Lassen Sie mich deshalb an dieser Stelle ein Erlebnis schildern, das Ruth Wagner, Jörg-Uwe Hahn und ich vor einigen Tagen hatten. Ich habe von den Siebzigerjahren gesprochen. Damals war Heinz Herbert Karry einer der führenden Liberalen in Hessen. Wir haben vor wenigen Tagen den Heinz-Herbert-Karry-Preis an Joachim Gauck überreicht. In einer Diskussion hat Herr Gauck – Sie alle kennen ihn – vor dem Hintergrund seiner persönlichen politischen Entwicklung in Deutschland dargestellt,worin er im Moment die Probleme unserer Gesellschaft begründet sieht. Er sagte etwas, was für uns sehr nachdenkenswert ist. Er kommt in seiner Analyse zu dem Ergebnis, dass die Gefährdung der Demokratie in Deutschland nicht von den Rändern ausgeht, sondern dass die Gefährdung unserer Demokratie, unserer Staatsform daher rührt, dass die Gesellschaft in ihrer Mitte ohnmächtig ist und die wahren Gegner des demokratischen Systems diejenigen sind, die sich um dieses System nicht kümmern.
Diejenigen, die sich um dieses System nicht kümmern, wollen wir über die Diskussion über die Grundwerte ansprechen. Ich sage an dieser Stelle sehr offen, Herr Dr. Jürgens: Sie haben in der Enquetekommission das Thema
Beteiligung der Öffentlichkeit immer wieder sehr offen und intensiv angesprochen.Auch wenn die Verfassung nur die formale Hülle, die äußere Form der verfassungsrechtlichen Darstellung unserer Grundwerte sind, so bietet die Diskussion über eine Verfassungsreform die Möglichkeit, die allenthalben angemahnte Wertediskussion zu führen.
Wir haben in unserer Fraktion lange darüber diskutiert, ob wir diese Gesetzentwürfe einbringen sollen oder nicht. Das zuletzt genannte Argument war für mich und für meine Freunde in der FDP-Fraktion das entscheidende, diese Wertediskussion vor dem Hintergrund einer Reform der Hessischen Verfassung zu führen.
Ich will ein Beispiel für die Notwendigkeit dieser Diskussion nennen. Im Zusammenhang mit der Oberbürgermeisterwahl in Darmstadt hat eine Untersuchung unter 5.000 Wahlberechtigten stattgefunden. Es hat sich herausgestellt, dass 25 % der 18- bis 25-Jährigen überhaupt nicht an der Wahl teilgenommen haben.
Das ist ein Beleg dafür, dass eine Identifikation mit diesem Gesellschaftssystem nicht in ausreichender Weise stattfindet.
Sie können natürlich sagen, die Diskussion könnten wir gleichwohl führen.Machen Sie sich keine Sorgen:Wir führen diese Diskussion. Es ist aber nicht ausreichend, diese Diskussion als Partei zu führen. Es ist auch nicht ausreichend, diese Diskussion als Fraktion zu führen, sondern wir müssen sie auf die Frage ausdehnen, ob die gelebte Verfassungswirklichkeit mit dem Verfassungstext übereinstimmt.
Deswegen ist es angemessen, die Reformansätze, die wir in der Enquetekommission erarbeitet haben, mit der Bevölkerung zu diskutieren und anschließend zur Abstimmung zu stellen.
Die Sozialdemokraten haben völlig zu Unrecht die Diskussion aufgemacht, es handle sich hier um ein Weniger an Demokratie. Sie haben das an der Behauptung festgemacht, wir wollten über eine Zweidrittelmehrheit im Hessischen Landtag eine Verfassungsänderung erreichen. Ich behaupte, dass wir den Reformstau, den wir heute beklagen, nicht hätten, wenn uns in der Vergangenheit eine solche Möglichkeit zur Verfügung gestanden hätte.Wenn wir dann noch die Möglichkeit eröffnen, Volksbegehren durchzuführen, damit das Volk selbst die Initiative zu einer Verfassungsänderung ergreifen kann, und die Quoren für die Einleitung von Volksbegehren senken, bedeutet das nicht weniger, sondern mehr Demokratie. Deswegen meine ich, dass wir in einer breit angelegten Diskussion über diese Fragen sprechen sollten.
