenn man sagt:„Die wirtschaftliche Betätigung ist frei im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung“, impliziert bereits dieser erste Satz, dass die Freiheit nicht grenzenlos ist, sondern durch die anderen Werte der Verfassung eingeschränkt wird.
Benutzen Sie keine Klassenkampfparolen, um so zu tun, als würden hier Grundsätze festgeschrieben, die Kapitalismus pur verkörpern.
Das ist nicht wahr. Der erste Satz „Die wirtschaftliche Betätigung ist frei im Rahmen der verfassungsmäßigen Ord
In Art. 38 Abs. 2 haben wir formuliert – deshalb liegt mir daran,das darzustellen –:„Die Wirtschaftsordnung ist den Grundsätzen einer sozial gerechten und am Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ausgerichteten Marktwirtschaft verpflichtet.“ In Abs. 2 wird also das, was in Abs. 1 implizit schon enthalten ist, noch einmal konkret ausgedrückt. Daher können Sie beim besten Willen nicht sagen, dass hier die Prinzipien der alten Hessischen Verfassung aufgegeben werden.
Diese Formulierung bewahrt die Prinzipien der Verfassung aus dem Jahr 1946. Sie werden nur vor dem Hintergrund der sich wandelnden ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse anders formuliert.
Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, mit diesen Formulierungen würden Arbeitnehmerschutzrechte abgebaut.Dies ist aus zweierlei Gründen nicht der Fall,zum einen, weil wir kein materielles Recht schaffen. Selbst wenn es materielles Recht wäre, nämlich Arbeitnehmerrecht, würde nicht ein einziges Arbeitsrecht dadurch beschnitten bzw. reduziert. Treten Sie bitte den Beweis dafür an. Herr Kollege Walter, das haben Sie heute beim besten Willen nicht getan. Das ist das Bedauerliche.
Wenn ich noch einmal auf diese Bestimmungen eingehe, dann deswegen, weil es uns vielleicht mit dieser Hessischen Verfassung so ähnlich geht wie mit der Föderalismuskommission, die totgesagt worden ist und dann vielleicht doch wieder zum Leben erweckt wird.
Führen Sie diese Diskussion – ich erlaube mir, Ihnen diesen Rat zu geben, weil ich viele Gespräche mit Vertretern Ihrer Fraktion geführt habe – doch noch einmal intensiv, um zu dem Schluss zu kommen, die Hessische Verfassung zu modernisieren, ohne den historischen Kern zu verändern. Wenn wir vom historischen Kern sprechen, dann müssen wir wissen,vor welchem historischen Hintergrund diese Hessische Verfassung zustande gekommen ist.
Meine Damen und Herren, es ist die erste Länderverfassung gewesen, die vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Dritten Reich bestimmte Schlussfolgerungen gezogen hat. Daran wird nichts geändert in Bezug auf Menschenrechte, auf Grundwerte, sondern lediglich in Bezug auf die Organisation der Wirtschaft. Da passen wir uns den Entwicklungen an.
Noch ein Wort zur Frage der Beteiligung. Herr Kollege Walter, ich habe fast den Eindruck, Sie haben sich mit der Thematik nicht so richtig befasst. Das wird auch an solchen Dingen deutlich. Sie stellen sich heute hierhin und sagen, Sie hätten zwei wesentliche Ablehnungsgründe für das Ergebnis der Mehrheit der Enquetekommission. Gucken Sie bitte einmal Ihr Sondervotum genau an, es sind fünf Ablehnungsgründe. Das müssten Sie schon zur Kenntnis nehmen; deswegen die Bitte, sich damit etwas intensiver auseinander zu setzen.
Es schlägt wirklich dem Fass den Boden aus, zu sagen, diese Volksverfassung würde eine Politikerverfassung.