Ich will an dieser Stelle nicht die gleiche Diskussion zum Thema Wirtschaftsverfassung führen wie in der letzten Plenarsitzung. Damals habe ich das ganz bewusst getan. Es ist bekannt, dass wir ganz bestimmte Vorstellungen hierzu haben, die sich im jetzigen Verfassungstext nicht wieder finden.
Ein Argument lautete – insofern wende ich mich an die Sozialdemokraten –, dass man eine Gefahr darin sieht, wenn die Debatte über eine Verfassungsreform parallel zum Bundestagswahlkampf stattfindet. Natürlich ist die
Diskussion dann belastet. Ich will das nicht bewerten. Ich nenne nur die Begriffe. Sie reichen von „Heuschrecken“ bis zu „Neoliberalismus“. Das ist eine sehr plakative Diskussion.
Ich kann mir vorstellen, dass man sagt, es mache keinen Sinn, die Debatte über eine Verfassungsreform vor dem Hintergrund eines solch plakativ geführten Bundestagswahlkampfs zu eröffnen. Diese Situation ist jetzt aller Voraussicht nach nicht mehr gegeben. Es besteht nicht mehr die Möglichkeit,die Verfassungsänderungen mit der Bundestagswahl am 18. September zu verbinden. Deswegen appelliere ich an Sie: Wir könnten das auch zu einem anderen Zeitpunkt, beispielsweise während der Kommunalwahlen, machen.
Zurück zu dem, worüber wir zu einem Konsens gefunden haben. Ich betone das Wort „Konsens“; denn die Sozialdemokraten haben sich an der Abstimmung nicht beteiligt, und deswegen ist das, was verabschiedet worden ist, im Konsens verabschiedet worden. Aber es besteht die Möglichkeit, die Diskussion wieder aufzunehmen.
Wenn diese Vorschläge Regelungen zur Ausweitung der Möglichkeiten demokratischer Mitwirkung durch die Bürgerinnen und Bürger enthalten,die Diskussion um die Staatsziele – Stichwort: Tierschutz – umfassen und auch eine Reform der Wirtschaftsverfassung einbeziehen, so handelt es sich um drei Punkte, bei denen es meines Erachtens besonders wichtig ist, dass noch einmal eine Diskussion geführt wird. Ich bin in dieser Frage nicht vom Saulus zum Paulus geworden, keine Angst. Ich habe lange daran gezweifelt, ob wir diese Diskussion weiterführen sollten.Aber nachdem wir zu diesem Ergebnis gekommen sind und sich die zeitlichen Rahmenbedingungen geändert haben, bin ich zu der Auffassung gelangt, dass wir noch einmal einen Versuch wagen sollten.
Herr Dr. Jung, es erstaunt mich sehr, dass Sie sagen, man möge von der einvernehmlichen Regelung nicht abweichen.Lieber Herr Dr.Jung,im Einsetzungsbeschluss steht nichts von einer einvernehmlichen Regelung. Dort steht, dass wir „möglichst einvernehmliche Vorschläge“ machen sollten.Aber das brauche ich nicht näher zu interpretieren und zu erklären; Sie wissen, dass das nicht zwangsweise einvernehmlich erfolgen muss.
Noch einmal: Wir verlangen das nicht, sondern wir nehmen diese Gesetzentwürfe zum Anlass, um erneut darüber nachzudenken und an Sie zu appellieren, die Diskussion wieder aufzunehmen.
Ich möchte einen letzten Aspekt ansprechen, der, formal und inhaltlich gesehen,auf den ersten Blick nicht in einem Zusammenhang damit zu stehen scheint. Wir haben vor kurzem erlebt, dass der Entwurf für eine europäische Verfassung in zwei großen europäischen Ländern – zwei Gründungsstaaten der Union – keine Mehrheit gefunden hat. Ich glaube, eine Ursache dafür liegt darin – das wäre in Deutschland nicht anders, wenn es eine Abstimmung durch das Volk gäbe –, dass über die Inhalte dieser Verfassung nicht ausreichend diskutiert worden ist. Eine Diskussion über die Verfassung eröffnet die Möglichkeit,dass sich die Menschen mit ihrer geschriebenen Verfassung
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Posch, Sie haben mit Ihren Anträgen erreicht,dass wir uns wegen der Hessischen Verfassung heute hier anschreien. Zumindest hat sich das am Anfang Ihrer Rede so dargestellt.Das finde ich nicht gut, und das ist der Hessischen Verfassung sicherlich auch nicht zuträglich. Ich will versuchen, etwas mehr Sachlichkeit in die Diskussion zu bringen, und einen kurzen Exkurs in die Vergangenheit unternehmen.
Am 08.07.2003 haben wir die Enquetekommission „Reform der Hessischen Verfassung“ eingesetzt. Wichtig war und ist es, unsere Verfassung im Konsens – ich betone das Wort „Konsens“, es kommt in meiner Rede häufiger vor – mit allen politischen Parteien zu reformieren. Herr Posch, im Einsetzungsantrag heißt es:
Die Enquetekommission erhält den Auftrag, die Hessische Verfassung auf Veränderungs- und Ergänzungsbedarf zu überprüfen und möglichst einvernehmliche Vorschläge... zu ihrer Änderung zu unterbreiten.
Die Enquetekommission wird beauftragt, geeignete Vorschläge... dem Landtag zur Beratung und Beschlussfassung vorzulegen.
Beratung und Beschlussfassung – das haben wir getan. Nach der Konstituierung der Enquetekommission im Oktober 2003 haben insgesamt zwölf Sitzungen stattgefunden. Wie Sie erwähnt haben, gab es daneben diverse Obleutegespräche. Wir haben in dieser Kommission, wissenschaftlich auf hohem Niveau unterstützt, fast zwei Jahre lang intensiv gearbeitet. Wir haben öffentliche Anhörungen durchgeführt und die Öffentlichkeit auch durch diverse Podiumsdiskussionen, Pressekonferenzen und Pressemitteilungen unterrichtet. Wie Sie dem umfangreichen Bericht der Enquetekommission entnehmen können – es ist ihm sogar eine CD beigefügt, die die Protokolle aller zwölf Sitzungen enthält –, ist noch nie in der Geschichte Hessens so grundlegend und intensiv über den Ergänzungs- und Reformbedarf der Hessischen Verfassung gesprochen und gerungen worden wie in dieser Kommission.
Alle Fraktionen haben sich kompromissbereit gezeigt. Wie es bei einem Kompromiss nicht anders zu erwarten ist, hat keine Fraktion ihre Vorstellungen zu 100 % durchsetzen können. Daher kommt es auch, dass sich die Union bewegt hat. Das ist eine Tatsache, die man nicht hoch genug einschätzen kann.Wir haben das getan, weil wir – alle vier im Hessischen Landtag vertretenen Parteien – von dem Gedanken beseelt waren, einen Kompromiss zu finden. Für mich ist es sehr bemerkenswert, dass schließlich die Mitglieder der CDU, der FDP und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gezeigt haben, dass sie durchaus in der Lage sind, über die Parteigrenzen hinweg einen belastbaren Kompromiss zu finden.
Ich möchte die wichtigsten Neuerungen, die die Enquetekommission zur behutsamen Modernisierung der Hessischen Verfassung vorschlägt, hier noch einmal erwähnen, da sie in der Rede des Antragstellers leider nicht vorgekommen sind: die Aufwertung der Präambel, die Streichung der Todesstrafe, die Aufnahme des Tierschutzes, die Förderung am Gemeinwohl orientierter Initiativen unserer Bürger, die Stärkung der Stellung von Familien und Kindern, eine auf dem Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft beruhende moderne Wirtschaftsordnung – über die wir heute Morgen schon einmal diskutiert haben –, eine Staatsorganisation, die sich am Subsidiaritätsprinzip orientiert, die Erweiterung der direkten demokratischen Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger im Zusammenhang eines Gesamtkompromisses. Zu all diesen Neuerungen sagt die CDU nach wie vor Ja.
Die Neuregelungen, die ich eben vorgetragen habe, hat die FDP in Form von Gesetzentwürfen eingebracht. Zu deren Inhalt – ich betone das Wort „Inhalt“ – sagt die CDU nach wie vor Ja.Aber sie sagt nur zu dem Inhalt Ja. Wir sagen Ja zu einer zeitgemäßen Modernisierung der Hessischen Verfassung dort, wo sie den Werten der Bevölkerungsmehrheit erkennbar nicht mehr entspricht und auf zentrale Fragen von Staat und Gesellschaft heute keine Antwort mehr gibt.Die Union ist der Überzeugung, dass der gefundene Kompromissvorschlag vor allem mit der Aktivierung der eigenverantwortlich handelnden Bürgerinnen und Bürger im wirtschaftlichen,sozialen und politischen Bereich für eine freiheitliche Landesverfassung im 21. Jahrhundert Maßstab setzend ist.
Ich denke, dass wir uns auch mit der von Ihnen angesprochenen Wertediskussion in diesem Haus intensiv auseinander gesetzt haben. Das hat die Diskussion, in der es um den Abschlussbericht der Enquetekommission ging, eindeutig gezeigt.
In unseren Augen hat die Enquetekommission hervorragende Arbeit geleistet. Im demokratischen Miteinander haben die Parteien bewiesen, dass sie bereit sind, einen Konsens zu finden. Deswegen glauben wir auch, dass wir in Zukunft einen Kompromiss finden können. Herr Posch, weil wir daran glauben, sagen wir Nein zu einem Alleingang.
(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Ach du lieber Gott! Sie haben doch die Mehrheit! Sie haben Angst vor den Bürgern!)
Frau Wagner, ehrlicher wäre es gewesen, wenn Sie den Antrag, der hier schon einmal eingebracht worden ist und den auch Sie unterschrieben haben, vor Anhörungen gestellt hätten. Das haben Sie nicht getan. Sie haben die Gesetzentwürfe in der Form eingebracht, wie sie von der Enquetekommission erarbeitet worden sind.
Jedem in diesem Haus ist klar – sicherlich auch Ihnen –, dass meine Fraktion, die CDU, bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen im Hessischen Landtag einen Alleingang hätte machen können. Wir hätten damit Erfolg haben können.Aber meine Fraktion hat das nicht einmal in Erwägung gezogen, und zwar aus Respekt vor dem politischen Gegner, aus Demut und aus Achtung vor unserer Verfassung sowie vor den Müttern und Vätern unserer Verfassung.
Liebe Frau Wagner, das ist die tiefe Überzeugung der CDU: Die Verfassung eignet sich nicht als Thema bei einem Parteienstreit; denn die Verfassung ist die Basis unserer aller rechtlichen und gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit. Deswegen eignet sich die Verfassung nicht, wenn man politische Alleingänge unternehmen will.
Meine Damen und Herren, ich wende mich jetzt an die SPD-Fraktion: Darin liegt auch eine Verpflichtung der einzigen Fraktion dieses Hauses, die den Kompromiss in letzter Minute zum Scheitern gebracht hat.
Nach wie vor habe ich die Hoffnung, dass Sie – die SPDFraktion – sich nach erfolgter innerparteilicher Klärung noch bewegen werden. Weil dies Zeit braucht, sollten wir heute keine unüberlegten Schnellschüsse machen.Wir haben Zeit.Wenn es zu der – verfassungsrechtlich noch umstrittenen – Auflösung des Deutschen Bundestages kommen sollte, ist unser ursprünglich angedachtes Ziel der Verfassungsänderung zur Bundestagswahl 2006 sowieso hinfällig.